Was wird, wenn wir mal nicht mehr sind
Die Sorgen alter Eltern um ihre nun auch älter gewordenen Kinder – und welche Hoffnungen es für sie gibt
„Ich bemühe mich sehr, nicht darüber nachzudenken. Nur nachts geht’s mir im Kopf herum: Wer kümmert sich um meine Tochter, wenn ich ein Pflegefall oder tot bin? Dann kann ich einfach nicht mehr einschlafen. Das macht mich ganz kaputt.“ (Petra H., 75)
So wie dieser Frau geht es auch mir. Ich bin 77 Jahre alt, habe drei Kinder, zwei Töchter, 52 und 50 Jahre alt, und einen Sohn, 45. Er hat eine geistige Behinderung, lebt in einem Wohnheim der Lebenshilfe und arbeitet in der Werkstatt. Er fühlt sich dort wohl. Die Wochenenden verbringt er bei mir, denn im Wohnheim finden aufgrund des Personalmangels nur selten Ausflüge statt. Dann ist ihm dort langweilig. Und als ihm neulich ein Weisheitszahn gezogen werden musste, habe ich ihn danach selbstverständlich mit zu mir nach Hause genommen, ihm Suppen, Brei und Tee gekocht und darauf geachtet, dass er den Eisbeutel auch richtig an die Wange legte, damit keine große Schwellung entstand. Der Tagdienst im Wohnheim hat dafür zu wenig Zeit.
Viele Eltern sind – wie ich – in unserer lebenslangen Fürsorglichkeit ein Anker im Leben unserer Kinder. Klappt etwas nicht in Wohngruppe oder Werkstatt: Wir Eltern springen ein. Darauf vertrauen die erwachsenen Kinder, darauf verlassen sich aber auch die BetreuerInnen in den Einrichtungen.
Doch irgendwann ist Schluss. Mütter und Väter über 65, 70 oder älter sind mürbe geworden. Ganz gleich, ob der behinderte Mensch zuhause oder in einer Einrichtung lebt – es kommt der Moment, in dem die Eltern merken: „Es geht nicht mehr. Wir schaffen das nicht mehr.“ Früher haben sie sich eingesetzt, haben sich gekümmert und gekämpft für mehr Rechte für ihre Kinder in Schule, Wohnheim, Arbeitsplatz. Das können sie jetzt nicht mehr. Das eigene Alter macht ihnen zu schaffen. Kreislauf, Herz, Rücken, Hüfte, Knie – überall melden sich Probleme. Und ausgerechnet jetzt kommen Ereignisse auf sie zu, die ihnen den Schlaf rauben.
Mein Kind geht in den Ruhestand. Was tut es nun den ganzen Tag?
In „Rente zu gehen“, ist auch für nichtbehinderte Menschen eine Herausforderung. Die vorgegebene Tagestruktur entfällt, die Kontakte zu den KollegInnen fehlen, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und nichts zu leisten, lässt das Selbstvertrauen schrumpfen. Allerdings haben nichtbehinderte RentnerInnen in dieser Situation die Wahl: Wollen sie faulenzen? Auf Reisen gehen? Ein Studium anfangen? Ein Ehrenamt übernehmen? Teilzeit arbeiten? Alles ist möglich.
Menschen mit einem geistigen Handicap haben kaum diese Möglichkeiten – außer Faulenzen. Und gerade das ist für sie fatal, denn viele von ihnen sind mit den Jahren bequem und antriebsarm geworden. So sitzen sie dann in ihrer Wohngruppe, bewegen sich weniger als in der Werkstatt; und da sie tagsüber kaum Ansprechpartner haben, lässt auch ihre Kommunikationsfähigkeit nach.
Natürlich ist es Aufgabe der SozialpädagogInnen und der MitarbeiterInnen des psychologischen Dienstes, die BewohnerInnen auf ihren Ruhestand vorzubereiten – durch Gespräche, durch Hinweise auf Freizeit-Angebote und durch das Herstellen von Kontakten zu anderen RentnerInnen. Sie tun es auch – aber oft aus Zeitmangel nicht klar und verständlich genug. Manche frischgebackenen Ruheständler bleiben ratlos, denn viele ältere Menschen mit Behinderung hatten in ihrem bisherigen Leben wenig Chancen, selbstständig zu entscheiden, wie sie leben wollten. So fällt es ihnen jetzt auch schwerer, sich vorzustellen, was sie den ganzen Tag lang machen könnten. Hätten sie eine Idee, könnten sie sie wahrscheinlich nicht nachdrücklich genug durchsetzen.
