Die soziale Seite der Demenz
Verwirrtheit im Alter haben Menschen früher als einen Teil der conditio humana betrachtet: Sie kann zum letzten Lebensabschnitt dazugehören. Heute heißt diese Verwirrtheit „Demenz“ und wird als Krankheit kategorisiert. Die Medikalisierung der Demenz hat einen ganzen Komplex von medizinischen und pflegerischen Dienstleistungen hervorgerufen, der absehbar an die Grenzen seines Wachstums kommen wird. Die soziale Seite der Demenz – das, was die Zivilgesellschaft tun kann – ist darüber in Vergessenheit geraten.
Die alten Rhythmen des Lebens sind zum Schweigen gebracht
Die Hilflosigkeit des Kindes und die Hilflosigkeit des Greises, Werden und Vergehen – das wurde ehemals als etwas betrachtet, das zum menschlichen Leben gehört. Heute sind der Anfang des Lebens und das Ende zu medizinischen Projekten geworden. Dem Zwang zur Vorsorgeuntersuchung bei der Schwangeren entspricht der wachsende Druck zur Demenz-Diagnostik beim Alten. Die Gesundheitsindustrie kontrolliert den Anfang und das Ende – und die Zeit dazwischen sowieso. Im Grunde fühlt man sich nicht in erster Linie jung, erwachsen oder alt, sondern krank oder nicht krank. Medizinische Diagnose und Betreuung sind an die Stelle der Rhythmisierung des Lebens getreten, und deshalb ist man nicht mehr in erster Linie Jüngling oder Greis, sondern Kranker oder Nichtkanker. Die Diagnose „Alzheimer“ wird über die wachsende Gruppe Verwirrter gelegt, dadurch kann das beunruhigende Phänomen als medizinisch-pflegerische Aufgabe geortet und zur Behandlung freigegeben werden. Dass Verwirrung zum Alter gehören kann, wussten die Menschen immer. Die Bezeichnungen dafür waren vielfältig – diskriminierend, verständnisvoll, zärtlich oder grob: „Umnachtung“, „tüttelig“, „kindisch“, „Schwachsinn“ – „der spinnt“. Die Demenz darf aber keine Alterserscheinung mehr sein, sondern bekommt das Etikett „Krankheit“, weil die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen dann in den Hintergrund treten kann. Wenn es eine Krankheit ist, dann gibt es für die Demenz eine diagnostizierbare Ursache, eine Behandlung und das vorläufig uneingelöste Versprechen einer Heilung. Es arbeiten ja weltweit ca. 25.000 Demenz-Forscher an der Lösung des Problems. Der Begriff Krankheit verspricht somit Einordnung, Bändigung und Ordnung des Chaos, der Angst und der Unsicherheit, die sonst zu befürchten wäre.
In der medizinischen Disziplin gibt es inzwischen soliden Widerspruch gegen die Behauptung, Demenz sei eine Krankheit, und es finden sich empirische Belege, die an der Krankheitsthese zweifeln lassen (Jett 2006, Whitehouse & George 2009; Wißmann & Gronemeyer 2009; Stolze 2011; Gronemeyer 2013). Es soll auch nicht bestritten werden, dass es Demenzen gibt, die in Folge von Krankheiten auftreten und die man deshalb auch durchaus als Krankheit bezeichnen kann. Doch das Demenzdach, das über eine Fülle unterschiedlicher Phänomene gedeckt worden ist, macht die Vielfalt einer Erscheinung unerkennbar, in der Krankheitsfolgen, Alterserscheinungen und gewissermaßen „natürliche“ Verwirrtheiten zu einem diagnostizierbaren und dann behandelbaren medizinischen Arbeitsgebiet umdefiniert werden. Einer offenen Debatte steht die Tatsache entgegen, dass der Alzheimer-Komplex zu einer medizinischen Goldgrube geworden ist, von der man sich nicht verabschieden möchte. Und das, obwohl zugegeben wird, dass es zwar eine Diagnose, aber keine Therapie gibt – und auch in absehbarer Zeit nicht geben wird. Dennoch wird die Präventionspropaganda („Frühdiagnose“) vehement betrieben, weil es natürlich gute Gründe dafür gibt, die Klientengruppe zu vergrößern.
