Autismus - Leben im Spektrum
Intro:
Autismus - Leben im Spektrum
Was bedeutet es, im Autismus-Spektrum zu leben? Einige Autor:innen in diesem Heft öffnen ihr Leben einen Spalt breit und gewähren uns einen persönlichen Einblick. Für sie ist die Welt manchmal zu intensiv, der Alltag verlangt ihnen einen enormen Energieaufwand ab, sie halten den Lärm des Bestecks auf den Tellern beim Essen nicht aus, das grelle Licht und die laute Musik im Supermarkt überfordern sie, sie können Gesprächen nicht folgen, weil ein Licht flackert, brauchen immer wieder die gleichen Abläufe, haben den Drang, Geräusche nachzuahmen, sind jeden Tag mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Maria Zimmermann weist im Gespräch mit Andreas Eckert eindringlich darauf hin, dass die Normen, die in unserer Gesellschaft vorherrschen, unseren Wert als Mensch nicht bestimmen dürfen. „Nur weil etwas anders ist, heißt das nicht, dass es falsch ist.“ Es ist zwar nicht leicht, aber es ist richtig, wie diese Personen leben.
Zu Beginn des Heftes schildert Beat Glogger den Tod seines Sohnes Sebastian. Er versucht, dem weltzerstörenden Verlust die Freude über das Erlebte entgegenzustellen. In der unendlichen Trauer erfährt er, dass Sebastian tiefe Spuren im Leben anderer hinterlassen hat, die ihn geliebt haben. „Das ist, was wir von ihm gelernt haben: sich zu verschenken ohne Absicht.“ Sein Vater nennt es die „reine Liebe“.
Eine tiefe Leidenschaft für bestimmte Themen sehen wir in den Fotos von Alice Poyzer. Die Freuden ihrer Welt sind für andere vielleicht seltsam und ungewöhnlich, sie empfindet dabei aber ein starkes Gefühl von Wärme, was viele in der autistischen Gemeinschaft verstehen. „Die Momente der Freude treten immer häufiger auf, je besser ich meinen Autismus verstehen lerne.“
Offen über sein autistisches Erleben und die Wendepunkte in seinem Leben spricht Hajo Seng. Wie er sein Autistisch-Sein als Belastung empfunden hat, keine funktionierenden Beziehungen mit anderen Menschen aufbauen konnte, bis er jemanden fand, der ihn voll akzeptierte. Er ist glücklich, wenn er die Symmetrien und Strukturen seiner Welt erleben und erforschen kann. „Solange ich das tun kann, habe ich ein gutes Leben.“
Peter Vermeulen schlägt einen Perspektivwechsel vor. Für ihn gilt es, das Wohlbefinden und die Lebensqualität des Einzelnen in den Mittelpunkt zu stellen. Sein Projekt H.A.P.P.Y. entwickelt Strategien, positive Gefühle zu fördern und zu stärken. Einen solchen Perspektivwechsel hält Imke Heuer für zukunftsweisend. Autistische Menschen haben oft eigene, sehr individuelle Lebensentwürfe, die respektiert werden sollten. Dabei setzt sie auf partizipativ und kollaborativ entwickelte Unterstützungsangebote, welche die Innenperspektive gleichwertig berücksichtigen.
Marek Grummt sieht in dem Ansatz der Neurodiversität das Potenzial, pädagogische Lernumgebungen so zu gestalten, „dass Barrieren abgebaut und Selbstvertretung, Teilhabe sowie Wohlbefinden für alle ermöglicht werden“. Dabei geht es nicht nur darum, was „normal-neurotypisch“ ist, sondern auch um die Frage, wie stark die vermeintliche Normalität soziale und pädagogische Praktiken prägt.
So elegant das Stichwort „Neurodiversität“ in der Diskussion daherkommt, David Zimmermann stellt die Frage, ob diese Diskursfigur nicht in einem medizinischen Paradigma verhaftet bleibt. Er hält es für unzureichend, das besondere Erleben und Verhalten kausal auf eine vermeintlich organische Besonderheit zurückzuführen.
Bettina Lindmeier widmet sich den Mädchen und Frauen im Autismus-Spektrum. Viele von ihnen werden spät diagnostiziert, erhalten oft Fehldiagnosen und tragen aus Scham ihre neurotypischen Masken. Dieses ständige Verbergen ihrer autistischen Identität führt zu großen Anstrengungen, Unsicherheit, Angst und Unwohlsein.
Mit der Nutzung von digitalen Medien beschäftigt sich Georg Theunissen. Personen im Spektrum schützen sich dadurch oft vor einer Reizüberflutung, versuchen ihre Ängste und ihren Stress damit abzubauen und mehr Selbstkontrolle zu erlangen. Dennoch gilt es, die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen.
Ihre Sprachgewalt lässt die Dichterin Nicoleta Craita Ten’o in der Erzählung „Ausflug“ aufblitzen. Sie redet nicht, aber ihre Äußerungen – über ihre Augen, ihre Gesten, ihre Körperhaltung und ihre schriftlichen Aufzeichnungen – verschlagen uns die Sprache und zerstreuen alle Vorurteile, die wir gegenüber Menschen haben, die nicht sprechen.
Diese Zeitschrift ist von Anfang an trialogisch ausgerichtet, das heißt, die Perspektive der Betroffenen und der Angehörigen stehen gleichberechtigt neben der Perspektive von Fachpersonen. Nur eine solche Zusammenarbeit lässt uns neue Wege finden, die oft sehr individuellen Lebensentwürfe von autistischen Personen zu respektieren
Josef Fragner, Chefredakteur
Inhalt:
Artikel | |
---|---|
"Das nenne ich die reine Liebe"
|
|
Ein Leben voller Klang: 18 Jahre Musik mit Willi
|
|
Hajo Seng spricht mit einem nichtsprechenden Autisten
|
|
Fragt uns doch einfach!
|
|
Neurodiversität als Leitbegriff?
|
|
Fähige Körper
|
|
Die Freuden ihrer Welt
|
|
Ein Weg zu einem guten autistischen Leben
|
|
Glück und Wohlbefinden bei Autismus: Mission (Im)possible?
|
|
Autismus, Partizipation und Lebensqualität
|
|
Figuren meiner Vorstellungskraft
|
|
Autismus und Neurodiversität - pädagogische Implikationen
|
|
Mädchen und Frauen im Autismus-Spektrum
|
|
Autismus und digitale Medien
|
|
Meine Reiseerfahrungen
|
|
Kann das gehen?
|
|
Meldungen
|
|
Frauen und Mädchen mit Behinderungen am Schnittpunkt von Diskriminierungen
|
|
Inklusion von Kindern im Autismus-Spektrum in der Schule: Wissens-Tools für Pädagog:innen
|
|
Wie geht gute Praxis?
|
|
Fürsorge und Dankbarkeit
|
|
Der tiefe Himmel
|
|
Sarah Egli, lebt mit Autismus
|
|
Mein Blick auf die INVICTUS GAMES
|
|
Ausflug
|
|
Max' Weg in die Selbstständigkeit im Arbeiten und Wohnen
|
|
Bücher
|
|
"Einsamkeit ist leise"
|