In der Regel gehen Menschen mit Behinderung genau wie Menschen ohne Behinderung mit 65 Jahren in den Ruhestand; in den meisten Fällen aber viel früher, weil sie den Anforderungen der Werkstätten für behinderte Menschen nicht mehr gewachsen sind, weil eine beginnende Demenz sie zusätzlich verwirrt. Dazu kommt, dass viele von ihnen sehr empfindlich und mit starken Ängsten auf Veränderungen reagieren.
Die gute Nachricht: Weil das bekannt ist, wird seit einigen Jahren über verschiedene Modelle des allmählichen Übergangs ins Rentendasein nachgedacht; einige sind bereits verwirklicht. Dazu gehören stundenreduzierte Beschäftigungen. Sie werden angeboten, wenn sich zeigt, dass die Beschäftigten in der Werkstatt in ihren Leistungen und Fähigkeiten nachlassen. Also arbeiten sie weniger. Oder sie besuchen die Fördergruppen, in denen sogenannte begleitende Maßnahmen dafür sorgen, dass neben der Beschäftigung Anregung, Spiel und Entspannung nicht zu kurz kommen. Vielleicht gehen sie in die WTEG (Wohnen mit Tagesbetreuung für Erwachsene mit geistiger Behinderung). Oder es gibt eine TENE (Tagesbetreuung für Erwachsene nach dem Erwerbsleben). Der Unterschied: Die TENE können auch SeniorInnen besuchen, die nicht in der Einrichtung leben, sondern noch zuhause wohnen.
Trotz dieser Möglichkeiten wünschen sich gerade die fitteren SeniorInnen mehr: Sie möchten wählen können zwischen unterschiedlichen Angeboten und sie möchten auch so frei sein, entscheiden zu können, an einem Tag mal gar nicht teilzunehmen. Viele von ihnen wünschen sich statt kreativer Angebote – so toll sie sein mögen – die Chance, sich nützlich machen zu können: im Haus, in der Küche, im Garten. Es zeigt sich: Je vielfältiger das Angebot, umso mehr können die SeniorInnen ihren Ruhestand genießen und desto seltener äußern sie den Wunsch, aus Langeweile zu Mama und Papa nach Hause zu wollen. Für Eltern ist es eine große Erleichterung, wenn sie spüren, ihr Kind ist auch in seinem Ruhestand gut und anregend betreut.
Mein Kind ist krank, wird von den Ärzten aber nicht richtig behandelt
Wer heute einen Besuch in einem Wohnheim macht, stellt fest: Mindestens ein Drittel der BewohnerInnen im Seniorenalter hat keinen Zahn mehr im Mund und viele schauen durch Brillen, die ihnen weder richtig passen noch gut zu Gesicht stehen. Die meisten Erwachsenen mit geistigen Behinderungen sind medizinisch unterversorgt. Sie müssen jeden Facharzt einzeln aufsuchen. Zwar ist Behinderung keine Krankheit, aber Menschen mit Handicap haben ein um 40 Prozent höheres Risiko für zusätzliche gesundheitliche Einschränkungen, wie z. B. Übergewicht, mangelhafte Fitness, falsche Ernährung und Vitaminmangel, unbehandelte oder schlecht behandelte Sehschwäche, Hör- und Fußschäden, schlechte Zähne.
Dramatisch und lebensbedrohlich wird die Situation, wenn ein Mensch mit kognitiver Behinderung ernsthaft erkrankt, sich aber weder Blut abnehmen noch röntgen lassen will. MRT und CT gehen gar nicht. Schon die Anamnese ist schwierig. Welche Vorerkrankungen gab es? Welche Symptome zeigten sich wann zuerst? Eltern können da meist Auskunft geben, aber werden behinderte Patienten von ihren Wohngruppen-BetreuerInnen in Praxis und Klinik begleitet, wissen die meist nur das, was über die Vorgeschichte des Erkrankten in seiner Akte steht. Behinderte Menschen äußern häufig nicht selbst Krankheitsbeschwerden oder den Wunsch, zum Arzt zu gehen. Der Arztbesuch wird durch Angehörige, BetreuerInnen, BegleiterInnen veranlasst. Verstehen sie nicht, was mit ihnen geschieht oder haben sie – wie meist – schon schlechte Erfahrungen gemacht, sind sie ängstlich und reagieren mit Abwehr.
