Lernen unter erschwerten Bedingungen
Intro:
Lernen unter erschwerten Bedingungen
Es ist eine Freude, Kinder zu beobachten, wie sie bei jeder Gelegenheit lernen wollen. Manchmal scheint diese Begeisterung, die Welt zu entdecken, verschüttet, ja versiegt zu sein. Bei der Frage, wie Lernen wirklich funktioniert, machen sich oft einfache, triviale Vorstellungen breit, noch mehr bei Lernschwierigkeiten. Doch es sind meist individuelle, biographische Faktoren, welche die einzelnen Lernbiographien stärker beeinflussen als Intelligenz und Begabung. Jeder Mensch will – trotz mancher Hürden – lernen, wenn er die für ihn passende Gelegenheit dazu bekommt. Dafür ist unser herkömmliches Bildungssystem gerade bei Schwierigkeiten zu allgemein, zu eng, zu strukturell und berücksichtigt zu wenig die biographischen Lebenslagen.
Gotthilf G. Hiller veranschaulicht dies an Rasin, einem jungen Syrer, der sich trotz großer Anstrengungen ungerecht behandelt fühlt. Hiller weiß aufgrund seiner enormen Lebenserfahrung, dass Jugendliche auch unter schwierigen Bedingungen immer wieder für positive Überraschungen gut sind, wenn wichtige Personen an sie glauben. Sein solidarisches Eintreten für Rasin perlt aber kalt am System ab.
Nach Oliver Hechler kann Pädagogik nur als praktische Wissenschaft ihr volles Potential ausschöpfen und gesellschaftlich Geltung beanspruchen. Erst vom Individuum aus betrachtet gewinnen verschiedene Heterogenitätskategorien persönliche Bedeutung und pädagogisch-professionelle Relevanz. Kümmert euch also um die Individualität der Kinder und macht keine kausalen Kurzschlüsse wie Armut = Schulversagen!
Auch Stephan Ellinger geht in seinem Beitrag „Differenz macht dumm“ der Frage nach, wie aus sozialer Differenz, die an sich kein Lernhindernis darstellt, individuelles Schulversagen wird. Oft setzt ein unseliger Prozess ein, der die einen als dumme, die anderen als erfolgreiche Schüler entlässt. Dabei baut unser Schulsystem soziale Ungleichheit nicht nur nicht ab, sondern unterstreicht sie sogar, weil Lernen oft emotionslos bleibt und keine positive Resonanz beim Schüler erweckt.
Andreas Möckel weist darauf hin, wie Heil-Pädagogik schon frühzeitig versuchte, in Unordnung geratene Erziehung wieder in Ordnung zu bringen. Dabei ging es immer um neue Wege in der Erziehung. Die Geschichte zeigt uns auch, dass staatliches Recht zugleich Unrecht sein und Kinder verletzen kann. Wir sollten nicht aufhören, viele, schon bekannte Vorschläge so lange immer wieder vorzubringen, bis sie Gehör finden.
Ulf Algermissen arbeitet mit Lerngeschichten. Kinder werden beim Lernen und Spielen beobachtet, ihre Handlungen werden dann dicht und nachvollziehbar beschrieben und den Kindern als orientierender Impuls wiedererzählt. Dies eröffnet Wege, „mit Kindern gemeinsame Sache zu machen“.
Vieles von dem, was wir über unser Gedächtnis wissen, ist lückenhaft. Erwin Breitenbach macht uns vertraut, wie unser Gedächtnis funktioniert. Es gibt kein schlechtes oder gutes Gedächtnis, sondern nur einzelne Prozesse, die besser oder schlechter funktionieren. Und jeder benutzt seine eigenen Strategien, weil er aus Erfahrung weiß, dass er so am schnellsten lernt.
Stephan Ellinger und Pierre Walther belegen durch ihre Forschungen, dass Neurofeedback auch in schulischen Settings eine wirksame Methode darstellen kann, Aufmerksamkeit und Konzentration zu verbessern. Diesen Chancen sollte sich Schule, auch als Präventionsprogramm, nicht verschließen.
Was können Sonderpädagogen tun, dass ihre Schüler vom digitalen Klimawandel profitieren und nicht noch weiter abgehängt werden, damit beschäftigen sich Pierre Walther und Holger Wilhelm. Es gibt durchaus motivationale Faktoren und kompensatorische Maßnahmen durch digitale Medien.
Wir starten ab diesem Heft eine neue Kolumne mit Michael Wahl. Er schildert den Moment, wie aus seiner starken Sehbehinderung plötzlich Blindheit wird. Die Dunkelheit dieser Stunden wird erhellt durch das Vertrauen und den Halt, den er durch seine Freunde bekommt.
