„Mich hat man einfach meistens links liegen gelassen“
Die Wahl des Pseudonyms „Lea Fadenlauf“ für die nachfolgend erzählte Lebensgeschichte aus dem Buch „Biografie – Partizipation – Behinderung“ (Hedderich, Egloff, & Zahnd, 2015) war alles andere als zufällig. Sie liegt in der Geschichte selbst begründet, denn diese nimmt ihren Lauf wie ein loser Faden, der Krümmungen, Knicke oder gar Knoten haben kann. Lea Fadenlauf erzählt ihre Geschichte aber nicht um ihrer selbst willen, sondern zielt auf eine Wirkung. Sie möchte, dass die „klugen Köpfe“ (Zahnd & Fadenlauf, 2016, S. 66) verstehen, wie ihr Leben ist und vertritt dabei die Überzeugung, dass viele Ausschlussprozesse geschehen, weil schon gar nicht verstanden wird, wo das Problem sein könnte. Deshalb erachtet sie es als wichtig, „dass die Leute wissen […], wie ein Leben mit einer Lernschwäche ist“ (ebd.). Mit der Geschichte, die sie gemeinsam mit einer Schreibassistenz im Rahmen eines Forschungsprojekts aufgeschrieben hat, will sie aufzeigen, weshalb wir mit Menschen wie ihr den Austausch suchen müssen, wenn wir das Ziel einer inklusiven Gesellschaft erreichen möchten. Es ist deshalb ihr Anliegen, dass sie von möglichst vielen Leuten gelesen wird.
Im Original erzählt Lea Fadenlauf ihre Geschichte nicht nur, sondern hebt auch bedeutsame Punkte hervor – im Sinne einer Schlussfolgerung aus ihrem eigenen Leben. Dabei treten einige Aspekte deutlich hervor. Ausgangspunkt bildet das Recht jedes Menschen auf ein glückliches Leben: „Jeder ist anders. Aber trotzdem hat ein jeder das Recht zu leben. Und dabei glücklich zu sein“ (Fadenlauf & Arn, 2015, S. 218). Damit dies auch für Menschen mit Lernschwäche möglich ist, sind einige Veränderungen notwendig. Man müsste ihnen „mehr Liebe und Verständnis entgegenbringen“ (ebd., S. 138). Dies ist zentral, weil ein Mangel an Rücksicht, Verständnis und Liebe die davon Betroffenen in eine schwierige Lage bringt: „Es ist schwierig, der oder die Schwächere zu sein. […] Als Schwächerer versucht man aber mit allen gut auszukommen. Damit man an einem Ort geliebt wird“ (ebd., S. 157). Die damit einhergehende Bereitschaft, viel zu investieren, hat Folgen: „Als schwächere Person wird man oft ausgenutzt. Man will genügen, aber manchmal reicht es einfach nicht. Leute die kein Selbstvertrauen haben, machen vieles für andere Leute, um zu genügen“ (ebd., S. 192f.). Neben dieser zentralen Schwierigkeit äußert Lea Fadenlauf aber auch eine klare Kritik. Diese bezieht sich auf den Umstand, dass trotz einer Diskussionen über Inklusion diese oft nicht stattfindet: „Das Leben wird für schwächere Menschen immer schwieriger“ (ebd., S. 146). Einen wichtigen Grund dafür erwähnt sie gleich selbst: „Und dann kommen sie immer mit dieser Integration. […] Menschen wie ich sollten denen mal sagen könnten [sic!], wie es funktionieren sollte. Jetzt sind es immer nur die Studierten […]“ (ebd., S. 147). Obwohl der Fokus auf diese Problemfelder bereits wieder eine Verkürzung der komplexen Lebensrealität darstellt, ist er zentral. Damit aber genug der einleitenden Worte, denn die Geschichte soll für sich selbst sprechen.