Viele Ärzte aber haben für widerspenstige Patienten keine Zeit und keine Geduld. Zumal sie für diese Art von PatientInnen keine aufwandsgerechte Vergütung bekommen, sondern „Fallpauschalen“, die den notwendigen Mehraufwand nicht abdecken. Die Erkrankten – ängstlich, verunsichert und auf Abwehr gebürstet – sind erleichtert, wenn sie die Praxis oder die Klinik so schnell wie möglich wieder verlassen können, auch wenn es ihnen nach wie vor schlecht geht. So sind Ärzte, Pflegepersonal, PatientInnen übereinstimmend froh, möglichst wenig miteinander zu tun zu haben. Allerdings: zu Lasten der Kranken und ihrer besorgten Angehörigen.
Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention schreibt fest, dass Menschen mit Behinderung das Recht auf eine medizinische Versorgung haben, die der Qualität und dem Standard der Versorgung von Menschen ohne Behinderung entspricht. So steht’s auf dem Papier. Die Wirklichkeit sieht anders aus:
Sparzwänge im Sozialbereich und im Gesundheitswesen führen dazu, dass Menschen mit Behinderung in vielen Praxen und Kliniken als Belastung gelten und sie nicht die engagierte Behandlung bekommen, die ihnen zusteht.
Ärzten und Pflegepersonal fehlt es nicht nur an Zeit und Geduld, sondern oft auch an Verständnis und Spezialwissen, um zu geistig behinderten Menschen ein Vertrauensverhältnis aufbauen zu können. Viele haben Berührungsängste. Sie kennen sich häufig weder mit den behinderungsbedingten gesundheitlichen Besonderheiten noch mit Verhaltensauffälligkeiten aus.
Gerade in ländlichen Gebieten mangelt es an Fachärzten und Kliniken. Menschen mit Behinderung müssen lange Fahrten auf sich nehmen, um dann vielleicht vor einer Praxis zu stehen, die sich im Internet als behinderten- und rollstuhlgerecht bezeichnet, aber die zehnstufige Treppe vor dem Haus nicht erwähnt hat. Das bedeutet unter anderem, Rollstuhlfahrerinnen können sich die Gynäkologen ihres Vertrauens nicht aussuchen; sie müssen sich in derjenigen Praxis behandeln lassen, die für sie erreichbar ist.
Die Kommunikation zwischen Ärzten und PatientInnen ist erschwert bis unmöglich. Meist braucht es die Eltern oder Betreuende als Dolmetscher. Begleiten sie ihren Erkrankten in die Praxis oder Klinik, werden sie aber von den Ärzten als Störfaktoren und nicht als Helfer angesehen. Elterliche Tipps wie „Transportieren Sie unseren Sohn im Sitzen und nicht im Liegen. Wenn er sich hinlegen soll, rastet er aus“, werden negiert – mit dem Erfolg, dass der kräftige Mann tatsächlich um sich schlägt, als Pfleger ihn auf die Trage drücken wollen. Später entschuldigt sich der diensthabende Arzt bei den Eltern: „Wir hätten auf Sie hören sollen!“
Die gute Nachricht: Die Klagen von Eltern, Angehörigen und Betreuern werden lauter, die Beschwerden bei Klinikchefs, Krankenkassen, Sozialhilfeträgern und der Heimaufsicht nehmen zu. Aber auch viele Ärzte und Klinikleitungen sagen deutlich, so wie bisher könne es nicht weitergehen. Es gibt immer mehr alte und kranke Menschen mit geistiger Behinderung. Mehr Zeit, mehr Geld und mehr Fachwissen werden gefordert.
Als eine Anlaufstelle in Deutschland versteht sich der Verein „Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.“ (www.aemgb.de). Er firmiert auch unter BAG e.V. „Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung“. Seine Mitglieder und andere Fachleute setzen sich mit großem Engagement für bessere medizinische Versorgung behinderter Menschen ein.
