Thema der Ausgabe 1/2017:

Erzähltes Leben

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Erzähltes Leben

Wir sind dem gemeinsamen Leben auf der Spur. „Leben, das erzählt wird, ist doppelt gelebtes Leben. Man lebt es quasi zweimal. Im Erzählen wird es auf den Punkt gebracht. Erzählen ist wie ein ganz persönlicher Pilgerweg“, so Dieter Fischer, der mit seinen lebensnahen, wissenschaftlich fundierten wie literarisch wertvollen Beiträgen unsere Zeitschrift von Anfang an bereichert hat. Die Lebensgeschichten behinderter Menschen sind ein hohes menschliches Gut, sie sind oft Verlustgeschichten, aber auch Geschichten der Bereicherung, „wo Leben in voller Tiefe, Fülle und Schönheit zuhause ist“. 

Wer verstehen will, muss zuhören können. Wenn uns jemand seine Geschichte anvertraut, müssen wir mit ihm in ein Geflecht der Ver – antwort – ung eintreten. Fragen und Antworten müssen in beide Richtungen fließen können. „Einem Menschen zu begegnen, heißt, von seinen Rätseln wach gehalten zu werden“ (Emmanuel Levinas).

„Mich hat man einfach meistens links liegen gelassen“, die Geschichte von Lea Fadenlauf, aufgezeichnet von Raphael Zahnd und Ingeborg Hedderich, nimmt ihren Lauf wie ein loser Lebensfaden. Viele Leute sollen ihre Geschichte lesen, damit sie eine Ahnung davon bekommen, wie ein Leben mit einer Lernschwäche ist, so der Wunsch von Frau Fadenlauf.

Zwischen Verzweiflung und Hoffnung beschreibt Fabian van Essen die Situation ehemaliger Förderschüler. Die meisten von ihnen wollen nur gewöhnlich sein, nichts Außerordentliches. Sie suchen die Ursachen für ihre Misserfolge nur bei sich selbst, und das ständige Scheitern führt zur Resignation. Exklusion wird dann als normal empfunden und führt zu einer gefährlichen Mischung von Enttäuschung und abwertenden Denkschemata.

Wie schaut der meist institutionalisierte Alltag von „geistig behinderten“ Menschen aus? Wie beeinflussen die Strukturen der Hilfesysteme die persönlichen Lebensentwürfe? Gibt es eine Perspektive „nach draußen“? Diesen Fragen geht Hendrik Trescher in seinem Beitrag nach.

Am Beispiel der Biographie von HP verdichtet Gertraud Kremsner die These, dass Mechanismen der Unterdrückung zur Kategorie „Behinderung“ führen. „Sobald der Behinderte unterdrückt wird, traut er sich nicht mehr, was zu sagen und sich zu entfalten“, so die Lebenserfahrung von HP.

Die Geschichte von Paula Kleine zeichnet Heinz Becker nach. Paula Kleine ist noch keine drei Jahre alt, als ihr Leben in Sondereinrichtungen beginnt, was bis zu ihrem Tod so bleiben sollte. So wirft ihre Geschichte auch ein Licht auf die historischen Verstrickungen im Umgang mit behinderten Menschen. Und sie stellt viele Fragen an uns.

Der polnische Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak geht am 5. August 1942 mit seiner Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska und seinen 200 Kindern des Waisenhauses in das Vernichtungslager Treblinka. Er lehnt alle Versuche zu seiner Rettung ab. Ferdinand Klein erinnert an dieses menschliche Vorbild, der auch mit seiner Pädagogik der Liebe und Achtung gerade in der heutigen Welt eine Leitfigur ist.

Lassen Sie sich die exzellenten Geschichten im Magazinteil nicht entgehen. „Mareice Kaiser – die mit dem behinderten Kind“ etwa und die Rezension ihres Buches von Wolfgang Jantzen. Die Lektüre hat ihm „das Herz erwärmt, die Tränen in die Augen getrieben und ihn auch wütend gemacht, weil es gnadenlos verdeutlicht, in welcher ausgrenzenden Gesellschaft wir leben“. Der Fotoessay – eine neue Rubrik – versucht Situationen des Lebens von Sven-Erik einzufangen. 

Da wir heuer im 40. Jahrgang erscheinen, lüften wir auch ein wenig den Vorhang unserer Geschichte. Die Köpfe, die hinter der Zeitschrift stecken, outen sich mit einer Wortspende.

Nach der Lektüre dieses Heftes möge in Ihnen das Gefühl entstanden sein, dass es in unser aller Leben viele Gemeinsamkeiten gibt.

 

Leseproben:

"Fabel" (Ausschnitt). Ein Bild der blinden Künstlerin Silja Korn.
"Fabel" (Ausschnitt). Ein Bild der blinden Künstlerin Silja Korn.
Fachthema
Lea Fadenlauf, Raphael Zahnd, Ingeborg Hedderich