Schulzeit und Kindheit
Meine Mutter hat zweieiige Zwillinge auf die Welt gebracht. Ich bin einer davon. Bei der Geburt habe ich zu wenig Luft bekommen. Seit da bin ich etwas schwächer als meine Zwillingsschwester. Ich habe noch zwei andere Schwestern und zwei Brüder. Und ich bin die Jüngste.
Ich bin sehr gerne in den Kindergarten gegangen. Dort hat es immer schöne Spielsachen gehabt. Im Kindergarten habe ich auch oft und gerne gebastelt. Danach bin ich in die erste Klasse gekommen. Dort haben zwei Mädchen mich manchmal etwas gehänselt. Meine Schwester hat nicht gewusst, wem sie helfen soll. Ich bin sehr schüchtern gewesen. Ich bin auch einfach nicht mitgekommen in der Schule. Nach etwa sechs Wochen bin ich in die Kleinklasse gekommen. Vor der Kleinklasse bin ich schon oft getestet worden. In der vierten Klasse bin ich aber nochmals getestet worden. Dann hat es geheißen, ich hätte von Anfang an in die Heilpädagogische Sonderschule kommen sollen. Aber meine Lehrerin hat das nicht gewollt. Und ich habe auch das Gefühl gehabt, dass diese Schule nicht das Richtige gewesen wäre. Es hat so ausgesehen, als gäbe es keine passende Schule für mich. Ich habe nirgendwo so richtig dazugehört und mich fehl am Platz gefühlt. Ich wollte immer gerne mithalten in der Schule. Wenn man nichts kann, hat man irgendwie das Gefühl, ein Niemand zu sein. Ich wollte auch jemand sein!
Ich bin damals auch eine Bettnässerin gewesen. Das hat schon etwas mit dieser Angst zu tun gehabt. Ich hätte gerne mit meiner Zwillingsschwester mitgehalten. Aber ich habe es nicht gekonnt. Sie ist immer besser gewesen. Man hat mich immer ein bisschen in eine Ecke gedrängt. Das haben sie sicher unbewusst gemacht. Aber manchmal habe ich mich einfach so gefühlt. Auch das Bettnässen ist sehr schlimm gewesen für mich. Das hat nach der Schule Nullkommanichts aufgehört. Auch in Skilagern habe ich nie ins Bett gemacht. Das wäre der Horror gewesen. Dann hätte ich mich begraben können. In der Schule bin ich die Schlechteste gewesen. Man hat mich einfach so durchgeschlängelt. Das hat mich oft beschäftigt. Damals natürlich noch nicht so sehr. Aber als ich aus der Schule gekommen bin, hat es mich immer mehr beschäftigt.
Etwas später bin ich zu einem sehr strengen Lehrer gekommen. Er hat drei Bücher über Hitler durchgenommen. Wir haben auch extrem viele altmodische Lieder gesungen. Ich bin fast durchgedreht. Mich hat er links liegen gelassen. Mich hat man einfach meistens links liegen gelassen. Ich habe ein einfacheres Rechenbuch gehabt. Aber auch mit den einfachen Rechnungen bin ich nicht immer zurecht gekommen.
In der Schule bin ich ein wenig alleine gewesen. Die anderen haben in den Pausen mit den Primarschülern gestritten und mit ihnen gekämpft. Da habe ich mich oft auf die Toiletten zurückgezogen. Das ist schlimm für mich gewesen. Es ist ja auch nicht so schön auf den Toiletten. Ich bin einfach ein bisschen abseits gewesen. Ich bin zwar schon in die Gruppe integriert gewesen. Aber ich habe mich da etwas rausgenommen. Vor allem, weil sie sich so oft geschlagen haben. Aber ich will niemandem die Schuld geben.