Dieses Heft kuratierte Stephan Ellinger. Er initiierte das Schwerpunktthema, motivierte Autorinnen und Autoren zum Schreiben, feilte bis zuletzt am Ergebnis, das Sie in Ihren Händen halten. Es war eine fruchtbare, bereichernde und schöne Zusammenarbeit. Sie werden es sicherlich beim Lesen bemerken.
Josef Fragner, Chefredakteur
Leseproben:
Differenz macht dumm
Soziologische Dimensionen schulischen Lernversagens
Strukturgebend ist die Frage, wie aus überindividueller Heterogenität individuelles Schulversagen wird. Regelmäßig zeigen Statistiken, dass Anderssein nach wie vor auch dann Prädiktor Nummer 1 für schulisches Lernversagen ist, wenn sich damit nicht eine Intelligenzminderung oder geistige Behinderung verbindet. Soziale Differenz stellt an sich im Lernen kein Hindernis dar, führt aber – so die These dieses Beitrags – unter bestimmten Umständen zur Benachteiligung der einen und zur Bevorzugung der anderen Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte. Am Ende eines unseligen Prozesses gelten dann die einen als dumm, schulversagend und lernbeeinträchtigt – und die anderen als erfolgreiche Lerner, Absolventen und gute Schüler.
Begegnung mit Sofie
In ihrer Serie „Begegnung mit Sofie“ zeigt Snezhana von Büdingen das Leben der mittlerweile 20 Jahren alten Sofie mit Trisomie 21. Geboren in einer deutschen Auswandererfamilie in Dänemark lebt Sofie seit acht Jahren mit ihren Eltern und ihrem Bruder auf einem kleinen Gutshof im Osten Deutschlands.
Die Newham Story: Schulische Inklusion seit den 1980er Jahren
Newham ist ein Bezirk im Londoner Osten, der 1964 aus den von der „working class“ geprägten Stadtteilen East und West Ham hervorgegangen ist (und in dem heute ca. 350.000 Personen leben). Die Labour Partei war in diesem Teil Londons traditionell sehr stark und hat sich den benachteiligten Bürgerinnen und Bürgern als besonders verpflichtet verstanden (Jordan & Goodey 2002, 12). Wichtiger Wegbereiter für Inklusion in Newham war der Warnock Report (Warnock 1978), in dem unter anderem empfohlen wurde, dass Kinder und Jugendliche mit special educational needs vorzugsweise in Mainstream Schools (Regelschulen) unterrichtet werden sollten: „This recommendation became interpreted by some parents and lobby groups as a call to end all segregation of pupils with special educational needs“ (Evans 1999, o.S.).
Vom Behalten zum Erinnern – Wie funktioniert unser Gedächtnis?
Alles Lernen ist untrennbar mit dem Gedächtnis verbunden. Lehrende und Lernende sollten deshalb möglichst gut mit der Struktur und Funktionsweise des Gedächtnisses vertraut sein, denn nur so sind sie in der Lage, Lernprozesse optimal und effektiv zu gestalten. Einem solchen an das Gedächtnis angepassten Lehren und Lernen stehen oft – nicht nur bei Laien – grundlegende Fehlannahmen im Wege, die es auszuräumen gilt.
Kommentare
Manchmal wünschte ich, ich könnte in die Köpfe der Menschen schauen. Was denken unsere Nachbarn über uns? Über das ewige laute Schreien von Willi – sei es nun aus Freude oder Unmut. Was denken sie über die ewig gleichen Anweisungen, die wir Willi zurufen? Nervt es sie so sehr wie uns manchmal?
„Ich brauche euer Mitleid nicht“
Fabian Sixtus Körner war ein Abenteurer. Jetzt ist er Vater einer Tochter mit Trisomie 21. Er hielt das für einen „Schicksalsschlag“. Ein Irrtum. Heute reisen sie gemeinsam um die Welt: Nichts wie weg aus dem verkrampften Deutschland!
Inhalt:
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Heterogenität sichtbar machen – Überindividuelle Kategorien und individuelle Ausdrucksgestalten
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Differenz macht dumm
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Pädagogisches Heilen bei sozialen Benachteiligungen
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Lerngeschichten und kooperatives Lernen
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Vom Behalten zum Erinnern – Wie funktioniert unser Gedächtnis?
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Schulisches Neurofeedbacktraining zur Verbesserung von Aufmerksamkeit und Konzentration
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Lernbeeinträchtigungen 2.0 – Überlegungen zum digitalen Wandel in der Sonderpädagogik
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Wie berufliche Schulen junge Geflüchtete abwerten
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Kommentare
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Lebenslanges Lernen?
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Begegnung mit Sofie
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Die Newham Story: Schulische Inklusion seit den 1980er Jahren
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Meine blaue Morgenstunde
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„Ich brauche euer Mitleid nicht“
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„Museumsarbeit ist auch Kompromiss"
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Auf dem Weg zu einer ganz besonderen Lehrerin
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Herr Groll am Filmteich
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