Hohe Summen werden in die Alzheimerforschung investiert, besonders in die Früherkennung, obwohl es keine Heilungschancen gibt und die Behauptung, man könne den Verlauf verzögern, auf sehr wackligen Füßen steht.
Die Früherkennungsindustrie arbeitet mit den Ängsten der Menschen. Etwa zwei Drittel der Tests werden an Menschen durchgeführt, die keine Symptome haben. Allerdings gehen sie auch von der irrtümlichen Annahme aus, dass es wirksame Medikamente gäbe.
Die konsequente Medikalisierung der Demenz sorgt dafür, dass Gelder von der Biomedizin aufgesaugt werden können, und gleichzeitig der Frage nach den sozialen Dimensionen der Demenz weiterhin keine Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Der immer kräftiger werdende Ausbau eines biomedizinisch-industriellen Demenzkomplexes ermöglicht eine profitable Ökonomisierung des Demenzthemas: Im Grunde ist es der Gipfelpunkt einer absurden Entwicklung, die nach dem Muster verfährt: Drohung (Demenz wird immer mehr), darum Forderung nach Forschungsgeldern (Spiel mit der Angst) – und im Kleingedruckten steht nicht, dass eine Heilung der Demenz gar nicht in Aussicht ist, sondern es allenfalls eine Verlängerung der Demenzphase gibt, die ihrerseits vor allem eine Möglichkeit bietet: die Einnahmen durch Behandlung zu erhöhen.
Demenz: Die Medizin erklärt ihren Bankrott
Seit den 1980er Jahren bekommen verschiedene Phänomene, die mit Gedächtnisverlust und Verwirrtheitszuständen zusammenhängen, das diagnostische Dach „Demenz“. Seitdem wird die Demenz zählbar, und seitdem nimmt sie zu. Das diagnostische Instrumentarium wird immer häufiger verwendet und immer mehr verfeinert, die Frühdiagnose wird propagiert: Es ist kein Wunder, dass die Zahl der „Demenzkranken“ entsprechend wächst. Es wäre zu prüfen, wie viel Demenzwachstum eigentlich den neuen Erfassungsformen zu verdanken ist. Dass es da eine reale Zunahme des Phänomens „Demenz“ gibt, muss nicht bestritten werden, aber in einer schwer durchschaubaren Mischung aus neuen Erfassungsinstrumenten, Orientierung an früher Hilfe und Interesse an wachsenden Patientenzahlen ist kaum noch erkennbar, was wirklich Sache ist. In die Beschreibung des Phänomens und seines Wachstums geht auch nicht ein, dass die eingenommenen Medikamente Nebenwirkungen haben, die als dramatisch beschrieben werden – vor allem, weil sie zum Beispiel angesichts ihrer sedierenden Wirkungen Verwirrtheitszustände verstärken können. Wie viel Demenz als Nebenwirkung etwa durch die Einnahme blutdrucksenkender Mittel erst entsteht, ist ebenfalls unklar. Wer auf die Beipackzettel blutdrucksenkender Medikamente schaut, die besonders Menschen im Vierten Lebensalter einnehmen, kann sich kaum wundern, dass die Demenzen zunehmen (http://www.alz.co.uk/WHO-dementia-report).