„Mich hat man einfach meistens links liegen gelassen“

Die Wahl des Pseudonyms „Lea Fadenlauf“ für die nachfolgend erzählte Lebensgeschichte aus dem Buch „Biografie – Partizipation – Behinderung“ (Hedderich, Egloff, & Zahnd, 2015) war alles andere als zufällig. Sie liegt in der Geschichte selbst begründet, denn diese nimmt ihren Lauf wie ein loser Faden, der Krümmungen, Knicke oder gar Knoten haben kann. Lea Fadenlauf erzählt ihre Geschichte aber nicht um ihrer selbst willen, sondern zielt auf eine Wirkung. Sie möchte, dass die „klugen Köpfe“ (Zahnd & Fadenlauf, 2016, S. 66) verstehen, wie ihr Leben ist und vertritt dabei die Überzeugung, dass viele Ausschlussprozesse geschehen, weil schon gar nicht verstanden wird, wo das Problem sein könnte. Deshalb erachtet sie es als wichtig, „dass die Leute wissen […], wie ein Leben mit einer Lernschwäche ist“ (ebd.). Mit der Geschichte, die sie gemeinsam mit einer Schreibassistenz im Rahmen eines Forschungsprojekts aufgeschrieben hat, will sie aufzeigen, weshalb wir mit Menschen wie ihr den Austausch suchen müssen, wenn wir das Ziel einer inklusiven Gesellschaft erreichen möchten. Es ist deshalb ihr Anliegen, dass sie von möglichst vielen Leuten gelesen wird.

Die Journalistin und Bloggerin Mareice Kaiser sitzt hinter einem großen Fenster und arbeitet am Computer. - Foto: Carolin Weinkopf
Die Journalistin und Bloggerin Mareice Kaiser sitzt hinter einem großen Fenster und arbeitet am Computer. - Foto: Carolin Weinkopf
Mutter-Sein
Barbara Vorsamer

Mareice Kaiser – die mit dem behinderten Kind

Ihre Tochter starb im Alter von vier Jahren. Das Netz trauerte. Bloggerin Mareice Kaiser setzt sich dafür ein, dass behinderte Kinder mehr sein dürfen als Diagnosen – und Eltern mehr als Pflegekräfte.

Dem kleinen Sohn Willi ist der Ärger ins Gesicht geschrieben. - Foto: Müller
Dem kleinen Sohn Willi ist der Ärger ins Gesicht geschrieben. - Foto: Müller
Kolumne
Birte Müller

Konsequente Erziehungsversuche

Fast alle Leute sind sich einig: Auch ein behindertes Kind muss gut erzogen werden – so eines BESONDERS gut sogar! Ich finde, dass das eine Diskriminierung ist, denn warum muss gerade ein behindertes Kind besser erzogen sein als ein anderes – als Ausgleich?

Adi-Ida Landgraf liegt bequem auf einer Hand aufgestützt auf einer Decke in einer Wiese. - Foto: Adi-Ida Landgraf
Adi-Ida Landgraf liegt bequem auf einer Hand aufgestützt auf einer Decke in einer Wiese. - Foto: Adi-Ida Landgraf
Aus meinem Leben
Adi-Ida Landgraf

Die Geister in meinem Kopf

Adi-Ida Landgraf ist Spastiker und seit dem 17. Lebensjahr auf der Suche nach Antworten. Also begann er, die vielen Gedanken aufzuschreiben, die ihm durch den Kopf gehen. Das half ihm, sein „inneres Durcheinander in die Reihe zu bringen“. Und weil er wollte, dass möglichst viele Menschen erfahren, dass ein behinderter Mensch genau so ein Leben hat, wie jeder andere – mit Träumen, Wünschen und Bedürfnissen –, gab er 2010 seine Tagebuchtexte als Buch heraus. Im folgenden Text lässt er uns an seinen Gedanken teilhaben.

 Fotos aus dem Leben des 21 jährigen Sven-Erik mit Trisomie 21. Hier hat er sich sein T-Shirt über den Kopf gezogen und steht mit ausgebreiteten Ar...
 Fotos aus dem Leben des 21 jährigen Sven-Erik mit Trisomie 21. Hier hat er sich sein T-Shirt über den Kopf gezogen und steht mit ausgebreiteten Ar...
Fotoessay
Niklas Grapatin

Sven-Erik, einundzwanzig

Was bedeutet es, mit Down-Syndrom zu leben? Erwachsen zu werden mit einer Behinderung, die von vielen Menschen als Einschränkung empfunden wird?

Inhalt:

Artikel
„Mich hat man einfach meistens links liegen gelassen“
Der angeschlagen-motivierte Habitus
Lebensentwürfe von Menschen mit „geistiger Behinderung“
„Verhindert ist auch behindert“
„So lange, bis ich nicht mehr kann“
Janusz Korczak
Mareice Kaiser – die mit dem behinderten Kind
„Sondermütter“
Konsequente Erziehungsversuche
Laufsteg des Lebens
Würstelstand statt Arbeit in einer Werkstätte
Design, das Denken verändert
Immer wieder aufstehen, nie liegen bleiben …
Arbeiten in einer Konzernzentrale – nur ein Traum?
Sven-Erik, einundzwanzig
Die Geister in meinem Kopf
Menschen mit Lernschwierigkeiten gestalten Lehre
„Nichts über uns, ohne uns“
Kunsthandwerk im Schatten der Tempel
Deutsche Bahn informiert über Hilfen
Sind Gemeinden zur Barrierefreiheit verpflichtet?
Inklusion – die Frage ist nicht ob, sondern wie
Mit Mut zum Glück
Barrierefreie Plattform setzt Standards
„Von großen und von kleinen Dingen“
Maria Hilf! in der Mariahilfer Straße
Martin und die Frauen
Welt-Winterspiele in Österreich
Medaillenregen bei der Paraski-WM in Tarvis
Freie Gedanken und ein Erdbeermund
Fachkräfte von morgen für Inklusion sensibilisieren
Ableismus – was ist denn das?