Tatsächlich sind in jüngster Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von vorbildhaften medizinischen Einrichtungen entstanden – nicht etwa durch neue Gesetze, sondern durch die Initiative einzelner Menschen oder Gruppen. So schafften es die „netzwerkfrauen-bayern“ (www.netzwerkfrauen-bayern.de) die „Gynäkologische Ambulanz für Frauen mit Behinderung“ einzurichten.
In Hamburg gibt es das „Medizinische Zentrum für erwachsene Menschen mit Behinderung“ (MZEB) www.mzeb-hamburg.de. Dort arbeiten Ärzte der Fachrichtungen Innere Medizin, Neurologie, Neuro-Orthopädie und Psychiatrie eng zusammen mit Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten und Pflegekräften. Kompetenzzentren, wie die BAG sie sich wünscht, sollen ähnlich aufgebaut sein. Dann ist es denkbar, dass ein Patient während einer OP auch gleich die dringend benötigte schmerzhafte Zahnbehandlung bekommt. Das spart eine Vollnarkose.
Eine ähnliche Einrichtung hat in München eröffnet: www.mzeb-muenchen.de.
Mein Kind braucht jetzt mehr Pflege
Auch die behinderten Menschen, die bis dahin vielleicht ganz fit waren, bauen mit zunehmendem Alter ab. Meist geschieht das nach einer Krankheit oder einem Sturz. Manche haben 20 Jahre und mehr in einer Einrichtung gelebt. Nun müssen sie umziehen, weil sie pflegebedürftig werden und der Personalschlüssel in ihrem Wohnheim für eine angemessene Pflege nicht ausreicht. Doch wohin sollen sie umziehen? Pflegeeinrichtungen speziell für behinderte Senioren sind erst im Entstehen. Alten- und Pflegeheime für Nichtbehinderte gibt es flächendeckend, aber sie nehmen Menschen mit einer geistigen Behinderung gar nicht oder nur widerwillig auf. Inklusion klappt – wie in vielen Bereichen – auch in der Altenpflege noch nicht.
Eltern, die ihre Tochter, ihren Sohn in eine Einrichtung haben ziehen lassen, taten das in der Meinung, dort könne ihr Kind bis ans Ende seines Lebens gut betreut bleiben. Nun aber ist es pflegebedürftig, und das Heim ist auf Pflege nicht eingestellt. Es ist eben ein Wohnheim und kein Pflegeheim. Das „Kind“ muss umziehen. Die Eltern reagieren empört. Natürlich möchten sie, dass ihr Sohn oder ihre Tochter dort bleibt, wo er/sie seit rund 20 oder mehr Jahren wohnt. Auch nichtbehinderte Menschen wollen bei Pflegebedürftigkeit am liebsten in ihren eigenen vier Wänden bleiben – das zeigen alle Umfragen. Doch hier klaffen Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander.
Pflege erfordert nicht nur speziell geschultes Personal, auch räumliche Voraussetzungen müssen erfüllt sein. Wenn adäquate Pflege zuhause nicht möglich ist, bleibt auch nichtbehinderten Pflegebedürftigen nicht anderes übrig, als ihre geliebte Wohnung, ihr vertrautes Heim zu verlassen. Fordern Eltern kategorisch die lebenslange Betreuung ihrer behinderten Tochter oder ihres behinderten Sohnes in der angestammten Wohneinrichtung ein, so geschieht das aus falsch verstandener Fürsorglichkeit. Denn verblieben pflegebedürftige Menschen in ihren Wohneinrichtungen, wäre gerade das für sie von Nachteil, weil sie dort eben nicht fachgerecht umsorgt werden können.
Die gute Nachricht: Viele Behindertenverbände haben für schwer mehrfach behinderte Menschen Wohnpflegeheime eingerichtet, in denen pflegebedürftige Menschen (meist) gut aufgehoben sind, denn hier arbeiten spezialisierte, ausgebildete Kräfte. Es wurde auch begonnen, intern Pflegekräfte für einen hauseigenen ambulanten Pflegedienst auszubilden. So können unter Umständen pflegebedürftige BewohnerInnen in ihren vertrauten vier Wänden wohnen bleiben, weil die Pflegefachkräfte zu ihnen kommen. Das sind gute Ansätze, denn Versuche, Menschen mit geistiger Behinderung in einem „normalen“ Pflegeheim unterzubringen, scheitern meist. Die MitarbeiterInnen dort sind nicht ausgebildet für die Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung. Der Personalschlüssel ist noch schlechter, und manche Leitung fürchtet um das Prestige ihrer „Residenz“, wenn da nicht nur pflegebedürftige alte Menschen, sondern auch behinderte Pflegebedürftige aufgenommen werden.