Die Diagnose – das darf nicht übersehen werden – hat verhängnisvolle Folgen für die Betroffenen: Der Druck auf Frühdiagnose steigt, jeder ältere Mensch soll sich als ein potenziell Betroffener verstehen, jeder soll ein besorgter Gesunder sein. Was aber hat die Diagnose zur Folge, wenn sie mit keinen Heilungschancen verbunden ist? Zwei Drittel der Diagnostizierten werden noch im Jahr der Diagnose pflegebedürftig. Was also produziert die Diagnose eigentlich? Ist sie hilfreich oder schafft sie vor allem Schrecken? Dement – so wird gesagt – sei bei den über 90-Jährigen jeder Dritte, mit 100 Jahren steige das Risiko in Richtung 100 Prozent (z. B. Hamborg 2011). Was ist das eigentlich für ein Phänomen, für eine „Krankheit“, die jeder kriegt, wenn er nur alt genug ist? Wird nicht spätestens da der Begriff der Krankheit ad absurdum geführt? Ebenso sicher wie der Tod – so wird gesagt – sei uns also die Demenz. Der Tod gerät wie die Verwirrtheit am Lebensende unter das Diktat medizinischer Diagnose und Kontrolle, statt daran zu erinnern, dass Sterben und Altersschwäche zur conditio humana gehören – zu dem also, was das Leben des Menschen nun einmal ausmacht.
Also: Es gibt keine wirksamen Medikamente gegen Alzheimer. Es gibt keine effektive Therapie und erst recht keine Chancen auf Heilung. Außerhalb des biomedizinischen Ghettos wachsen die Zweifel an einer molekular orientierten Alzheimerforschung. „Die bemerkenswerteste Eigenschaft der klinischen Medikamentenstudien ist ihr wiederholtes Scheitern darin, irgendeine wirksame Therapie zu finden“, sagt der amerikanische Arzt und Demenzforscher Peter Whitehouse (Whitehouse & George 2009, S. 8). Und Konrad Beyreuther, Experte in Sachen Alzheimerforschung, sagt: „Es gibt keine einzige klinische Studie, die Erfolg gebracht hat. Dabei dachten wir anfangs, wenn wir den molekularen Schurken finden, haben wir die Krankheit im Griff“ (Blawat 2011).
Die Demenzindustrie wird das Problem nicht lösen
Der Demenzkomplex – Arztpraxen, Apotheken, pharmazeutische Industrie, Pflegedienste, Heime, Demenzwohngruppen, Selbsthilfegruppen – bzw. das Instrumentarium zur Unterstützung, Pflege und Versorgung von Menschen mit Demenz hat sich in den letzten Jahren differenziert. Von Missständen und Gewalt gegen Menschen mit Demenz wird zwar nach wie vor berichtet, aber die Zahl der gelungenen Beispiele für gute Pflege und beste Versorgung wächst offensichtlich auch. Es sieht indessen so aus, als ob die Versorgungsapparate mit der Entwicklung nicht mehr Schritt halten können. Es gibt da eine beunruhigende Parallele: Kleinbäuerliche Landwirtschaft, die heute in Ländern mit wachsender Armut noch Familien vor extremem Hunger bewahrt, wird systematisch ausgerottet und muss einer Agroindustrie weichen, die mit immer mehr Energie, immer mehr Pestiziden, immer mehr Gentechnologie immer bessere Geschäfte macht und den Boden ruiniert. Der Hunger wächst im gleichen Maß unter dem Dach der Propaganda, die behauptet, nur Agroindustrie könne den Hunger erfolgreich bekämpfen.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in den Arealen des Vierten Lebensalters ähnliche Prozesse im Gang sind. Die Gesundheits- und Pflegeindustrie bekommt Züge, die sie der Agrarindustrie ähnlicher werden lassen. Das Eigene, das Kleinbäuerliche gewissermaßen, gerät immer mehr in Bedrängnis, gerät in Verdacht, wird von qualitätskontrollierten Pflegemaschinerien abgelöst, die mit der Behauptung auftreten, nur sie könnten dem Hunger nach mehr Versorgung entsprechen. Die Angehörigen, die die meiste Arbeit leisten, kommen in eine ähnliche Lage wie die Kleinbauern: Sie wenden zwar die Pflegekatastrophe ab, stehen aber unter Verdacht: So wie den Kleinbauern optimiertes (gentechnologisch manipuliertes) Saatgut angeboten wird, so halten zertifizierte, qualitätskontrollierte Dienstleistungen Einzug in die Demenzfamilie und suggerieren, dass die Familie zwar hilfreich und notwendig, aber nicht wirklich kompetent ist.
