Thema der Ausgabe 3/2018:

Angehörige

Die Parteilichkeit der Angehörigen hat so manche utopische Vision zur Realität werden lassen.

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Angehörige

„Es ist wie es ist“ – bis dorthin ist es ein langer Prozess für Angehörige. Viele Stationen pflastern diesen Weg, der auch nicht endgültig an ein Ziel ankommt. Es ist eher ein Zustand, der immer wieder erarbeitet werden muss und sehr fragil ist. 

Diese Zeitschrift will seit Beginn an den Angehörigen eine Stimme verleihen. Ihre Erfahrungen, die sie Tag für Tag machen, sind uns genauso wichtig wie die Wörter, die in den Fachbüchern stehen. 

Dieter Fischer schildert den Prozess des Werdens als Angehöriger in einer Atmosphäre der Menschlichkeit und Achtsamkeit. Und er plädiert dafür, sich Wünsche zu bewahren, wenn diese auch nicht immer erfüllt werden können.

Manfred Sonnleitner stellt Erfahrungen von Eltern bei der Geburt eines behinderten Kindes seinen persönlichen gegenüber: Er ist mit 23 Jahren erblindet. Solch existenzielle Situationen zwingen den Menschen geradezu, neue Lebensentwürfe zu gestalten.

Wolfgang Jantzen gibt in seinem Beitrag den Familien das Wort, die mit schwer behinderten Kindern leben. Sie werden oft im Feld der Gesellschaft und der Experten an den Pol der Ohnmacht gedrängt.

Väter scheinen im Gegensatz zu Müttern oft in diesem Feld nicht auf. Thomas Schmidt zeigt in biographischen Rekonstruktionen, dass Väter zentral und prägend für das Familiensystem sind.

„Was wird, wenn es mich mal nicht mehr gibt“, diese oft gehörte Sorge alt gewordener Eltern nimmt Ilse Achilles auf. Aus ihren vielfältigen Erfahrungen listet sie konkrete Schritte auf, wie jemand sich auf diese Situation vorbereiten kann.

Alle diese Beiträge werden von eindrucksvollen Bildern und Zitaten eingeleitet. Manuel Bauer hat in Buchform einen „Brief“ an seinen Sohn Yorick geschrieben. Wir haben daraus Zitate ausgewählt und unsere Art-Direktorin Eva-Maria Gugg hat mit ihrer künstlerischen Gestaltung diese noch intensiver erlebbar gemacht. 

Marika Bauer hat ihren Bruder Yorick zum ersten Mal aus großer Nähe fotografiert. „Seit ich mich erinnern kann, ist mein Bruder anders als ich. Wir streiten nicht, wir reden nicht wirklich miteinander, wir tun nicht, was man von normalen Geschwistern erwartet. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir uns gut verstehen.“ Um dieses innige Verhältnis nicht zu stören, hörte sie nach kurzer Zeit wieder mit dem „Objektiv-Blick“ auf. 

Marisa Spießhofer schreibt ihrer Schwester Cosima einen emotionalen Brief, in dem sie uns an ihren Ängsten, prägenden Erlebnissen, aber auch an ihrem Glück teilhaben lässt. „Bei dir zählt der Mensch, ob er freundlich zu dir ist, nicht die Optik, nicht was man auf der Oberfläche sieht. Ob das ein Mensch mit vollkommen makellosen Chromosomen überhaupt kann?“

„Wie machst du das?“ fragt Mareice Kaiser Mütter, die mit ihren behinderten Kindern zusammen leben. Sie bietet ihnen auf ihrem Blog „Kaiserinnenreich“ ein Forum und „es scheint, als entwickelten wir durch unsere Kinder magische Kräfte“. Unser Textchef Gerhard Einsiedler hat einige Stimmen dieser Mütter sorgsam ausgewählt.

Und wie immer: ein flammender Appell von Birte Müller, die feine Klinge von Erwin Riess, Ohrenschmaus-Literatur von Christoph Dietrich und die sprachsensible Serie von Christian Mürner.

Angehörige stehen fest und beständig auf einer Seite. Diese Parteilichkeit hat so manche utopische Vision zur Realität werden lassen. Sie entwickeln ein untrügliches Gespür für bedrohliche Strömungen und Unmenschlichkeit in der Gesellschaft. Sie fragen sich zurecht, ob unser Land wirklich Sündenböcke braucht? Sie sehen die Gefahren, wenn die Humanität ins Rutschen kommt. Wir sollten ihr feines Sensorium ernst nehmen.

