Leibdialog (Stinkes)
Erste Reflexion einer präreflexiven Erfahrung
„Anna ist sehr unruhig. Sie bewegt ihre Arme und ihre Augen von einer Seite zur anderen. Sie weint nun schon seit einigen Stunden und gibt immer wieder laute Schreie von sich. Mehrmals in der Woche gerät Anna in Situationen, die ein lautes Weinen bzw. Schreien auslösen. Für die PädagogInnen ist der Auslöser für ihr Verhalten nicht erkennbar. Also versuchen sie, durch einen Wechsel von Situationen (Personenwechsel, Lagerungswechsel, Raumwechsel, Materialwechsel) eine Veränderung in ihrem Verhalten auszulösen. Schließlich wird Anna auf das Therapiebett gelegt, damit ihr Körper eine Entlastung erfährt. Sie ist zwar noch unruhig, aber diese Unruhe nimmt ein wenig ab. Nach einer Weile liegt sie zunächst still im Bett, rasch aber weint sie wieder laut. Ihre Augen blicken fest an einen (fiktiven) Punkt an der Decke. Auf mich wirkt sie wie ‚gefangen‘ in der Situation. Anna hat eine schwere Skoliose mit Bewegungsbehinderung sowie eine Kleinhirnatrophie. Eine Schädigung der Sehnerven lassen sie ihre Welt nur noch sehr schemenhaft (dunkel – hell) erkennen.
Bevor ich meine Hand sanft und vorsichtig in Höhe ihres Zwerchfells lege, sage ich: ‚Anna, ich lege meine Hand auf deinen Bauch. Wenn du das nicht magst, dann lege ich meine Hand sofort weg.‘ Ich achte auf ihre Reaktionen und schließe selbst die Augen, versammle mich in mir und versuche, einfach jetzt hier zu sein, wo ich bin, so dass sich Stille in mir ausbreiten kann. Zunächst weint sie noch und ich sage: ‚Ja, du kannst ruhig weinen. Du hast alle Zeit dafür. Das ist ganz in Ordnung so.‘ Ich bin aufmerksam, rezeptiv (empfangend) und zugleich bei mir. Meine Haltung könnte man umschreiben als ein an Resonanz orientiertes Interesse. Damit ist eine nicht-beurteilende Aufmerksamkeit gemeint, die mit weichen Händen hilft, sich selbst körperlich bewusster zu werden. Dass meine Emotionalität sich ‚in Ruhe‘ befindet, ist nicht zu verwechseln mit einem Außerkraftsetzen der eigenen Gefühle, denn das wäre fatal. Es geht vielmehr um eine Erhöhung meiner Rezeptivität, damit ich die Rhythmen der Körperstruktur von Anna wahrnehmen und auch darauf reagieren kann.
Daher warte ich auf das, was sich zeigen will bei/von Anna. Nach einer Weile bemerke ich, dass ihre Laute beim Weinen etwas weniger laut werden und sich ihre Aufmerksamkeit auf meine Hand auf ihrem Zwerchfell richtet. Ich lege meine andere Hand unter ihren Rücken (Th 11). Es dauert nicht lange und Anna ist mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit bei meiner Berührung. Ihre Atmung wird tiefer. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meine sanfte Berührung, indem ich bei mir bleibe, damit Anna möglichst viel Raum erhält. Ich spüre, wie sich ihr Diaphragma entspannt, ihr Körper beginnt, sich nicht nur an meine Berührung zu gewöhnen, sondern ‚nachzuahmen‘: Annas Körper greift die Stille, die in meiner Berührung liegt, auf und ‚ahmt‘ sie nach: Ihr vegetatives Nervensystem beruhigt sich (lautes Gluckern). Langsam positioniere ich meine Hände auf die gleiche Weise in Höhe ihrer Leber, dann in Höhe der Milz und der Nieren. Dabei erspüre ich einerseits durch Mitempfinden den Rhythmus und die Intensität der Bewegungen der Strukturen. Andererseits ermögliche ich durch meine absichtslose Haltung ihr und mir das Betreten eines zwischenleiblichen, intersubjektiven Raumes. Denn meine Haltung ist eine Haltung der Akzeptanz der Intensität der Rhythmen der Strukturen. Es ist eine Haltung, welche an Resonanz interessiert ist, die jedoch Anna ihren Raum, ihre Art der Selbstkontrolle belässt. Anna wird zunehmend ruhiger und wirkt auf mich sehr aufmerksam auf ihren Körper bezogen, d. h. auf die Stellen, die ich berühre.