Die indische Wissenschaftlerin Vandana Shiva spricht von einer Monokultur des Denkens, die alternative Denkformen diskriminiert und an den Rand drängt (Shiva 2009). Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass wir auf dem Weg zu einer Monokultur der Pflege sind, in der immer größere Einheiten mit immer mehr kontrollierten, automatisierten, zertifizierten und professionalisierten Instrumenten das Demenzproblem in den Griff zu bekommen versuchen.
Im Pflege- und Demenzbereich tut man immer noch so, als ob das Wachstum des Dienstleistungsbereiches unbegrenzt sein könnte. Das ist eine gefährliche Illusion. Im Gesundheitsbereich sehen wir jetzt schon, dass grenzenloses Wachstum Deckelung und Rationierung als unausweichliche Konsequenz nach sich zieht.
Zu suchen ist nach neuen Wegen des Sorgens im Umgang mit Demenz
Wir benötigen eine neue Kultur des Helfens, die sowohl aus dem medizinischen als auch aus dem dienstleistenden Ghetto ausbricht. Diese Versorgungsinstrumente werden zwar gebraucht, sie werden aber nicht ausreichen, die kommenden Probleme zu bewältigen. Es geht um nicht weniger als um die Neuerfindung einer wärmenden, einer nachbarschaftlichen Gesellschaft. Sie wird die Breschen, die in den Sozialstaat geschlagen werden, zu überbrücken versuchen. Sie wird von Gastfreundschaft und nicht von Inklusion reden. Inklusion, das Modekonzept der Sozialadministration, will zwar nicht das gleiche Elend für alle, aber sie beabsichtigt eben die „Einschließung“. Der Begriff erwächst aus der Idee des Systems, das kein Außen dulden kann, das alles in sich hineinfressen muss. Inklusion kann auch gerade darauf zielen, die Hilfsbedürftigen an isolierten Orten einzuschließen, weil sie da am besten gesellschaftlich inkludiert seien. Der Begriff Inklusion schützt vor nichts, erlaubt aber die Gleichschaltung. Hier wird stattdessen für eine neue Gastfreundschaft plädiert, die nicht von oben herab ein paar demente Zauseln mit am Tisch sitzen lässt, womit gewissermaßen die Idee der „Tafel“ auf soziale Belange übertragen würde. Inklusion ist das Konzept einer sesshaften Gesellschaft, die ihre Stadttore öffnet, um die Landstreicher und Obdachlosen einzulassen, um sie dann zu integrieren. Was da als Einladung ausgegeben wird, ist in Wirklichkeit der Versuch, letzte Widerstände, Dickköpfigkeiten, symbolische Alternativen auszurotten. Und das mit einem freundlichen Lächeln. Inklusion ist der moderne Name für Prokrustes, den antiken Systemtheoretiker, der jeden Vorbeikommenden auf das Körpermaß zurückschnitt oder verlängerte, das sein Bett als Norm vorsah. Ein griechisch-antiker Vorschein der Qualitätskontrolle. Bei Prokrustes allerdings lag das Quälen noch offen zutage.
Bei der Gastfreundschaft geht es um einen Kontrapunkt. Es geht nämlich um jene radikale Gastfreundschaft, die den aufnimmt, der vorbeikommt und an die Tür klopft, wer immer es auch sei. Die globalisierte, flexibilisierte, mobilisierte Weltgesellschaft ist bemüht, alle denselben Maßstäben, Normen und Verfahren zu unterwerfen, sie also zu inkludieren. Die Aufgabe besteht aber gerade darin, dieser normierten, organisierten Gleichschaltung zu entkommen. Die persönliche Begegnung, das persönliche Wagnis, die persönlich erfahrene Liebe und Zuwendung zu suchen, um sich so aus der verordneten, administrativ organisierten Inklusion herauszuretten.