Abgesehen von der Schule habe ich eigentlich eine schöne Kindheit gehabt. Meine Geschwister und ich haben sehr viel gespielt. Wir haben einen Heustock gehabt. Die Jungs haben immer gerne Gänge mit Strohballen gebaut. Ich sollte immer die böse Hexe spielen. Das hat mir viel Spaß gemacht. Oft sind wir auch in den Wald zum Bach gegangen. Dort haben wir Indianer und Cowboy gespielt. Wir haben sogar einen Marterpfahl gehabt. Oder wir haben Schlüsselblumen gesammelt. Ich habe auch gerne Ballspiele gespielt. Ich habe damals aber nie eine gleichgesinnte Freundin gehabt. Ich habe oft mit Jüngeren gespielt. Nur im Spiel mit Jüngeren habe ich genügen können. So habe ich mich zumindest gefühlt. Das ist sehr schwierig gewesen.
Da ist noch mehr gewesen. Und zwar hat mich einer von der siebten bis zur neunten Klasse in die Schule gefahren. Er hat mir Küsschen gegeben und mich angefasst. Er ist mit mir manchmal in den Wald gefahren. Dort hat er mir das Ein-Mal-Eins beigebracht. Meine Eltern haben ihn super gefunden. Sie haben nichts geahnt und sind so gut mit ihm ausgekommen. Sonntags hat er mit uns Ausflüge gemacht. Ich bin davon genervt gewesen. Mich hat das alles so angeekelt. Bei diesen Ausflügen habe ich mich manchmal wirklich beinahe übergeben müssen. Ich habe mich schon gewehrt. Aber man kann sich halt nicht so gut wehren. Mein Selbstwertgefühl ist manchmal wirklich am Boden. Ich habe gesagt: „Bitte hör auf. Ich will das nicht. Ich will das einfach nicht!“ Und irgendwann hat er dann schon aufgehört. Manchmal habe ich ihm auch eine gehauen. Aber es ist wohl doch etwas zu wenig stark gewesen. Ich bin doch noch ein Kind gewesen. Ich habe genau gewusst, dass er das nicht darf. Aber ich habe das meinen Eltern nicht sagen können. Ich habe einfach Angst gehabt, sie würden mich nicht ernst nehmen. Ich habe nicht gewusst, wie sie reagieren würden. Sie haben ihn so gerne gehabt. Er ist nie intim geworden. Aber da sind halt immer all diese Küsschen und das Anfassen gewesen.
Von der Schule auf den Bauernhof
Nach der Schule habe ich eine Arbeitsstelle bei einer Bauernfamilie gefunden. Dort habe ich als Hauswirtschaftliche Angestellte gearbeitet. Darauf bin ich in Langendorf bei Birnbaums gewesen. Dort bin ich ziemlich lange geblieben. Frau Birnbaum hat nämlich noch die Meisterprüfung gemacht. Sie hat mich zum Ende hin gefragt, ob ich nicht das Bauernhaushaltslehrjahr versuchen wolle. Das hat mich sehr gefreut. Sie hat mir versprochen, mir beim Lernen zu helfen. Also habe ich es versucht. Die Prüfung habe ich mit einer Fünf abgeschlossen. Ich bin sehr stolz darauf gewesen. Danach bin ich zu einem Biobauern gekommen. Die Arbeit bei diesem Biobauern hat mir wahnsinnig gut gefallen. Ich habe im Haushalt und mit den Kindern ausgeholfen. Aber ich habe auch draußen auf dem Feld mitangepackt.
Meine erste richtige Freundin
Nach dem Bauernhof habe ich im Ferienhaus Sonneggalp gearbeitet. Dort habe ich Zimmerdienste gemacht. Ich habe geputzt. Und ich habe in der Küche geholfen. Und dann ist die Tochter von den Besitzern wieder zurückgekommen. Und sie hat mir in meinem Leben ganz viel geholfen. Sie ist meine beste, allerbeste Freundin geworden. Sie hat mich so ein bisschen begleitet. Ich habe nie, nie, nie gewusst, was eine Freundin ist. Aber seit ich Barbara kenne, weiß ich, was eine Freundin ist. Das ist für mich ein ganz, ganz schönes Erlebnis gewesen.
