Thema der Ausgabe 3/2017:

Die andere Seite von Demenz

Personen mit Demenz suchen Sicherheit durch menschliche Nähe. Unsere Sicherheit suchen wir durch distanzierende Einordnung.

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Die andere Seite von Demenz

Der Mensch ist und bleibt ein Rätsel. Je tiefer wir graben, desto mehr Schichten kommen zum Vorschein, es ist kein fester Grund zu finden. Des Menschen Unergründbarkeit und seine Verletzlichkeit zeigen sich oft im hohen Alter. Wenn die Rätsel zu groß werden, wie bei der Demenz, dann versuchen wir, das Phänomen zu kategorisieren, in ein – medizinisches – Raster einzuordnen, dabei gerät die andere Seite von Demenz aus dem Blickfeld.

Georg Theunissen beschreibt neuere Befunde, Diagnostik und praktische Konsequenzen bei schweren neurokognitiven Störungen. Dabei gibt es auch Besonderheiten bei Menschen mit Lernschwierigkeiten. Statt in neue (exkludierende) Sondersysteme zu investieren, sollten vielmehr vorhandene allgemeine Dienste des Gesundheits- und Sozialwesens sensibilisiert und unterstützt werden.

Reimer Gronemeyer richtet den Blick auf die soziale Seite der Demenz. Die alten Rhythmen des Lebens sind zum Schweigen gebracht. Demenz darf keine Alterserscheinung mehr sein, sondern bekommt das Etikett Krankheit. Damit tritt die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen in den Hintergrund.

Gronemeyer geht es um die Neuerfindung einer „wärmenden, einer nachbarschaftlichen Gesellschaft. Sie wird von Gastfreundschaft und nicht von Inklusion reden. Der Begriff Inklusion schützt vor nichts, erlaubt aber die Gleichschaltung“.

Hendrik Trescher beleuchtet Demenz als pädagogische Herausforderung. Es ist schon erstaunlich, dass im Umgang mit diesen Personen die „Hoheit der Pflege“ vorherrscht, wo doch eine Fülle von erprobten pädagogischen Handlungsansätzen der Behindertenpädagogik zur Verfügung stünde. Eine pädagogische Sichtweise würde den Monolog der Institutionalisierung durch einen teilhabenden Dialog zumindest ergänzen.

Matthias Dammert, Helma M. Bleses und Thomas Beer befassen sich mit der Seite der professionellen Mitarbeitenden. Trotz Schulung in Konzepten wie „Basale Stimulation“ oder „Integrative Validation“, bei denen der emotionale Gehalt der Kommunikation hervorgehoben wird, verhalten sich Mitarbeitende in der Praxis anders als sie wollen. Während Personen mit Demenz durch Nähe Sicherheit gegeben wird, suchen Mitarbeitende diese Sicherheit durch Distanz.

Helga Schneider-Schelte ist tagtäglich mit der praktischen Seite von Demenz beschäftigt. Sie weiß um die Sorgen und Nöte der pflegenden Angehörigen, die meist auf die Situation nicht vorbereitet sind. Sie gibt viele praktische Tipps, um einen gemeinsamen Weg zu finden und jedem mit Achtung und Respekt zu begegnen.

 

Im Magazinteil finden sich wieder starke Texte und eindrucksvolle Fotos – diesmal auch als Einstiegsbilder zu den Fachartikeln. Michael Hagedorn begleitet mit seiner Kamera sensibel Menschen mit Demenz und fordert uns zum dialogischen Sehen heraus. Der wahre Kern der Persönlichkeit kann trotz des langsamen Abschieds des Vertrauten und des damit verbundenen Schmerzes niemals verlorengehen. Der ganze Leib, besonders das Gesicht, erzählt die Lebensgeschichte eines jeden Menschen und fordert uns auf zu antworten. 

Hagedorns berührende Fotos wollen uns dafür die Augen öffnen und Mut für ein bedingungsloses Annehmen der Persönlichkeit jedes Menschen machen.

 

Leseproben:

Eine ältere Dame steht am geschlossenen Fenster und schaut in den Garten.
Eine ältere Dame steht am geschlossenen Fenster und schaut in den Garten.
Fachthema
Reimer Gronemeyer

Die soziale Seite der Demenz

Verwirrtheit im Alter haben Menschen früher als einen Teil der conditio humana betrachtet: Sie kann zum letzten Lebensabschnitt dazugehören. Heute heißt diese Verwirrtheit „Demenz“ und wird als Krankheit kategorisiert. Die Medikalisierung der Demenz hat einen ganzen Komplex von medizinischen und pflegerischen Dienstleistungen hervorgerufen, der absehbar an die Grenzen seines Wachstums kommen wird. Die soziale Seite der Demenz – das, was die Zivilgesellschaft tun kann – ist darüber in Vergessenheit geraten.