Mein Kind ist sterbenskrank
„Wer wird bei ihr sein und ihre Hand halten, wenn es zu Ende geht und ich nicht mehr da bin? Es versteht sie doch niemand; sie spricht ja nicht.“ (Klara B., 80)
Für viele Eltern ist es eine beklemmende Vorstellung, dass sie am Lebensende ihres Kindes ihm nicht beistehen können. Dass es ohne Liebe und Trost gehen muss. Eine große Beruhigung für uns Angehörige mag sein, dass in Hospiz- und Palliative-Care-Einrichtungen auch sterbenskranke Menschen mit Behinderung aufgenommen werden.
Allerdings: Die meisten Menschen möchten am Lebensende in ihrer vertrauten Umgebung mit den ihnen vertrauten Personen sein – möglichst bis zum Tod. Deshalb gehen immer häufiger Teams aus speziell ausgebildeten Ärzten, Pflegepersonal und zuverlässigen ehrenamtlichen Helfern in die Wohnung oder in die Einrichtung, in der der behinderte Mensch lebt. Dort unterstützen sie sowohl die Angehörigen als auch die MitarbeiterInnen bei der Begleitung des Sterbenskranken. Dies geschieht durch entsprechende Medikamente, pflegerische Beratung und psychosoziale Begleitung. Ziel ist es, Schmerzen, Ängste und andere Symptome wie z. B. Atemnot zu lindern und damit die Lebensqualität der letzten Tage zu verbessern.
Die gute Nachricht: Es gibt immer mehr Palliative-Care-Projekte. Deren MitarbeiterInnen besuchen die Einrichtungen der Behindertenhilfe und unterstützen und schulen die BetreuerInnen. Das hat positive Seiten sowohl für die Lehrenden als auch für die Lernenden. Die Palliative-Care-AusbilderInnen verstehen immer besser, wer und was dort gebraucht wird. Denn die Fach- und Pflegekräfte in den Einrichtungen betreuen ja manchmal jahrelang ihre BewohnerInnen und haben engen Kontakt zu ihnen. Wenn eine/r von ihnen schwer erkrankt und sterben wird, ist das meist eine große emotionale Belastung für sie. Die Schulungen werden von den BetreuerInnen als hilfreich empfunden. Sie erhalten dadurch in der Begleitung sterbender BewohnerInnen mehr Sicherheit.
Vorsorgemaßnahmen sollten alle Eltern treffen, nicht nur die alten!
Die Zukunft lässt sich nicht planen. Meist kommt es anders, als man denkt. Aber bestimmte Dinge sollten geregelt werden, auch wenn sie noch in weiter Ferne zu liegen scheinen. Eltern können da viel tun, um ihren Angehörigen Stress zu ersparen. Die Ordnung der letzten Dinge hat aber auch überaus beruhigende Wirkung. Wer alles erledigt hat, fühlt sich erleichtert. Am besten legen Sie alle Dokumente und Hinweise in einer einzigen Mappe ab.
So ordnen Sie Ihren Nachlass:
Machen Sie ein Testament, in dem klar festgelegt ist, wer was bekommen soll. Das vermeidet Streit unter Ihren Angehörigen. Lassen Sie sich dabei juristisch beraten. Mitunter gibt es eine solche Beratung kostenlos bei den Behindertenverbänden.
Wichtig: In der Bundesrepublik wird Eltern behinderter Töchter und Söhne geraten, unbedingt ein sogenanntes behindertengerechtes Testament zu verfassen, da sonst die Gefahr besteht, dass der Staat auf das Erbe zugreift, um damit den Wohn- und Arbeitsplatz sowie den täglichen Bedarf des behinderten Menschen zu finanzieren. Er bekommt erst wieder Sozialhilfeleistungen, wenn das geerbte Geld zu Ende ist. Vom ererbten Vermögen bleibt ihm nicht viel für die Erfüllung eigener Wünsche, aber immerhin mehr als früher. Der Selbstbehalt – auch Schonbetrag genannt – wurde in Deutschland von 2.600 Euro auf 30.000 Euro angehoben.