Eine Dienstleistungsmaschine, die ihre Ankömmlinge, ihre „Gäste“ – so werden sie ja jetzt gern genannt – aufnimmt und verarbeitet, inkludiert, in Verfahren integriert, standardisierten Behandlungen unterzieht, ihnen Lebensqualität verkauft, ist das Gegenteil von Gastfreundschaft.
Vor unseren Augen wird das Vierte Lebensalter ein Lebensabschnitt, der von belieferungsbedürftigen Mängelwesen bewohnt wird. Man könnte hinzufügen: Mängelwesen, die der Inklusion bedürfen. Die Entmündigung des Alters, der Ruin eigenmächtiger Lebensbedingungen ist jedoch nur bei höchster Aufmerksamkeit wahrzunehmen. Die „Verkrankung“ des Alters, für die die Demenz das wohl wichtigste Beispiel ist, ist uns so selbstverständlich geworden, dass ein anderes Verständnis kaum noch möglich ist.
Die ge„kränkten“ Alten
Das Vierte Lebensalter kann uns mit Weisheit und Rüstigkeit beschenken, es kann uns aber auch zum Pflegefall machen. Sind alle diese Bettlägerigen, sind die Rollstuhlfahrer, sind diejenigen, die nicht mehr allein duschen oder essen können – krank? Sie sind alt, manche sehr alt, aber sind sie krank? Sie sind hilfsbedürftig, manche haben auch Krankheiten, aber zunächst einmal sind sie alt. Augen, Ohren, Hüften, Zähne, Haare haben unter dem Prozess des Alterns gelitten. Doch die Tatsache, dass ich eine Brille brauche, ein Hörgerät trage und mit Implantaten kaue, veranlasst mich ja nicht, mich als krank zu verstehen.
Die Demenz ist vor allem eine Alterserscheinung. So wie die Augen, die Ohren, die Hüften altern, kann auch das Gehirn altern. Bei Hüftleiden nahm man früher einen Stock in die Hand. Das Hörrohr verstärkte die Sprache. Zum Greis gehörte die Zahnlücke und seit uralten Zeiten das Risiko, im Alter verwirrt zu sein. Am Anfang die Windel und am Ende die Windel. Am Anfang das Füttern und am Ende das Füttern. Am Anfang die Sprachlosigkeit und am Ende. Das kann so geschehen. Es muss nicht.
Leiden im Alter ist bei uns nicht vorgesehen. Obwohl es Hunderttausende Pflegebedürftige gibt: Wir setzen uns damit nicht auseinander, sondern orientieren uns lieber an Johannes Heesters, der mit 106 noch auf der Bühne gestanden hat, oder an dem 93-jährigen Yogi, der noch täglich seinen Kopfstand macht. Beliebt sind auch Berichte über 80-jährige Marathonläufer. Die Botschaft: Das Alter gibt es eigentlich gar nicht. Und wer doch da landet, hat etwas falsch gemacht. Gleichzeitig wird uns vorgerechnet, dass im hohen Alter die Demenz fast unvermeidlich ist.
Es gibt auch jüngere Demente, ja. Doch die Demenz ist vor allem ein Phänomen des Vierten Lebensalters. Je älter einer wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Verwirrtheit zeigt. Demenz – das ist das Alter, nicht eine Epidemie. Man muss es noch einmal sagen: „Jeder Dritte ist bei den über 90-Jährigen betroffen, mit 100 Jahren steigt das Risiko in Richtung 100 Prozent an“ (Hamborg 2011).