 

Leseproben:

Neben einem Textzitat liegt ein zerrinnender Eislutscher. Artwork: Eva-Maria Gugg
Foto: Ilse Achilles
Fachthema
Ilse Achilles

Was wird, wenn wir mal nicht mehr sind

Die Sorgen alter Eltern um ihre nun auch älter gewordenen Kinder – und welche Hoffnungen es für sie gibt

„Ich bemühe mich sehr, nicht darüber nachzudenken. Nur nachts geht’s mir im Kopf herum: Wer kümmert sich um meine Tochter, wenn ich ein Pflegefall oder tot bin? Dann kann ich einfach nicht mehr einschlafen. Das macht mich ganz kaputt.“ (Petra H., 75)

Der im Rollstuhl sitzende Yorick zieht mit freudigem Gesicht an Raschelketten, die in seiner Augenhöhe am Griff eines Küchenherdes festgemacht sind.
Der im Rollstuhl sitzende Yorick zieht mit freudigem Gesicht an Raschelketten, die in seiner Augenhöhe am Griff eines Küchenherdes festgemacht sind.
Fotoessay
Marika Bauer

Fotoessay aus Yoricks und Marikas Welt

Marika (17) lebt mit ihrem behinderten Bruder Yorick (15) und ihren Eltern im gemeinsamen Haushalt. Die Eltern, Andrea Linsi und Manuel Bauer, leben getrennt und fliegen abwechselnd ein und aus – das Nestprinzip.

Sanft mit dem Zeigefinger bemalt der Partner von Birte Müller deren hochschwangeren nackten Bauch mit einem lachenden Gesicht, dem Symbol für männl...
Sanft mit dem Zeigefinger bemalt der Partner von Birte Müller deren hochschwangeren nackten Bauch mit einem lachenden Gesicht, dem Symbol für männl...
Willis Insiderwissen
Birte Müller

Schwangerschaft – 12 Wochen Probezeit?

Kürzlich traf ich einen sehr netten Kollegen. Wir waren schon oft gemeinsam auf Lesereise, sind an freien Nachmittagen durch die Berge gewandert und haben so manches Bier zusammen getrunken und jedes Mal viel, sehr viel geredet.

schmidt-beitragsbild
Porträtfoto von Thomas Schmidt – Foto: privat
Fachthema
Thomas Schmidt

Permanente Vaterschaft

Welche Tätigkeiten nehmen Väter von erwachsenen Menschen mit Behinderung in ihrer Familie wahr? Welche Handlungsstrukturen und -motive lassen sich aus ihrer Sicht rekonstruieren? Diesen Fragen wurde in der qualitativen Studie: „Permanente Vaterschaft“ nachgegangen. Bisher standen explizit Väter im heilpädagogischen Kontext selten im Fokus. Insgesamt elf Väter (Jahrgänge 1929 bis 1953) von erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung erzählten für diese Untersuchung ihre Lebensgeschichte. Die biographischen Rekonstruktionen zeigten deutlich, dass diese Väter zentral und prägend für das Familiensystem waren und sind. Zudem lassen sie sich nicht nur auf die Rolle als Vater eines Kindes mit Behinderung beschränken. Selbstverständlich und gleichzeitig sind sie auch Männer mit einer eigenen Familiengeschichte und -tradition, sie waren / sind Ehepartner, hatten / haben Berufe und üben Freizeitinteressen aus. Gerade diese erweiterte Perspektive kann eine wichtige Ressource in der heilpädagogischen Zusammenarbeit mit ihnen selbst und ihrem Familiensystem eröffnen. Eine Hinführung.

Mareice Kaiser sitzt hinter der Glasscheibe eines Cafés mit aufgeklapptem Laptop und einer Kaffeetasse daneben an einem Tisch, tippt und schaut gle...
Mareice Kaiser sitzt hinter der Glasscheibe eines Cafés mit aufgeklapptem Laptop und einer Kaffeetasse daneben an einem Tisch, tippt und schaut gle...
Aus Muttersicht
Gerhard Einsiedler

Und wie machst du das

„Ich bin Mareice und interessiere mich für alles; vor allem für Menschen und ihr Zusammenleben. Warum es manchmal so schwer ist oder gemacht wird, und manchmal so leicht – und wie es leicht gemacht werden kann. Deshalb finde ich Inklusion wichtig. Auch, weil dieses Menschenrecht noch lange nicht gelebt wird in einer Welt, in der Bildung vom Status der Eltern und gesellschaftliche Teilhabe von der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit abhängig ist. Ich mag Empathie und Musik, Blumen und Empörung. Auf diesem Blog mache ich mir Gedanken, halte sie fest und lasse sie los.“

Inhalt:

Artikel
Man ist schneller Angehöriger, als man es in Wirklichkeit wird!
Die Geburt eines behinderten Kindes und die Späterblindung als Grenzerfahrung
Sondereltern: Zur Situation von Familien mit sehr schwer geistig behinderten Kindern
Permanente Vaterschaft1
Was wird, wenn wir mal nicht mehr sind?
Zum Wünschen von Angehörigen
Pardon, darf ich fordern?
Schwangerschaft – 12 Wochen Probezeit?
Gehalt statt Taschengeld!
Autismus und Arbeit, geht das?
Und wie machst du das?
Yoricks und Marikas Welt
Das grosse Glück eines Zischlauts
Barrierefrei unterwegs im Gesäuse
Endlich Schluss mit Aussonderung!
Kurzmeldung mit Behinderung
Ohrenschmaus aufgeblättert!
Die hohlen Gassen
Pflegeregress: Abschaffung bringt Unsicherheiten
Tagung zu Gewalt im Betreuungsalltag
„Firefly Club“: Musik kennt keine Ausgrenzung
Festspiele Stockerau unterstützen MOMO
Barrierefreie Gedenkkultur im Schloss Hartheim
Erwin Riess beim neuen Theaterfestival „hin & weg“