Vielen Eltern erscheint das immer noch ungerecht. Sie ordnen deshalb in ihrem Testament eine Vor- und Nacherbschaft an. Für die Abfassung eines solchen behindertengerechten Testaments sollten Eltern unbedingt die Hilfe eines auf Erbrecht spezialisierten Rechtsanwalts oder Notars in Anspruch nehmen, denn beim Abfassen gibt es so viele Fußangeln und Fallstricke wie es unterschiedliche Familien- und Vermögensverhältnisse gibt.
Im Testament sollten Sie, falls Sie es noch nicht getan haben, einen rechtlichen Betreuer oder Betreuerin für Ihre Tochter oder Ihren Sohn bestimmen. Ratsam ist es, das schon möglichst früh zu tun, damit sich der/die BetreuerIn mit Ihrer Hilfe schon einmal in die vielen Regeln, Bestimmungen, zu stellenden Anträge, auszufüllenden Fragebögen einarbeiten kann.
Legen Sie eine Nachlass-Mappe an und heften Sie dort einen Hinweis ab, wo Ihr Testament zu finden ist: beim Notar, beim Amtsgericht oder in der Schreibtischschublade links unten.
Legen Sie in einer Vorsorge-Vollmacht und in einer Patientenverfügung fest, wer im Falle Ihrer Pflegebedürftigkeit über die ärztlichen Maßnahmen bestimmen kann und wer Zugang zu Ihren Konten haben soll.
Sammeln Sie in der Mappe Ihre Geburtsurkunde, Ihre Rentenunterlagen, die Bankverbindungen, Name und Nummer Ihrer Krankenversicherung.
Legen Sie dazu eine Übersicht über Ihre Versicherungen (Leben, Unfall, Hausrat, Haftpflicht, Rechtschutz, KFZ).
Falls Sie MieterIn Ihrer Wohnung sind, gehören in die Mappe der Mietvertrag und der Hinweis auf die geleistete Kaution. Sind Sie EigentümerIn Ihrer Immobilie, legen Sie in die Mappe den Kaufvertrag, falls es einen gibt, Grundbucheintragungen und andere Unterlagen für Haus oder Eigentumswohnung.
Haben Sie ein Auto? Dann gehören in die Mappe auch KFZ-Schein und eine Kopie des KFZ-Briefes, falls Sie das Original in der Brieftasche bei sich haben.
Dazu eine Notiz, wo Sie Ihren Personalausweis oder Ihren Pass aufbewahren (im Portemonnaie, in der Brieftasche, in der Schublade).
Falls Sie viel online erledigen: Fertigen Sie eine Liste mit Ihren Passwörtern an, damit im Notfall jemand an Ihren Computer kann. Achten Sie schon jetzt darauf, dass Sie Emails und Websites löschen, von denen Sie nicht wollen, dass andere sie anschauen.
Machen Sie außerdem eine Aufstellung, was zu tun ist:
Wer ist zu benachrichtigen? Geben Sie die Anschriften, Telefonnummern, Emailadressen von Verwandten, Freunden, Kollegen an.
Was ist zu kündigen? Tageszeitungs-/Illustrierten-Abo, Theater- oder Opern-Abo, Jahreskarte der öffentlichen Verkehrsmittel, Versicherungen, das Los der „Aktion Mensch“ oder ähnliches, Mitgliedschaften in Vereinen.
Haben Sie ein Haustier? Schreiben Sie auf, wer sich von nun an um Hund, Katze oder Wellensittich kümmern soll.
Ihre persönlichen Wünsche: Falls Sie bestimmte Vorstellungen über Ihre Beisetzung haben und falls Sie sich damit befassen möchten, dann schreiben Sie sie auf. Erd- oder Feuerbestattung? Welche Musik soll gespielt werden? Wer soll sprechen? Wer soll anschließend wohin zum Essen gebeten werden?