Marcel Proust, der sein Bett eigentlich nicht mehr verlassen hat, um sich so ganz konzentriert der Erinnerung widmen zu können („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“), ist ja gewissermaßen der Kontrastheilige der dementen Gesellschaft, in der wir leben: Bettlägerig – aber der ganze Mensch Gedächtnis. Wir gehen auf das Gegenteil zu. Bettlägerig – aber der ganze Mensch ohne Erinnerung. Aus dieser seiner Bettperspektive hat Proust das Thema Krankheit und Medizin erläutert und eigentlich eine scharfsichtige Analyse des Themas Demenz und Medizin vorweggenommen:
„Die Natur scheint kaum befähigt zu sein, etwas Anderes als verhältnismäßig kurze Krankheiten hervorzubringen. Aber die Medizin hat die Kunst erworben, sie in die Länge zu ziehen. Die Heilmittel, die Linderung, die sie verschaffen, das Unbehagen, welches sich einstellt, wenn man in ihrem Gebrauch nachlässig wird, bringen eine Kopie der Krankheit zustande, welcher die Gewöhnung des Patienten eine gewisse Festigkeit und Form verleiht ... Dann wirken die Mittel weniger, man steigert die Dosis, man erreicht nichts Gutes mehr damit, sondern in Gestalt jener nun Dauer gewordenen Indisposition vielmehr etwas Schlechtes. Die Natur hätte diesen Zuständen eine so lange Dauer nicht zugestanden. Es ist ein großes Wunder, dass die Medizin, die hierin der Natur gleichkommt, uns zwingen kann, das Bett zu hüten und bei Todesstrafe den Gebrauch eines Medikaments unbedingt fortzusetzen.
Von da an schlägt die künstlich aufgepfropfte Krankheit Wurzeln und ist zu einer sekundären, doch wirklichen Krankheit geworden mit dem einzigen Unterschied, dass die natürlichen Krankheiten heilen, aber niemals die, welche die Medizin hervorbringt, denn das Geheimnis der Heilung ist ihr nicht bekannt“ (Proust 2003).
Der Pathologe Jürgen R. E. Bohl hat seine Begegnung mit Dementen auf dem Seziertisch beschrieben: „Ich halte ein kleines Hirn in meiner Hand; kaum 1000 Gramm schwer. Schmale Windungen und erweiterte Furchen erinnern an geschälte Walnusskerne. Und ich weiß nicht, was ich tun oder lassen muss, um nicht in gleicher Weise zerebral zu schrumpfen. Noch vermag ich meiner Vision eines weisen Alten anzuhängen, bis auch diese Fähigkeit des Gehirns in Folge einer altersbedingten Degeneration aufgegeben werden muss“ (Bohl 2000, 275).
Welche Ursache hat diese schleichende Zerstörung jener Fähigkeiten, die uns zu Menschen machen? Der Abbauprozess zur Demenz muss – so Bohl – einen tieferen Sinn haben, denn nichts geschieht ohne Sinn.
Welch‘ ein Satz! Welch’ eine Herausforderung für unsere Zeitgenossen, gilt doch die Demenz als das Sinnlose schlechthin. Der gnadenlos wachsende Schwachsinn hat einen Grund, darauf beharrt der Pathologe. Die geschrumpfte Leber weist auf Alkoholmissbrauch, die Arteriosklerose auf einen ungesunden Lebensstil, zu wenig Bewegung, zu viel falsches Essen. Verweist die Demenz auf einen Hirnmissbrauch – brain abuse? „Wehrt sich dieses wundervolle Organ auf seine Weise gegen ein Übermaß an Unrat, Unglück und Sinnlosigkeit“ (Bohl 2000, 276).
Bohl vertritt die Meinung, dass der Mensch, der in einem Labyrinth voll quälender Konflikte steckt, eine Harmonie wiederherzustellen versucht, die ihn in einen Zustand traumhafter Glückseligkeit zurückführt. Die Welt wird dann so harmonisiert, dass die inneren und die äußeren Welten wieder zusammenpassen. „Es gibt den Weg der Erschaffung eigener Welten, wobei die mühevolle Rücksichtnahme auf abweichende Bilder und störende Ereignisse mehr und mehr aufgegeben werden kann. ... In den Augen anderer kann das wie Schwachsinn aussehen; für den Betroffenen ist es die Lösung; die Erlösung schlechthin“ (Bohl 2000, 277).