Als ich auf der Sonneggalp gearbeitet habe, habe ich mich einmal aus Versehen im Bad eingeschlossen. Ich habe dann etwas Angst bekommen. Aber dann ist Barbara gekommen. Zuerst hat sie mir etwas beruhigend zugeredet. Dann meinte sie, ich solle mich jetzt erstmal hinsetzen und etwas beruhigen. Dann hat sie mir Schritt für Schritt erklärt, was ich tun sollte. Und dann ist es auch gegangen. Sie hat mir einfach bei vielem geholfen.
Wir haben auch zusammen Federball gespielt. Dazu haben wir dann unsere Lieblingsmusik gehört. Das ist sehr lustig gewesen. Nach ungefähr einem Jahr bin ich von der Sonneggalp weggegangen. Barbara ist dann für eine lange Zeit nach Afrika gegangen. Aber sie hat mir sehr oft geschrieben. Ich habe alle ihre Karten aufbewahrt. Diese Karten bedeuten mir viel.
Gärtnerei-Anlehre und Arbeit mit Kindern
Nach der Sonneggalp bin ich in eine Wohngemeinschaft gekommen. Eine Freundin hat mir anschließend geholfen, eine Anlehre bei einer Gärtnerei anzufangen. Da habe ich mich wieder testen lassen müssen. Darüber habe ich mich aufgeregt. Und dann habe ich mit 30 eine Anlehre in der Gärtnerei machen können. Ich habe vor allem bei der Arbeit viel gelernt. Wir haben in der Gärtnerei viele Patienten aus der Psychiatrie gehabt. Sie haben uns unterstützt. Manche von ihnen haben mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Ich habe ihnen immer zugehört. Aber eines Morgens habe ich genug gehabt von all ihren Geschichten. An eben diesem Morgen bin ich in die Gärtnerei gekommen. Ich habe mich hingestellt und gesagt: „Und mich fragt niemand, wie es mir geht!“ Da ist zuerst der Chef gekommen. Er hat mich gefragt, was los sei. Ich habe zu ihm gesagt, ich hätte mir von allen ihre Geschichten angehört. Keiner aber frage, wie es mir gehe. Er hat sofort gefragt, wie es mir gehe. Meine Situation in der Gärtnerei hat sich danach verbessert. Irgendwie hat es das mal gebraucht.
Nach der Anlehre in der Gärtnerei bin ich eine Weile arbeitslos gewesen. Später habe ich im Kinderhaus gearbeitet. Nebenbei habe ich noch ein bisschen geputzt. Durch das Kinderhaus habe ich daraufhin bei zwei Familien zu arbeiten begonnen. Bei beiden habe ich geputzt und Kinder gehütet.
Die Zucchettis
Es ist schon immer mein Traum gewesen, auf ein behindertes Kind aufpassen zu können. Eines Tages habe ich ein Inserat in der Zeitung gesehen. Die Familie vom Inserat hat mir dann gesagt, dass noch jemand anders im Haus eine Hilfe suche. Diese andere Person sei allein erziehend mit einem behinderten Sohn. So bin ich zur Stelle bei Frau Zucchetti gelangt.
An meinem ersten Arbeitstag bei Frau Zucchetti ist etwas Schönes geschehen. Leo hat mein Pantoffel mit zu sich ins Bett genommen. Leo ist Frau Zucchettis behinderter Sohn. Er hat das gemacht, als ich schon wieder nach Hause gegangen bin. Frau Zucchetti hat es mir danach erzählt. Sie hat gemeint, sie hätte sowas auch noch nie erlebt. Leo kann nicht sprechen. Er hat auch Mühe beim Gehen gehabt. Morgens hat Frau Zucchetti ihm die Windel ausgezogen und ihn gewaschen. In dieser Zeit habe ich das Frühstück vorbereitet. Nach dem Vorbereiten habe ich Leo angezogen. Wir haben dann gemeinsam gefrühstückt. Nach dem Frühstück habe ich ihm die Hände gewaschen und ihm die Zähne geputzt. Ich habe ihn hinunter gebracht und gewartet, bis das Taxi gekommen ist. Das Taxi hat Leo zur Schule gebracht. Während Leo in der Schule gewesen ist, habe ich den Haushalt gemacht. Meistens habe ich Leo nach der Schule wieder entgegen genommen. Wir haben dann meistens noch etwas zusammen gespielt. Oder haben sonst etwas unternommen. Am liebsten hat Leo Feuer gemocht. Deshalb haben wir draußen oft ein Feuer gemacht. Ich habe ihm viele Geschichten erzählt.