‚Jetzt nehme ich deinen Kopf in meine Hände‘, sage ich und setze mich ans Kopfende des Bettes und nehme ihren Kopf in meine Hände, die ich wie eine Schale geformt habe. Meine Fingerspitzen berühren dabei absichtsvoll die Kante des Hinterhauptbeins. Anna hat ihre Augen geschlossen; sie wirkt sehr entspannt und zufrieden. Nach einer Weile öffnet sie ihre Augen und beginnt zu lallen in einer sehr weich klingenden Weise. Ich löse meine Hände von ihrem Kopf und setze mich unmittelbar neben sie, so dass eine Hand auf ihrem Zwerchfell liegt. Dann antworte ich meinerseits mit weich klingendem und gesummtem Lallen. Daraufhin erwidert Anna mit einem veränderten gesummten Lallen, wobei sie beginnt, ein wenig zu lächeln (…)“ (Auszug aus einer Tagebuchnotiz 2016; U. St.).
Die Sprache des Körpers
Neben dem Gebrauch unserer Sprache in Worten und in Schriftzeichen gibt es einen sehr unmittelbaren, lebendigen Weg eines gemeinsamen Wahrnehmens und Erlebens: Dieser Weg geht über eine intuitive, intersubjektive körperliche Berührung, den Leibdialog. Ich habe – wie im obigen Beispiel beschrieben – eine biodynamische, kranial-orientierte Berührung mit Anna gemeinsam verwirklicht. Hier soll nicht auf die noch in der Entwicklung befindlichen Grundlagen dieser pädagogischen Arbeit eingegangen werden, der ich den Begriff „Leibdialog“ (Stinkes) gebe. Lediglich einige Aspekte werden benannt und kursorisch diskutiert.
Wir werden täglich auf vielfältige Weise berührt und berühren andere Menschen und kennen daher viele Arten der Berührung. Aber wir wissen auch davon, dass nicht jede Berührung der anderen gleicht, weil die Person, die berührt, eine Rolle spielt – ebenso die Situation, die Absicht, die Gestimmtheit und Atmosphäre, der Kontext usw. Ich beschreibe in dem Beispiel einen Leibdialog, der sich über eine Berührung entfaltet. Er hat große Ähnlichkeit mit der Qualität jener Berührungen, von denen wir uns „berührt“ fühlen, d. h. die auf eine spezifische Weise „uns selbst“ meinen. Ihr Kennzeichen ist, nichts anzuzielen, das uns ändern möchte, sondern uns auf eine Weise spiegelt, dass wir so, wie wir sind, absolut in Ordnung sind. Wir kennen solche Berührungen, denn wenn wir auf eine solche Weise berührt werden, dann ist es so, als würden wir das Gefühl haben, endlich „gesehen“ zu werden. Es ist hier also ein Berührtwerden oder Gesehenwerden gemeint, das uns unseren Raum lässt, uns nicht zu nahe tritt, aber in der Lage ist, uns intuitiv anzusprechen. Es sei unser Selbst, das sich nicht mitteilt und zur gleichen Zeit sich mitteilen und gefunden werden möchte, schreibt Winnicott (vgl. Winnicott 1985, 245). Die Berührung erhalte dann die Bedeutungen: „Du bist gemeint. Ich sehe dich. Ich lasse dir deinen Raum.“ Eindrücklich beschreibt Winnicott die Situation zwischen Mutter und Kind als ein Gesehenwerden durch den Anderen: „Wenn ich sehe und gesehen werde, so bin ich. Jetzt kann ich mir erlauben, um mich herumzublicken und zu sehen“ (Winnicott 1985, 131). In dem Gesehenwerden als eine Art schweigender Kommunikation drückt sich ein haltgebendes und widerspiegelndes Moment aus.