Wir wissen vom Gefühls- und Gedankenleben eines Menschen mit Demenz sehr wenig. Eine Sprache, die es uns erlauben würde, mit ihnen zu kommunizieren, gibt es eigentlich nicht. Vielleicht manchmal die Musik. Wenn Bohl recht hat, dann sind für den Menschen mit Demenz viele seiner Probleme gelöst. Wenn ein Mensch mit Demenz stirbt, ist er nicht von seinen Leiden erlöst, sondern wir sind es, wir, die wir Probleme mit ihm hatten. Aber erwächst daraus nicht der Wunsch, dem Leben mit schwerer Demenz ein Ende zu bereiten, um nicht der Familie oder der Gesellschaft zur Last zu fallen? „Darf ich diesem Menschen die Gnade eines Todes vor der Zeit gewähren? Muss ich diesen sinnlos Leidenden nicht von seiner Qual erlösen, erst recht, wenn er es selber will“ (Bohl 2000 277)? Bohl kommt zu einem strikten Nein. Er erinnert an den von Adolf Hitler unterzeichneten Erlass vom 1. September 1939, der vorsah, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“ (Euthanasieerlass 1939). In Deutschland ist die Mehrheit der Bevölkerung für ärztlich begleitete Sterbehilfe, in den Niederlanden sind seit 2012 mobile Euthanasie-Teams unterwegs.
Bohl vertritt die Auffassung, dass das Leben heilig sei, ein Töten immer frevelhaft. Ein solches Denken stellt sich nicht die Frage: Darf ich diesem Menschen die Gnade eines Todes vor der Zeit gewähren? Muss ich diesen sinnlos Leidenden nicht von seiner Qual erlösen? „Wir verstehen unter Lebensqualität eigentlich nur die Genussfähigkeit, mehr nicht, wobei wir sehr vordergründige Genüsse im Auge haben, wenn wir diese Fähigkeit einem anderen absprechen. Wer kann wissen, ob ein Komatöser nicht auch etwas genießt“ (Bohl 2000, 284)?
Und so entwirft der Pathologe Bohl aus seinen Erfahrungen heraus eine Theorie der Demenz; er identifiziert die krankmachenden Bedingungen des alltäglichen Lebens, beschreibt die Risikofaktoren für die Entstehung der Alzheimer’schen Krankheit und zählt auf:
Verlust von Kreativität, Schwund authentischer Erfahrungen, Niedergang religiöser Lebensbereiche, generelle Anomie, Fehlen eines tragfähigen Sinns, egoistische und anthropozentrische Verhaltensweisen, Vernachlässigung altruistischen Handelns und Denkens, Ausgrenzung des Todes, des Alters und der Leiden aus dem alltäglichen Erfahrungsbereich, wahnhaftes Streben nach Sicherheit („erst der Schwachsinn festigt die Sicherheit vor dem Leben“), die Angst vor dem Leben, die Angst vor dem Tod, das Verlangen nach Dauer, Wiederholung und Ewigkeit, das Fehlen jeglicher Transzendenz, die Flucht vor den existenziellen Fragen in die Illusion des Ich, die Scheu sich zu erinnern (Bohl 2000, 286).
