Fotoessay aus Yoricks und Marikas Welt
Marika (17) lebt mit ihrem behinderten Bruder Yorick (15) und ihren Eltern im gemeinsamen Haushalt. Die Eltern, Andrea Linsi und Manuel Bauer, leben getrennt und fliegen abwechselnd ein und aus – das Nestprinzip.
Den Kindern bleibt der Wechsel zwischen den elterlichen Wohnungen erspart. Beide Elternteile sind berufstätig. Andrea Linsi ist Musikerin und unterrichtet Geige. Manuel Bauer ist Fotojournalist und hat sich auf Langzeitprojekte unter anderem in Indien und Nepal spezialisiert. Er gilt als Experte für Tibet und ist offizieller Fotograf vom Dalai Lama. Ist Manuel Bauer arbeitshalber im Ausland, übernimmt Andrea Linsi die volle Betreuung. Unterstützung erhalten sie von zwei Betreuerinnen und Manuel Bauers Partnerin Yvonne Schalch.
Als nach der Veröffentlichung seines Buches „Brief an meinen Sohn“ über das Leben mit Yorick Anfragen von Illustrierten für „Homestories“ kamen, geriet Manuel Bauer in einen Konflikt. Selbst hatte er Yorick nie fotografiert – der Berufsfotograf wollte seinen Sohn nicht zu einem „Projekt“ machen. Ebenso bewusst verzichtete Bauer auf Bilder in seinem Buch. Und wenn ein Fotograf von außen für kurze Zeit in die Familie kommen würde, stellt sich die Frage, welche Bilder eines Menschen mit Behinderung mit ständig wechselnden Gemüts- und Gesundheitszuständen wirklich repräsentativ wären. Hinzu kommt, dass man Yoricks Einverständnis nicht einholen kann. Daraus entstand die Idee, dass Marika ihren Bruder fotografieren könnte: aus großer Nähe und eigener Form der Verarbeitung. Und als Experiment: Marika hatte zuvor noch nie fotografiert.
„Seit ich mich erinnern kann, ist mein Bruder anders als ich. Wir streiten nicht, wir reden nicht wirklich miteinander, wir tun nicht, was man von normalen Geschwistern erwartet. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir uns gut verstehen. In gewissen Momenten kann ich mir sogar vorstellen, was Yorick zu einer Situation sagen würde; auch wenn ich das nie mit Sicherheit werde wissen können. Dies mag für Außenstehende seltsam klingen, für mich ist es Alltag. Eines Tages schlug mir mein Vater vor, Yorick zu fotografieren. Anfangs leuchtete mir seine Idee ein und ich machte mich mit Elan an die Arbeit. Doch schon bald dachte ich nur noch daran, wann ein schönes Bild entstehen könnte. Ich genoss meine Zeit mit ihm nicht mehr, lachte nicht mehr gemeinsam mit ihm. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ihn so auszuspionieren, immer in Gedanken daran, die persönlichen Momente Zuhause zu dokumentieren um sie gegen außen sichtbar zu machen. Die Lösung des Problems erwies sich als einfach: Ich hörte nach kurzer Zeit auf zu fotografieren. Mein Vater schaute sich die Bilder dann dennoch an und schickte sie an ‚Behinderte Menschen‘. Und so wird meine Bildgeschichte nun doch noch veröffentlicht.“