Ich habe Leo sehr gerne gemocht. Mit seiner Mutter ist es aber manchmal etwas schwierig gewesen für mich. Einmal hat sie mich gefragt, ob ich mit Leo in den Tierpark gehen oder lieber hier im Haus etwas tun wolle. Und dann bin ich dieses eine Mal ganz ehrlich gewesen. Ich habe ihr gesagt, ich hätte starke Kopfschmerzen und wolle lieber hier bleiben. Das hat sie aus irgendeinem Grund richtig wütend gemacht. Sie hat gemeint, ich solle trotzdem mit Leo in den Tierpark gehen. Und dann hat sie so richtig herumgeschimpft. Das hat sich natürlich alles auf Leo übertragen. Als wir dann losgegangen sind, hat Leo geweint. Er hat nicht mehr aufgehört zu weinen. Es ist furchtbar gewesen. Ich mit meinen Kopfschmerzen und dem schreienden Kind unterwegs. In diesem Moment habe ich die Welt nicht mehr verstanden. Ich habe zu mir selbst gedacht: „Nein, so geht man nicht mit mir um!“ Als wir nach Hause gekommen sind, habe ich dann meine Meinung gesagt. Und plötzlich habe ich immer weniger arbeiten müssen. Daher hat Frau Zucchetti mir Orte zum Putzengehen organisiert. Das ist für mich eine große Belastung gewesen.
Manchmal habe ich Leo auch für ein ganzes Wochenende zu mir nach Hause genommen. Das habe ich sogar umsonst getan. Ich habe dieser Frau helfen wollen, so gut ich konnte. Aber so hat das nicht weitergehen können. Und dann immer weniger Arbeit. Immer weniger Geld. Und dann all diese „Putzjobs“. Ich habe sowieso oft ein Durcheinander mit den Zeiten. Und bei diesen „Putzjobs“ musste ich ja immer zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten sein. Damals habe ich beim Putzen auch immer etwas länger gebraucht. Ich habe dann noch eine Viertelstunde umsonst gearbeitet. Nur so habe ich mich wohlgefühlt. Es ist mir wichtig gewesen, dass alles gemacht ist. Das habe ich natürlich auch niemandem gesagt. Bis es mich irgendwann angefangen hat zu nerven. Darum bin ich dann oft noch langsamer gewesen. Ich bin sehr exakt, wenn es ums Arbeiten geht. Aber ich bin halt auch sehr langsam. Das Putzen hat mir natürlich oft auch Spaß gemacht. Aber mit der Zeit habe ich mich ein bisschen ausgenutzt gefühlt. Zum Schluss hat Frau Zucchetti mich gekündigt. Wir sind mehr oder weniger im Streit auseinander gegangen. Trotzdem ist sie eigentlich eine gute Person. Sie ist zu dem Zeitpunkt einfach ein bisschen verbittert gewesen.