Ein älterer Herr sitzt auf einem Sessel im Eck eines Stiegenaufganges.
Ein älterer Herr sitzt auf einem Sessel im Eck eines Stiegenaufganges.
Leben mit Demenz
Andreas Wenderoth

Sein und Nichtsein

Häufig versunken in Nebel und dunklen Gedanken, wenige lichte Momente – seit vier Jahren lebt der Vater des Autors mit Demenz. Die Krankheit hat beide verändert.

Gerhard Einsiedler: Auf einer Straße sind viele Menschen mit Trommeln, Luftballons und Transparenten unterwegs.
Auf einer Straße sind viele Menschen mit Trommeln, Luftballons und Transparenten unterwegs.
Report
Gerhard Einsiedler

Konfetti im Kopf – Demenz berührt mit vielen Gesichtern

Hinter der Gründung von Konfetti im Kopf steht der Hamburger Fotograf Michael Hagedorn, der Anfang 2007 die Idee dazu hatte und diese seitdem konsequent federführend mit konzipiert und organisiert. Konfetti im Kopf ist eine bundesweite Aktivierungskampagne, welche die motivierende Kraft von Kunst, Kultur und Begegnung nutzt, um die breite Öffentlichkeit für das Thema Demenz zu sensibilisieren. Es sollen Brücken gebaut werden zu einem besseren Verständnis für ein Leben mit Demenz.

Manfred W.K. Fischer: Der Autor sitzt in seinem Rollstuhl auf einer Aussichtsrampe und genießt den weiten Blick in ein unter ihm liegendes Flusstal...
Manfred W.K. Fischer: Der Autor sitzt in seinem Rollstuhl auf einer Aussichtsrampe und genießt den weiten Blick in ein unter ihm liegendes Flusstal...
Reisen
Manfred W. K. Fischer

Hoch hinaus: Kaunertal barrierefrei

Auf zum Karlesjoch – höchster Aussichtsplatz für Rollstuhlfahrer in den österreichischen Alpen auf 3108 Meter

Lea Frei: Eine junge nepalesische Pflegerin sitzt neben einer älteren Frau, die in eine Decke eingehüllt ist, auf einer Couch und unterhält sich mi...
Haus für Menschen mit Demenz in Nepal - Lea Frei: Eine junge nepalesische Pflegerin sitzt neben einer älteren Frau, die in eine Decke eingehüllt is...
Report
Lea Frei

Das erste Haus für Menschen mit Demenz in Nepal

In Nepal ist Wissen über die Pflege und Betreuung von Menschen mit kognitiven Erkrankungen kaum vorhanden. Als erste Pflegeinstitution im Land setzt ‚The Hope Hermitage‘ den Fokus auf Alzheimer und Demenz – ein Meilenstein. Wegen fehlenden Fachwissens stößt das Betreuungspersonal aber häufig an seine Grenzen.

Egoistinnen - Birte Müller: Die Autorin liegt ganz entspannt mit einer Bierflasche in der Hand in einem Ziehwagerl.
Egoistinnen - Birte Müller: Die Autorin liegt ganz entspannt mit einer Bierflasche in der Hand in einem Ziehwagerl.
Kolumne
Birte Müller

Egoistinnen

Es ist wohl eine der schwersten Anschuldigungen an eine Mutter, sie eine Egoistin zu nennen. Wer Mutter ist, hat anscheinend alle eigenen Bedürfnisse aufzugeben und nur noch für das Kind zu existieren.

Inhalt:

Artikel
Schwere neurokognitive Störungen (Demenzen) bei Menschen mit Lernschwierigkeiten1
Die soziale Seite der Demenz
Demenz – kritische Analysen, pädagogische Reflexionen
Nähe oder Distanz – Wer will was?
Hart an der Grenze – pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz
Sein und Nichtsein
Nur nicht Donnerstag, da spiele ich Schach
Konfetti im Kopf
Egoistinnen
Bei Missständen nicht schweigen
Positive Diskriminierung ermöglicht uneingeschränkte Teilhabe
Lehrmeister
Abschied vom Objektivismus
Hoch hinaus: Kaunertal barrierefrei
Das erste Haus für Menschen mit Demenz in Nepal
Die Jagd nach Impulsen
Innsbruck, Hotel Adler
Österreichs Pflege- und Altenheime im Fokus der Kritik
Grundlose und teure Inklusionshindernisse
Selbst entscheiden
Sprachschätze aufspüren
Sport beugt Demenz vor