Wie im obigen Beispiel angedeutet, habe ich mit Anna mitempfunden, d. h. es war so für mich, als könnten Zwerchfell, Leber, Milz und Schädelknochen eine Geschichte „erzählen“. Dabei orientiere ich mich nicht an der „Geschichte“ von Läsionen, Schädigungen oder an dem, was für Anna nicht oder noch nicht möglich ist. Ich achte auf die Gesundheit und das Lösende in ihrem Körper. Gleichzeitig bleibe ich bedacht darauf, dass ich mich nicht „zu früh“ freue, dass sie beispielsweise aufhört zu weinen oder sich ihr Zwerchfell „weicher“ für mich anfühlt. Denn manchmal kann es sehr wichtig sein, dass wir Zeit und Raum erhalten, um klagen und jammern zu können, damit wir uns verstanden fühlen. Das Beklagen und Bejammern braucht seinen Raum, seine Zeit – und mehr noch: Es will erzählt werden und dafür braucht es einen „Zeugen“. Der Körper erzählt „seine Geschichte“ in Rhythmen, in Intensitäten der Bewegung der Strukturen und es ist dabei für den Berührenden wichtig, sich vom intuitiven Mitempfinden leiten zu lassen. Es ist eine „zuhörende“ und „antwortende“ Form der Berührung angezielt, die die Gewebestrukturen nicht manipulieren will. Anna wird vielmehr die Möglichkeit gegeben, den berührten Köperteil, die berührte Gewebestruktur etc. zu fühlen und diese Empfindung zu anderen Körpergefühlen und Emotionen in Verbindung zu bringen. Die Wahrnehmung von fremdem Gewebe durch unsere Hände geschieht jedoch nicht über den Tastsinn der Haut, sondern wird durch die Propriozeptoren der Hand und des Unterarms ermöglicht. Propriozeption ist eine Wahrnehmung, die in der Tiefe des eigenen Gewebes stattfindet (vgl. Fogal 2013).
Die „Ausdrucksgeschichte“ der Organe, Knochen, aller Strukturen des menschlichen Körpers, wahrzunehmen, intuitiv mitzuempfinden und in ein Antwortverhalten zu übersetzen, ist aus der osteopathisch (Liem 22014) orientierten Berührung lange bekannt, wenngleich bislang noch umstritten. Auch bei kritischer Lesart osteopathischer Grundeinsichten kann davon ausgegangen werden, dass Organe „sprechen“, dass sie etwas zu sagen haben – wenngleich wir bedenken müssen, dass weder der Körper die „größere Wahrheit“ über den Menschen, der berührt wird, aussagt, noch dass wir leichthin – d. h. ohne Differenzen zu erkennen – von der „Sprache“ des Leibes reden könnten. Die Fremdheit des Anderen, die eine Anonymität des eigenen Erlebens bedeutet, eine nicht einzuholende Fremdheit meiner selbst mitbegründet, kann sowenig übersprungen werden wie die Formierungsprozesse (bspw. Sichtweisen der anderen, Biografie, Gewordenheiten, zum Habitus gewordene Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen etc.), denen der Körper immer auch ausgesetzt ist.
Trotz vieler Einwände: Zu verstehen, dass wir ein intuitives Mitempfinden besitzen und daher in der Lage sind, intersubjektiven Austausch von Bedeutungen und emotional bedeutsamen „Geschichten“ der Organe zu „lesen“, weil wir über eine vorgeburtliche Intersubjektivität verfügen, erachte ich für die pädagogische Arbeit mit Menschen, die auf Unterstützung ihrer Selbstwahrnehmung angewiesen sind, für zentral.