Mittagstisch und Praktikum
Ich habe dann eine Ausbildung gemacht und mich bei einigen Mittagstischen2 beworben. Aber leider bin ich nirgendwo reingekommen. Darauf habe ich mich bei einem Behindertenheim als Praktikantin beworben. Ungefähr sechs Wochen lang habe ich dort als Praktikantin gearbeitet. Es hat mir gefallen. Im Praktikum habe ich die Leute mehrheitlich betreut. Ich habe aber auch in der Küche mitgeholfen und geputzt. Ich bin wirklich gut mit den Leuten ausgekommen. Ich habe teilweise auch sehr interessante Gespräche gehabt. Aber ich habe damals beinahe nicht mehr schlafen können. Ich habe das Gefühl gehabt, es nicht mehr hinzukriegen. Vor allem mit diesen technischen Sachen habe ich einfach Schwierigkeiten. Manchmal hat man die Leute ja anseilen müssen, um sie aus dem Bett zu nehmen. Und es hat Lifte gegeben. Man hat auch immer schauen müssen, ob die Leute gut angegurtet sind und all so was. Und man musste immer alles so schnell lernen. Wenn ich mehr Zeit gehabt und man mich langsamer eingeführt hätte, wäre es vielleicht möglich gewesen. Ich brauche einfach für alles mehr Zeit. Aber heute ist das einfach nicht mehr drin. Ich bin dann zu meiner Bezugsperson gegangen. Bei dem Gespräch habe ich ihr von meinen Problemen erzählt. Danach habe ich dann ein Gespräch mit den Leitern des Heims gehabt. Das ist irgendwie noch lustig gewesen. Sie haben es nämlich genau gleich gesehen wie ich. Wir sind dann zum höchsten Leiter gegangen. Der hat gesagt, sie wollen mich nicht einfach so auf die Straße stellen. Sie sähen ja auch, was für einen guten Draht ich zu den Leuten hätte. Deshalb haben sie vorgeschlagen, mich ins Stellennetz aufzunehmen3. Damit ich etwas zu tun habe. Das ist für mich eigentlich sehr gut gewesen. Aber kein Lohn zu haben, ist schon nicht so toll. Aber so läuft es halt. Und man muss das einfach so annehmen. Wenn man schwächer ist, muss man extrem viel einfach so annehmen. Aber ich bin dankbar, dass ich dort arbeiten durfte.
Abklärung, Angefangen – wieder gegangen
Die Frau von der Pro Infirmis4 hat mir gesagt, ich solle mich bei der IV5 anmelden. Als erstes musste ich noch zu einer Fachpsychologin gehen und die hat gesagt, dass ich ein Anrecht auf eine IV-Rente habe. Nach dem Test ist dann alles in die Wege geleitet worden. Ich musste drei Wochen zu einer geschützten Werkstätte gehen. Wo weitere Abklärungen gemacht wurden. Danach musste ich lange warten.
Bevor ich die IV zugesprochen bekommen habe, habe ich mich noch bei Kinderkrippen beworben. Es sind dauernd nur Absagen zurückgekommen. Deshalb habe ich angefangen, mich auch bei Altersheimen zu bewerben. Auch da habe ich erst nichts gefunden. Doch dann ist doch noch ein Anruf gekommen. Sie haben eine neue hauswirtschaftliche Arbeitsstelle schaffen wollen. Mit dieser Stelle haben sie den Pflegenden etwas Arbeit abnehmen wollen. Die Arbeit hat mir gefallen. Ich bin sehr beliebt gewesen bei den Leuten. Aber mir ist es einfach zu viel geworden. Ich bin auch einfach zu pingelig. Wenn ich etwas gesehen habe, habe ich es richtig machen wollen. So habe ich dann halt auch nie eine Pause gemacht. Ich habe alles gemacht, was die Leute wollten. Ich habe dann ein Gespräch mit der Chefin gehabt. Ich habe ihr gesagt, dass ich hier mit der Zeit kaputt gehe. Sie hat dann gesagt, dass sie nur Positives gehört habe. Ich sei vielleicht einfach nicht so schnell. Und ich sei etwas zu exakt. Sie hat gemeint, ich müsse lernen, die Arbeit etwas anders zu machen. Das ist aber nicht so einfach gegangen. Bei einem weiteren Gespräch mit meiner IV-Beraterin und meiner Chefin ist dann auch die Hauptchefin gekommen. Sie hat überhaupt kein Verständnis gehabt. Sie hat gesagt, sie seien noch in einer Umstrukturierung. Und dann hat die Hauptchefin gesagt, ich könne mein Fach leeren und gehen. So habe ich mich bei den Leuten vom Altersheim gar nicht mehr verabschieden können. Das ist ganz schlimm gewesen für mich. Da kommen die ganzen Gedanken und Fragen wieder. Warum bin ich so dumm? Warum kann ich das nicht besser? Warum, warum…? Und ich bin dann halt wieder auf der Straße gestanden. Ich bin lange zu Hause gewesen.
