Zur Sprache kommen
„Auf dem Weg zur Sprache können viele Kinder nicht auf ein reiches kulturelles Kapital zurückgreifen. Aber gerade bei diesen Kindern liegen wohl die größten ungenützten Potenziale.“
Intro:
Zur Sprache kommen
30 Millionen Wörter – so viele Wörter hören manche Kinder bereits in den ersten drei Jahren mehr als andere Kinder. Das fanden US-amerikanische Forscher heraus, die Familien aus verschiedenen Milieus beobachteten.
30 Millionen Wörter – so viele Wörter hören manche Kinder bereits in den ersten drei Jahren mehr als andere Kinder. Das fanden US-amerikanische Forscher heraus, die Familien aus verschiedenen Milieus beobachteten.
Aber nicht nur die Anzahl der Wörter macht den Unterschied. In manchen Familien gibt es nur knappe, befehlsartige Sätze – „Setz dich hin, räum’s Zimmer auf, sei endlich still!“ Andere Eltern dagegen reden pausenlos mit ihren Kindern, bei der Hausarbeit, auf dem Spielplatz, beim Einkaufen. Ihre Sätze sind anspruchsvoller, werden meist mit Blicken, Gesten und Berührungen untermalt und regen die Kinder an, nach Antworten zu suchen.
Viele Kinder können auf solch ein kulturelles Kapital nicht zurückgreifen, hier liegen wohl die größten ungenutzten Potenziale. Doch um diese zu heben, braucht es eine möglichst frühe und qualifizierte Vorschulerziehung. „Herkunft bestimmt Zukunft“ – um diese Tatsache wenigsten ein wenig abzuschwächen, braucht es gerade in Brennpunktvierteln hohe Qualitätsstandards.
Claudia Osburg zeichnet die vielen Gesichter der Sprache. Sie zeigt den Weg zur Sprache auf und bietet Fördermöglichkeiten an, sobald Störungen auftreten. Sie will die Welt der Lernenden verstehen, um Kinder nicht zu beschämen und zu verletzen.
Die Einschätzung frühpädagogischer Fachkräfte reicht nicht aus, so Timm Albers Beitrag, zwischen einem Förder- und einem Therapiebedarf zu unterscheiden. Die Qualität und die Länge sprachlicher Äußerungen sind in vielen Fällen eher vom Interesse des Kindes am Gesprächspartner oder Gesprächsinhalt abhängig als von den sprachlichen Fähigkeiten, wie sie aus dem Sprachscreening hervorgehen.
Jörg Mußmann, der den Impuls für diese Nummer gab, schreibt gegen das vereinfachende Laienverständnis bei Sprachbeeinträchtigungen an: „Einfach frech“, „Das wächst sich aus“ oder „Das sind die ‚neuen‘ Medien!“. Besonders bei Sprachproblemen wird oft kein Handlungsbedarf an pädagogischer oder therapeutischer Unterstützung gesehen. Diese Problemlage verschärft sich, wenn mehrsprachige Kinder Auffälligkeiten in ihrer sprachlichen Handlungsfähigkeit zeigen.
Diese Mehrsprachigkeit schauen sich Marion Döll und Lisanne Fröhlich genauer an. Um der systematischen Schlechterstellung von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken, werden Diagnose- und Fördermaßnahmen vorgestellt.
Barbara Senckel listet in ihrem Beitrag verschiedene Perspektiven und Ansätze der Psychologie bei Verhaltensauffälligkeiten klar und präzise auf und skizziert die Folgen für ein zehnjähriges, leicht behindertes Mädchen.
Überlesen Sie bitte nicht die Stellungnahme zur „Doppelten Halbsprachigkeit“. Es ist ein Mythos, dass Kinder, die mit zwei Sprachen aufwachsen, keine der beiden Sprachen „richtig“ sprechen. Und den Essay von Wolfgang Jantzen über „Inklusion als Paradiesmetapher“, der zum Denken anregt.
Schon beim Hineinschmökern merken Sie, wie vielstimmig unsere Zeitschrift ist. Wir versuchen die oft überhörte Stimme von behinderten Menschen in ihrer Lebenswelt, die Stimme behinderter Künstlerinnen und Künstler, die Stimme des Rechts etc. zu verstärken. Eine Stimme wird in Zukunft regelmäßig an prominenter Stelle sein: Birte Müller. Der Gründungsimpuls für diese Zeitschrift, jetzt schon 38 Jahre her, kam von Eltern behinderter Kinder. Jetzt schreibt wieder eine Mutter regelmäßig für unsere Zeitschrift.
Birte Müller schildert den Alltag, in ehrlicher und herzerfrischender Art, die Höhen und Tiefen, offen und ungeschminkt, Sie werden oft schmunzeln, aber auch manchmal feuchte Augen bekommen. Und immer wieder wird die Lebensfreude siegen und das Existenzrecht jedes Menschen. „Sie spricht mir aus der Seele“, werden viele von uns nach der Lektüre ihrer Kolumne denken.
Leseproben:
Zur Sprache kommen: Wege der Integrativen Sprachförderung
Joanna winkt. Ich soll kommen. Malte schreibt mir einen Kritzelbrief. Er liest mir vor, was da steht: „Der Tag heute war toll.“ Joe ruft mich an. Er will mit mir sprechen. Lea schickt mir einen Brief. Es geht ihr gut, das freut mich. Mareike malt mir ein Kritzelbild. Sie hat an mich gedacht. Mustafa sagt mir etwas auf Türkisch. Als ich ihn fragend ansehe, übersetzt mir Ahmed, was Mustafa gesagt hat. Im Lehrerzimmer beginnt gleich die Konferenz. Sprache, in gesprochener und geschriebener Form, Sprache, gebärdet, verschlüsselt, offensichtlich, sofern man das „Kodierungssystem“ kennt…
Mit Händen sprechen
Wenn jemand die Formulierung benutzt, mein Kind „leide“ unter dem Down-Syndrom, korrigiere ich ihn in der Regel, denn mein Kind leidet nicht. Wenn einer leidet, dann eher ich, weil mein Sohn mit seinen acht Jahren nicht auf die Toilette gehen will und immer laut Blasmusik hört. Aber Willi? Der leidet nicht, außer natürlich, ich nötige ihn, auf die Toilette zu gehen oder mache seine Blasmusik leiser.
Inhalt:
Artikel | |
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Zur Sprache kommen: Wege der Integrativen Sprachförderung
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Sprachdiagnostik im Übergang vom Kindergarten in die Schule
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Was heißt hier „sprach-behindert“?
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Diagnosegestützte Sprachbildung im Kontext von Mehrsprachigkeit
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Was lässt sich da tun?
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Mit Händen sprechen
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Wie klinge ich heute?
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Was blieb von 13 Jahren Schulbildung?
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Inklusion als Paradiesmetapher?
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Euch zuliebe
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Über den Reben schweben – Rüdesheim am Rhein
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Barrieren gibt es nur in den Köpfen
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Unter Geiern
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Lücken im Gesetz beseitigen
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15 Jahre im Bett prägen ein Leben
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