Wir können fühlen, ob das Gewebe, das berührt wird, sich hart oder weich anfühlt, ob Knochenbewegungen sich weiten und/oder engen, ob sie sich fließend oder starr anfühlen oder aber angespannt oder locker etc. In jedem Fall haben Zellen, Knochen und Organe Rhythmen (schnell und langsam), eine Bewegung (weit und eng; Schmitz 2007) und sie drücken sich auf diese Weise aus (vgl. Schmitz 2007).
Wir drücken uns mit unserer Stimme, unserem Gesicht, den Händen, mit dem ganzen Körper aus. Zugleich steht unser Körper in einem unauflösbaren Resonanzverhältnis zum anderen Menschen und zur umgebenden Welt. Die Intentionen und Gefühle, die wir in Situationen mit anderen Menschen erleben oder mitempfinden, erzeugen daher auch Sinn und Bedeutung. Das Mitempfinden geschieht in körperlicher Weise und ist uns durch unsere existenzielle Responsivität oder Resonanzfähigkeit angeboren. Es muss aber eine Art „Bereitschaft“ zum „Erzählen“ wie zum „Zuhören“ geben, d. h. ein emotionales Aufeinandereingehen. Dass Anna sich mitteilt und auf meine Berührung antwortet, zeigt sich an der Reaktion ihres vegetativen Nervensystems.
Nagy hat mit Hilfe der Aufzeichnung der Herzschlagrate bei Neugeborenen bewiesen, dass diese emotional reziprok die Intentionen und Zuwendungen des Partners erwiderten und auch auf einen Verlust verlässlicher sympathetischer Antworten von Seiten des Erwachsenen reagierten (Nagy 2008, in Trevarthen 2010, 98). Sie spricht daher von innate intersubjectivity (Nagy 2008). Anna befindet sich in einem Leibdialog mit mir, weil sie durch ihre körperlichen Resonanzen (vegetative Reaktionen, Weichwerden des Gewebes bei der Berührung, Verändern der Geweberhythmen) sich meinem Körperrhythmus beginnt anzugleichen bzw. ihren zu „zeigen“, bereit ist. Diesen nehme ich auf und das bedeutet, ich empfinde diese Rhythmen und Gewebezustandsveränderungen dort, wo meine Hände sich befinden. Stern (42000) beschreibt eindrücklich, dass die grundlegenden Rhythmen von Kindern und Erwachsenen zueinander passen, d. h. sie können Dialoge führen, die den Ausdruck des Anderen wechselseitig vorwegnehmen und sich mit Äußerungen und Gesten aufeinander „einstimmen“. Trevarthen (2010) spricht in Bezug zur variantenreichen Kommunikation zwischen Mutter und Kind von so genannten „Protokonversationen“, wobei durch diese ein Repertoire kommunikativer Motive aufgebaut werde, das sich als Wiederholung, Variation von Gesten etc. zeige.
Es ist aus meiner Sicht daher zentral, dass ein Verstehen auf der Ebene der Körpersprache so etwas wie eine „gemeinsame Erzählung“ ermöglicht.