Geschützte Werkstatt
Irgendwann ist dann ein Brief von der IV gekommen. In diesem Stand, dass ich in Zukunft in einer geschützten Werkstatt arbeite. Es ist sehr schwer gewesen, in den neuen Alltag reinzukommen. Am Anfang habe ich mich auch nicht zu den anderen dazugesetzt. Da bin ich ziemlich einsam gewesen. Aber ich musste das einfach für mich machen. Ich musste das Ganze erstmal auf mich wirken lassen. Ich, die so gerne in der freien Wirtschaft arbeiten würde. Ich musste jetzt in einer geschützten Arbeitsstätte arbeiten gehen. Am dritten oder vierten Tag ist eine Kollegin auf mich zugekommen. Sie fragte mich, ob ich mich nicht zu ihnen setzen wolle. Dann habe ich mich zu ihnen gesetzt. Irgendwann hat es dann „Klick“ gemacht im Kopf. Man muss auch einfach ja sagen können. Auch wenn man einfach irgendwo platziert wird. Aber jetzt muss ich sagen: Es gefällt mir. Eine Beschäftigung zu haben, ist wertvoll. Im Prinzip bekommt man ja auch etwas Anerkennung. Das ist sehr wichtig. Jetzt kann ich mal wieder etwas Boden unter den Füßen gewinnen.
Literatur
Buchner, T., Koenig, O., & Schuppener, S. (Hrsg.) (2016): Inklusive Forschung. Gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten forschen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Fadenlauf, L., & Arn, L. (2015): Das ist mein Leben und meine Vergangenheit. In: I. Hedderich, B. Egloff, & R. Zahnd (Hrsg.), Biografie – Partizipation – Behinderung : Theoretische Grundlagen und eine partizipative Forschungsstudie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 92–105.
Hedderich, I., Egloff, B., & Zahnd, R. (Hrsg.) (2015): Biografie – Partizipation – Behinderung: Theoretische Grundlagen und eine partizipative Forschungsstudie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Walmsley, J., & Johnson, K. (2003): Inclusive Research with People with Learning Disabilities. Past, Present and Futures. London, Philadelphia: Jessica Kingsley Publishers.
Zahnd, R., & Fadenlauf, L. (2016): „Integration für Leute die schwächer sind, wäre mein Ziel“. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 84(1), 71–75.
Fußnoten
1 Der nachfolgende, anonymisierte und von Lea Fadenlauf validierte Text (inklusive Bilder) ist eine gekürzte Version ihrer Lebensgeschichte (Fadenlauf & Arn, 2016) und wurde mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt-Verlages abgedruckt. Die Geschichte entstand im Rahmen eines Projekts, das zum Bereich derjenigen Forschung gehört, die unter den Begriffen der Partizipativen, Emanzipatorischen oder Inklusiven Forschung zusammengefasst wird (Walmsley & Johnson, 2003; Buchner, Koenig, & Schuppener, 2016).
2 Mittagstische sind Verpflegungsangebote für Kinder, die über den Mittag nicht von ihren Eltern betreut werden können.
3 Es handelte sich hierbei um eine Beschäftigung als Praktikantin im selben Betrieb, allerdings ohne Lohn.
4 Die Pro Infirmis ist die größte Schweizer Fachorganisation für Menschen mit Behinderung und versucht diese in der Lebensgestaltung zu unterstützen.