Und zu guter Letzt die allerbeste Vorsorgemaßnahme:
Sprechen Sie mit Ihren Kindern, Ihren Verwandten, Ihren Freunden über Ihre Sorgen, Ängste und Vorstellungen. Viele Menschen wollen sich mit ihrem Lebensende nicht befassen und viele Angehörigen wollen davon auch nichts hören. Aber es hilft, wenn man die Möglichkeit der eigenen Pflegebedürftigkeit, des eigenen Todes einmal zu Ende gedacht hat. Und es tut gut, Verbündete für den Notfall zu haben. Ziehen Sie die Menschen ins Vertrauen, die Sie sich als rechtliche BetreuerIn für Ihre Tochter oder Ihren Sohn vorstellen können oder als Vorsorge-Bevollmächtigte oder als Testamentsvollstrecker. Sind diese Personen überhaupt bereit, diese Aufgabe zu übernehmen? Das müssen Sie besprechen, bevor Sie jemanden mit einer so wichtigen Aufgabe betrauen. Seien Sie nicht enttäuscht, wenn Sie wider Erwarten keine positive Antwort bekommen. Eine ehrliche Antwort ist besser als ein Zurückweisen der Verantwortung, wenn der Notfall eintritt.
Haben Sie im Stillen immer gedacht, die Betreuung des behinderten Geschwisters würde eines Ihrer nichtbehinderten Kinder ganz selbstverständlich übernehmen? Seien Sie nicht gekränkt, wenn Ihre Tochter oder Ihr Sohn das ablehnt. Gute und nachvollziehbare Gründe gibt es dafür viele. Hier nur drei davon:
Selbstzweifel: Viele Geschwister behinderter Menschen erleben, mit wie viel Arbeit, Laufereien und Papierkram die rechtliche Betreuung verbunden ist. Sie trauen sich die Kompetenz, die ihre Eltern in langen Jahren erworben haben, nicht zu.
Zukunftsängste: Das Leben scheint gerade der jungen Generation so voller Unwägbarkeiten, dass sich kaum jemand auf längere Zeit festlegen möchte. Wie geht es mit der eigenen Familie weiter? Kommt (noch) ein Kind? Oder hat man selbst gesundheitliche Probleme? Dazu kommt die ganz große Sorge, die Eltern werden eines nicht allzu fernen Tages selbst hilfe- und pflegebedürftig und man muss sich dann um sie und um alles kümmern.
Beruf und Karriereplanung: Die nicht behinderten Kinder betagter Eltern befinden sich meist in der Mitte ihres Lebens, wenn sie gefragt werden, ob sie sich juristisch verbindlich um ihr Geschwister kümmern würden. Viele stehen am Beginn ihrer Karriere oder sind schon ein Stück voran gekommen auf dem Weg nach oben. In dieser Lebensphase brauchen sie ihre Kraft für sich selbst. Vielleicht steht ein Jahr im Ausland an, ein Jobwechsel, eine Beförderung, ein Umzug, wofür sie Flexibilität und Konzentration brauchen.
Für die Situation unserer nichtbehinderten Kinder sollten wir Verständnis haben. Sie haben oft zurückstecken und früh Verantwortung übernehmen müssen, weil wir Eltern zu besorgt und beschäftigt waren mit der Förderung des behinderten Kindes. Dafür sollten wir ihnen dankbar sein und ihnen das jetzt – am Abend unseres Lebens – auch sagen.
Ilse Achilles
Jahrgang 1941, Journalistin in München, ist Mutter von zwei Töchtern und einem geistig behinderten Sohn. 1990 erschien ihr Buch: „Was macht Ihr Sohn denn da? – Geistige Behinderung und Sexualität“ bei Piper, ab 2002 im Ernst Reinhardt Verlag, mittlerweile in 6. überarbeiteter Auflage. 1992 schrieb sie gemeinsam mit ihren Töchtern „6000 Kilometer Sehnsucht“, Schilderung ihrer persönlichen Erfahrungen in Pakistan, erschienen bei Piper in mehreren Auflagen, später als Taschenbuch in mehreren Auflagen bei Heyne. 1995 folgte: „...und um mich kümmert sich keiner“ – Die Situation der Geschwister behinderter Kinder (Piper), ab 2003 im Ernst Reinhardt Verlag, mittlerweile ebenfalls in 6. Auflage. 2016 erschien „Betagte Eltern – behinderte Kinder. Die Zukunft rechtzeitig gestalten“, erschienen im Verlag Kohlhammer (s. Rezension auf Seite 81).
Ilse Achilles ist Autorin zahlreicher Fachpublikationen und gefragte Referentin zu den genannten Themen und außerdem Vorsitzende des Angehörigenbeirats der Lebenshilfe München Wohnen GmbH.
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