Auch wenn Trevarthen eine Fülle von Studien heranzieht, die sich schwerpunktmäßig auf den gestischen, mimischen und lautlichen Ausdruck von Mutter und Kind beziehen und nicht auf die Berührung, so bleibt das Bedeutsame aus meiner Sicht, dass im wechselseitigen Austausch ein „Gefühl der Zugehörigkeit“ zwischen Mutter und Kind erzeugt wird. Das Gefühl des Zugehörigfühlens oder des Vertrauens wäre dabei von einer „Zone der Improvisation“ umwoben (Trevarthen 2010, 105), in der etwas Gemeinsames geteilt werden kann. Etwas gemeinsam in und durch eine berührende Berührung zu teilen, fördert ein Gefühl der Zugehörigkeit. Das, was geteilt wird, spielt sich in einem Art „Zwischenraum“ ab, der in der Literatur als „Zwischenleiblichkeit“ oder aber als ein Teilen von „innerer Zeit“ (Trevarthen 2010), von Rhythmen beschrieben wird. Frank u. a. (2011) erläutern, dass bereits intrauterin der Fötus mit der Mutter durch affektgenerierte Bewegungen oder Lageveränderungen kommuniziert. Ähnliches beschreiben phänomenologisch orientierte Mediziner wie Blechschmidt, van der Wal, Rohen u. a. (s. u.). Der intersubjektive Austausch von Bedeutungen und emotional bedeutsamen Narrativen stelle sich (nachgeburtlich) zwischen den Subjekten (Kind und Mutter) über ein gemeinsames (!) inneres Referenzobjekt her: das jeweilige, aber miteinander verbundene psychophysiologische Körperselbst (vgl. Frank u. a. 2011, 78). Der Prozess des Mitempfindens der Dynamik von Körperbewegungen, der gemeinsame Bezug auf diese Körperbewegungen, Rhythmen, Zustandsänderungen usw. ist grundlegend, damit das Kind sich selbst wahrnehmen und vor allem einen Bezug auf ein Drittes (Referenzobjekt psychophysiologische Körperlichkeit) freudig aufgreifen kann.
Das, was bedeutsam ist und wird, ist nicht „im“ Körper von Anna oder/und in meinem Körper, denn dann gäbe es nichts zu teilen. Teilen heißt hier ein Sein mit Anderen, ein Zusammensein in der Zeit, in einem gemeinsamen Raum unter Bezug auf einen „Gegenstand“, d. h. ein Referenzobjekt. Dieses kann der Rhythmus, die Stille, Anspannung, Entspannung von körperlichen Strukturen etc. sein. Darauf „einzugehen“ bzw. darauf zu antworten, impliziert von Seiten desjenigen, der berührt, ein „Hören“ der Rhythmen, An- oder Entspannungen. Dadurch erfährt das Kind Bedeutsamkeit, ein Gesehenwerden, das es ihm ermöglicht, seine Sprache des Körpers zu empfinden. Es kann sich einlassen auf das Betreten eines intersubjektiv gestalteten Raumes, in welchem sich eine Sprache der Rhythmen und Bewegungen, der dynamischen Stille und des Pulsierens, der An- und Entspannung„ der gemeinsam geteilten Zeit, ausdrücken und gestalten kann.
Der Vorteil einer einfachen, aber bedeutsamen Berührung ist, dass die berührte Person die Aufmerksamkeit auf sich richten kann. Sie kann sich selbst wahrnehmen. Fogal (2013) bezeichnet dies als „verkörperte Selbstwahrnehmung“ und damit als einen Vorläufer zur begrifflichen Selbstwahrnehmung. Aus Annas Perspektive hieße dies: „Wenn ich mich selbst spüren kann, kann ich dazulernen.“
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass wir davon ausgehen, dass viele Kinder und Jugendliche mit schwerer Behinderung traumatisiert sind (Jantzen). Dann brauchen diese Kinder und Jugendliche zumindest am Anfang des Leibdialogs keine sanften Berührungen, sondern deutliche, feste Berührungen, um sich selbst wahrzunehmen. Sanfte Berührungen können eine Verschlimmerung ihres Verhältnisses zu sich und der Welt auslösen. Sie benötigen klare, deutliche Berührungen an ihren Körpergrenzen. Das Spektrum kann dann von keiner Berührung bis hin zu einer deutlichen, klar geführten Berührung reichen. Ganz anders jedoch sehen die Dinge aus, wenn das Kind sexueller Gewalt ausgesetzt war. Dann würde die Berührung das Kind u. U. an die übergriffige Situation erinnern und erneut traumatisieren.
Vorgeburtlicher Ursprung des Dialogs (innate intersubjectivity)
Wieso können wir von einem intuitiven Mitempfinden von Zuständen – seien sie organischer oder psychischer Art – des Anderen ausgehen? Warum ist ein intersubjektiver Austausch von emotional Bedeutsamem überhaupt möglich?