5 IV steht für schweizerische Invalidenversicherung.
Lea Fadenlauf
Lea Fadenlauf ist eine vielseitig beschäftigte Person. Sie arbeitet an einem geschützten Arbeitsplatz, hat zahlreiche Hobbys und ist ehrenamtlich tätig. Zu ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten gehört die Mitarbeit in der Kirchgemeinde, wo sie in der Gestaltung des Kinderprogrammes mithilft. Ebenso arbeitet sie als freiwillige Helferin im lokalen Zentrum für Menschen auf der Flucht und hilft, deren Nachmittage kurzweiliger zu gestalten. In ihrer Freizeit verbringt sie viel Zeit mit Nähen und verschenkt die Produkte mit Vorliebe an Menschen, die ihr nahe stehen.
Raphael Zahnd
MA UZH
Raphael Zahnd ist Oberassistent am Lehrstuhl Sonderpädagogik: Gesellschaft, Partizipation und Behinderung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Schwyz.
Nach der Ausbildung zum Primarlehrer am Institut Unterstrass in Zürich arbeitete er in einer Heilpädagogischen Schule und studierte Sonderpädagogik und Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. An derselben Universität promovierte er zum Thema „Behinderung und sozialer Wandel. Eine Fallstudie am Beispiel der Weltbank“. Er interessiert sich für globale Perspektiven auf das Thema Behinderung, partizipative Forschung und die Ausgestaltung einer inklusiven Gesellschaft.
Ingeborg Hedderich
Prof. Dr.
Ingeborg Hedderich ist Inhaberin des Lehrstuhls Sonderpädagogik: Gesellschaft, Partizipation und Behinderung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich.
Sie studierte Sonderpädagogik an den Universitäten zu Köln und Frankfurt am Main. Anschließend promovierte sie an der Universität zu Köln zum Thema „Schulische Situation und kommunikative Förderung Schwerstkörperbehinderter“. Danach arbeitete sie als Professorin an der Hochschule Magdeburg-Stendal und der Universität Leipzig (Lehrstuhl für Körperbehindertenpädagogik).
Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Partizipative Forschung, Internationale Sonderpädagogik, Migration, Inklusion, Burnout und Montessoripädagogik. Hierzu unterhält sie internationale Forschungskooperationen. Sie ist Präsidentin der Kommission Studium und Behinderung der Universität Zürich und im Vorstand des Marie Meierhofer Institutes für das Kind.
Ingeborg Hedderich, Barbara Egloff, Raphael Zahnd (Hrsg.)
Biografie – Partizipation – Behinderung
Theoretische Grundlagen und eine partizipative Forschungsstudie
Soziale Wirklichkeit partnerschaftlich zu erforschen, ist zentrales Anliegen Partizipativer Forschung. Der gemeinsame Prozess bezieht sich auf das Verstehen und Verändern sozialer Wirklichkeiten. Das Buch „Biografie – Partizipation – Behinderung“ widmet sich dem Thema der Partizipativen Forschung mit einem Fokus auf das Thema Biografie. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie Lebensgeschichten von Menschen mit Lernschwierigkeiten gemeinsam erarbeitet werden können, um ihnen und ihren Geschichten Gehör zu verschaffen. Dabei bleibt das Buch aber nicht alleine auf einer theoretischen Ebene, sondern zeigt an einer Forschungsstudie auf, wie dies gehen könnte.
Aufgrund dieses doppelten Ziels ist das Buch in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil des Buches werden die theoretischen Grundlagen im Kontext von Biografie, Partizipation und Behinderung erarbeitet. Der zweite Teil des Buches präsentiert eine partizipative Forschungsstudie. Von Forschungsteams wurden vier Lebensgeschichten erhoben. Alle Texte des Buches sind auch in Leichter Sprache geschrieben worden.
Die in diesem Heft abgedruckte Lebensgeschichte von Lea Fadenlauf ist eine gekürzte Version einer Geschichte aus dem Buch. Geschichte und Bilder wurden mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt-Verlags abgedruckt. Auch die gekürzte Version (inkl. Einleitung) wurde – getreu dem Anliegen partizipativer Forschung – von Lea Fadenlauf validiert.