Es ist – so könnte man sagen – leichtfertig, das Phänomen Demenz mit dem Stempel „Krankheit“ zu versehen. Im wahrsten Sinne des Wortes: leicht, fertig. Hat man die Demenz in die Krankheitsecke geschoben, dann hat man sie als ein gesellschaftlich, sozial und kulturell verankertes Phänomen entschärft. Die Entgleisung irgendwelcher Hirnzellen führt eben zu dem rasant wachsenden Phänomen, basta! Dann folgt logischerweise der Ausbau der Diagnostik, und abgeleitet davon wird auch der Blick auf die sozialen Konsequenzen der Demenz geworfen. Die Gesellschaft, in der wir leben, scheint sich immer häufiger des Instrumentes der Diagnose zu bedienen, um Probleme unschädlich zu machen, um ihnen nicht auf den Grund gehen zu müssen. Der „Liverpool Care Pathway“, der die Betreuung Sterbender organisiert, hat erreicht, was viele schon lange wollten: Sterben ist zu einer Diagnose geworden, die konsequent den Leitfaden für die Sterbebegleitung nach sich zieht: Punkt 6 des LCP heißt: „Religiöse und spirituelle Bedürfnisse sind erfasst.“ Das klingt nach Abhaken, und so ist es auch gedacht. Ist der Tod erst einmal in eine Diagnose, einen Leitfaden und einen Fragebogen für die Erfassung religiöser Bedürfnisse eingebracht – dann ist das Sterben eigentlich zur Abwicklung durch die medizinische Treuhand heruntergekommen. Mit der Demenz soll es – so muss man fürchten – möglichst ähnlich laufen.
Literatur
Blawat, K. (2011): Das Scheitern der Alzheimer-Forschung. Süddeutsche Zeitung vom 21.7.2011.
Bohl, Jürgen R. E. (2000): Vom Schwachsinn erlöst: Späte Begegnung mit Dementen. In: Bochnik, H. J. & Oehl, W. (Hrsg.): Begegnungen mit psychisch Kranken. Sternenfels (Wissenschaft und Praxis)
Euthanasie-Erlass (1939): vom 1. September 1939 im Bundesarchiv Koblenz 22, Nr. 4209, zit. Bohl (2000) 290.
Gronemeyer, R. (2013): Das Vierte Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit, München (Pattloch).
Gronemeyer, R. & Jurk, C. (Hrsg.) (2017): Entprofessionalisieren wir uns! Über die Sprache der Versorgungsindustrie: Wie Plastikwörter die Sorge um andere infizieren und warum wir uns davon befreien müssen. Bielefeld (Transkript).
Hamborg, M. (2011): Der demenzkranke Mensch im Beziehungsvieleck zwischen Familie, Heim und Gesellschaft. In: Familiendynamik 36(4): 322–329.
Jett, K. F. (2006): Mind-loss in the African American community: Dementia as a normal part of aging. In: Journal of Aging Studies 20: 1–10.
Proust, M. (2003): Die Gefangene. Fünfter Band des Werkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Shiva, V. (2009): Die Krise wird uns zur ökologischen Landwirtschaft zwingen. In: von Lüpke, G. (Hrsg.): Zukunft entsteht aus der Krise. München (Riemann).
Stolze, C. (2011): Vergiss Alzheimer! Die Wahrheit über eine Krankheit, die keine ist. Köln (Kiepenheuer & Witsch).
Whitehouse, P. J. & George, D. (2009): Mythos Alzheimer. Was Sie schon immer über Alzheimer wissen wollten, Ihnen aber nicht gesagt wurde. Bern (Hogrefe).
Wißmann, P. & Gronemeyer, R. (2009): Demenz und Zivilgesellschaft. Frankfurt a. M. (Mabuse).
Reimer Gronemeyer, Dr. theol. und Dr. rer.soc.
Jg. 1939, Professor em. für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. In den letzten Jahren Forschungsprojekte zum Thema Hospizdienste und Palliative Care in Europa, Demenz und Kommune, Demenz und Krankenhaus, Verhältnis der Generationen. Leiter zweier Forschungsprojekte zu den Themen „Vulnerable children in Namibia“ (DFG) und „Saatgut und Sozialsystem in Tansania und Namibia“ (Thyssen-Stiftung). Vorstandsvorsitzender der „Aktion Demenz – Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz“ (gefördert von der Robert Bosch Stiftung) sowie des gemeinnützigen Vereins Pallium e.V., der sich für soziale Projekte in Namibia engagiert.