Theoretische Positionen wie die Leibphänomenologie von Merleau-Ponty (1976; 1966/1974) oder die Position des Mediziners Fuchs (2000), die Konzeption von Schmitz (2007) in der Weiterentwicklung des Ansatzes von Merleau-Ponty, gehen ebenfalls von einem existenziellen, intersubjektiven und responsiven (antwortenden) Verhältnis aus, das wir zu uns und der Welt unterhalten. Bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen wird von einem Resonanzkörper ausgegangen. In neuerer Zeit hat der Psychologe Colwyn Trevarthen (vgl. Trevarthen 2010)1 den Zusammenhang von Emotion und vorsprachlicher Entwicklung untersucht und mit dem Konzept der Spiegelmechanismen und dem Konzept der psychobiologischen Dyade aufgezeigt, dass die Spiegelung von Emotionen der wesentliche Organisator der Entwicklung des Kindes sei. Mutter und Kind spiegelten jedoch nicht primär die motorischen Handlungen des jeweils Anderen, sondern deren emotionale Zustände. Als Ursache vermutet Trevarthen ein angeborenes neurobiologisches System, das er als IMF (intrinsic motive formation) und EMS (emotional motor system) bezeichnet. Er geht von einer pränatalen Anlage eines sozialen Ichs aus, das den intersubjektiven emotionalen Austausch mit Bezugspersonen braucht (!), ihn erwartet und auch von ihm abhängig ist.
Aus einer phänomenologischen Perspektive haben die Mediziner Blechschmidt (1978) bzw. in neuerer Zeit die Embryologen Jaap van der Wal, Guus van der Bie (2005) und Rohen (32016) dargelegt, dass der pränatale menschliche Organismus als ein System aufzufassen ist, in dem Organe bzw. Strukturen in einem Verhältnis der Beeinflussung und Abhängigkeit stehen und dass aufgrund der systemischen Organisation des Ganzen ein zirkuläres Modell der Differenzierung der Organe und Strukturen vorstellbar ist. Die Entwicklung findet nach Blechschmidt (1978) durch dynamische Interaktionsprozesse (Resonanzen) zwischen dem Organismus der Mutter und dem Embryo statt. Der Organismus wird stets verstanden als ein Systemgefüge, in dem Geschehnisse wie Stoffwechselvorgänge, Lage- und Formänderungen in einem Austauschverhältnis sensibel ineinander greifen.
Anna konnte durch den Leibdialog (Stinkes) eine geteilte Aufmerksamkeit erfahren, die auf einer sympathetisch-mitempfindenden Möglichkeit von mir beruht. Das Aufeinanderbeziehen auf etwas (psychophysiologisches Körperselbst) habe ich dann als ihr Bedürfnis empfunden. Sie hat erfahren, dass man ihr Jammern und Weinen „sieht“, ihre innere Zeit, Bewegung und Rhythmen (hier: Körperstrukturen) teilt und sie hat bemerkt, dass ich ihre Körperstrukturen emotional berühre. Sie hatte Gelegenheit, mir ihre Stimmung, ihre Gefühlslage und ihre Motive mitzuteilen und sie mit mir zu teilen. Weil wir in Form eines Leibdialogs einen gemeinsamen Raum wechselseitiger Resonanz betreten und gestaltet haben, haben wir Sinn gestiftet. So kühn ist es gar nicht, in diesem Zusammenhang von Sinn zu sprechen, denn ich bin intuitiv und emotional auf das (unterstellte) Motiv oder Bedürfnis von Anna eingegangen. Und Motive haben „(…) eine Vergangenheit als Bedürfnisse, die in die Gegenwart ragen, und sie ragen selbst aus der Gegenwart in die Zukunft, zielen auf das bedürfnisrelevante, mögliche Resultat meiner Handlung, das Wirklichkeit werden könnte und sollte“ (Jantzen 2008, 344).
Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir in unserem Dasein ein Sein für den Anderen sind. Und das hat damit zu tun, dass wir Gelegenheiten erhalten, mitzuteilen, was und wer wir sind und darauf hoffen dürfen, „anders gelesen zu werden“ (Simone Weil), damit wir die Einsamkeit, die Isolation, das Schweigen durchbrechen können.
Literatur
Blechschmidt, E. (1978): Anatomie und Ontogenese des Menschen. Heidelberg.
Blechschmidt, E. (1982): Sein und Werden. Stuttgart.
Fogal, A. (2013): Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körperpsychotherapie. Stuttgart.
Frank, B., Lüdtke, U., Gratier, M. (2011): Frühe emotionale und kommunikative Entwicklung. In: Dederich, M., Jantzen, W. & Walthes, R. (Hg.): Sinne, Körper und Bewegung – Behinderung, Bildung und Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Stuttgart, 71–81.
Fuchs, Th. (2000): Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart.
Jantzen, W. (2002): Gewalt ist der verborgene Kern von geistiger Behinderung. URL: http://www.basaglia.de/Artikel/Olten%202002.htm (Entnahmedatum: 30.10.2016).
Jantzen, W. (2008): In welcher Weise können und sollen die Neurowissenschaften für die Entwicklung der Pädagogik Bedeutung haben? In: Behindertenpädagogik, 2008, 47, 341–361.
Jantzen, W. (1999): Rehistorisierung. Zu Theorie und Praxis verstehender Diagnostik bei geistig behinderten Menschen. URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh6-99-rehistorisierung.html (Entnahmedatum: 10.01.2016).
Liem, Th. (22014): Morphodynamik in der Osteopathie. Grundlagen und Anwendung am Beispiel der kranialen Sphäre. Stuttgart.
Merleau-Ponty, M. (1976): Die Struktur des Verhaltens. Übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Bernhard Waldenfels. Berlin, New York.
Merleau-Ponty, M. (1966/1974): Phänomenologie der Wahrnehmung. Übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Rudolf Boehm. Berlin.
Nagy, E. (2008): Innate intersubjectivity: Newborns“ sensitivity to communication disturbance. In: Developmental Psychology, 44, 1779–1784.
Rohen, J. W. (32016): Morphologie des menschlichen Organismus. Berlin.
Schmitz, H. (2007): Der Leib, der Raum und die Gefühle. Bielefeld, Locarno.
Stern, D. N. (42000): Mutter und Kind. Die erste Beziehung. Stuttgart.
Stern, D. N. (132004): Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt. München.
Stinkes, U. (in Vorbereitung): Leibdialog. Grundlagen einer responsiven Pädagogik.
Trevarthen, C. (2010): Intersubjektivität und Kommunikation. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hg.): Sprache und Kommunikation. In: Dederich, M, Jantzen, W. (2010) (Hg.): Behinderung, Bildung und Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik, Bd. 8, Stuttgart, 82–157.
Van der Wal, J. & van der Bie, G. (2005): Grundzüge einer phänomenologischen Embryologie. In: Krens, I., Krens, H. (Hg.): Grundlagen einer vorgeburtlichen Psychologie. Göttingen, 34–67.
Winnicott, D. W. (1985): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart.
Fußnote
1 Ich danke hier meinem Kollegen Wolfgang Jantzen, der mich auf die Ergebnisse von C. Trevarthen hingewiesen hat.
Ursula Stinkes
Prof. Dr.
Schwerpunkte in Forschung und Lehre:
Leibphänomenologische Theorie geistiger Entwicklung; Konzepte zur Arbeit mit dem Körper, der Körpersprache und der Körpererinnerung/schwere Behinderung; Anthropologische und ethische Fragen zur Konditionalität menschlicher Existenz; Bildung von Kindern und Jugendlichen mit (schwerer) geistiger Behinderung; Möglichkeiten integrativer Beschulung und Chancen/Grenzen der Vision von Inklusion.
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
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