Surfen mit Behinderung
Jens packt den Gabelbaum und stemmt sich kräftig gegen den Wind. Mit einer harten Bewegung zieht er das Segel zu sich heran. „Da ist ganz schön viel Power drin.“ Stärke sechs dürfte heute an der Ostsee herrschen – deutlich mehr als angesagt. Die Wellen rollen nicht hoch, aber in kurzen Abständen an den Strand von Großenbrode. Der Wind ist auflandig. „Du musst den Druckpunkt im Segel spüren. Du kannst es waagerecht drehen“, erklärt die ehrenamtliche Helferin Sabine. Sie macht die Bewegungen vor. „Du kannst es aber auch kippen.“
Hinter den beiden lässt ein kleiner Junge einen Drachen in den blauen Himmel über dem Seebad steigen. Zwei Mädchen bauen eine Sandburg. Sonnenhungrige lümmeln auf Badetüchern und Liegestühlen. Im Ortszentrum erheben sich Siebziger-Jahre-Hotelbauten über Standkorbreihen. Eine Gruppe junger Surfer packt seine Bretter und lässt sie ins Wasser gleiten.
Jens trägt einen schwarzblauen Neoprenanzug und einen grauen Sonnenhut. Er hat sich dick mit Sonnencreme eingeschmiert. Schon aus der Distanz wirkt er in der lockeren Urlaubsstimmung auf dem südlichen Strandabschnitt von Großenbrode auffällig. Seine Haltung ist schräg, seine Bewegungen sind wackelig, manchmal kantig. Und wer seine Trockenübungen genauer beobachtet, erkennt, dass er mit der gesunden Linken den Gabelbaum hält – aber statt der rechten Hand die Ellenbeuge benutzt, um das Segel zu halten und umzugreifen. Sein rechter Arm und seine rechte Hand sind schmal und schwer beweglich. Nicht geeignet für feine Koordination. Doch das tut weder seiner Motivation noch seinem trockenen Humor Abbruch: „Wir können hier an Land so viel üben wie nötig“, sagt er zu Sabine und grinst über die von der Sonne roten Wangen. „Reinfallen tu ich im Wasser sowieso.“
Behindert – na und?
Nach Jens ist Astrid an der Reihe. Domenico, ein weiterer ehrenamtlicher Helfer, bringt auch ihr bei, wie man in T-Stellung das Segel aufholt, wie man es hält, wie man umgreift. Äußerlich wirkt die junge Frau mit dem türkisfarbenen Kopftuch in den blonden Haaren anders als Jens, völlig unversehrt. Doch was sie verbindet, ist: Beide sind behindert. Jens Köther, 47, aus Lilienthal bei Bremen, hat eine halbseitige Lähmung infolge einer Schädelverletzung. Bein und Arm, aber auch Auge und Sehzentrum sind betroffen. Astrid Spohr, 28, aus Fahrenkrog bei Segeberg, ist seit ihrer Geburt ebenfalls halbseitig gelähmt und Epileptikerin.
Die beiden Surfschüler setzen sich im Aufenthaltsraum der Wassersportschule „Sailaway“ an einen langen Esstisch, um eine Pause zu machen. An den Wänden hängen Neoprenanzüge. In den Metallregalen stapeln sich Segel. In den unteren Fächern stehen Ketchup- und Senfflaschen vor einer Mikrowelle und einer Kochplatte. Durch den Eingang der aus Holz gebauten Halle hört man das Meer branden.
Innovative Wassersportschule
Tobias, der Chef der Wassersportschule, kommt aus seinem halboffenen Arbeitsbereich an den Tisch, eine Selbstgedrehte im Mund. „Bei uns lernen Menschen mit Behinderung Surfen, Kajak-Fahren, Segeln und Stand-up-Paddeln“, sagt er. Die Idee zu seinem Unternehmen hat er bereits vor 30 Jahren gehabt. Bei einem nächtlichen Surfausflug in Florida habe er festgestellt, dass er am erfolgreichsten ist, wenn er die Augen schließe. Daraufhin bot der heute 53-Jährige an der Uni blinden Menschen an, ihnen den Sport beizubringen. Mit überraschendem Ergebnis: „Die haben schneller gelernt als Menschen ohne Behinderung. Weil sie sich auf ihr Gefühl verlassen.“
Astrid lehnt sich entspannt in ihrem Stuhl zurück und schlägt die Beine übereinander. Helferin Sabine schiebt Jens zwischen Brötchentüten und Plastiktellern ein Buch über die Tischplatte zu. „Segelknoten“ steht darauf. Auch Theorie gehört beim Surfenlernen dazu. Jens beugt sich konzentriert nach vorn. Er erklärt: „Das hier ist der Achtknoten, das hier der Kreuzknoten.“ Beim Palsteg muss er sich mit der gesunden Linken das Tau in die schwache Rechte legen. „Wie heißt der hier?“, fragt Sabine. „Der heißt, der heißt …“ Er blickt kurz in die Runde. „Habe ich vergessen.“ Dann zieht er den Knoten zusammen. Jens ist schwerbehindert – doch wie jeder Mensch hat er Vorlieben. Was hat ihn dazu bewegt, ausgerechnet Surfen zu lernen?
„Ich mag einfach das Wasser“
Er kratzt sich grüblerisch am Hutsaum. Der Ansatz seiner Halbglatze wird sichtbar. „Ich mag einfach das Wasser. Aber ich hab ja schon alles gemacht. Früher bin ich Motorboot gefahren, mit ein paar Helfern. Auch gesegelt. Dann hatte ich mal Lust zu surfen. Ich habe im Internet geguckt und das hier gefunden. Also bin ich hergekommen.“ Es sei sein Sommerurlaub, sagt Jens, er arbeite in Lilienthal in einer Tischlerwerkstatt. Jetzt ist er den vierten Tag in Großenbrode. „Bisher habe ich nur Trockenübungen gemacht.“
Anders als Jens hat Astrid keine spezifischen Vorkenntnisse. Zuhause führe sie mit den Eltern einen landwirtschaftlichen Betrieb, betont sie, setzt sich aufrecht in dem Bürostuhl hin und streicht sich eine blonde Strähne aus der Stirn: „Den übernehme ich in ein paar Jahren.“ Im Sommer wollte sie surfen lernen. „Aber es gab kaum irgendwo eine Möglichkeit für behinderte Menschen. Außer hier.“ Das findet sie absurd: „Keiner will die Verantwortung übernehmen, wenn ich mitten im Training einen epileptischen Anfall bekomme.“ Aber die Anfälle seien weniger ein Problem als man denkt. „Eher die Schwierigkeit, das Gleichgewicht zu halten.“ Aber genau das ist doch Herausforderung beim Surfen? „Genau.“ Sie lacht selbstbewusst.
Es wird fleißig geübt
Statt wie geplant auf der Ostsee üben Astrid und Jens wegen des starken Winds jetzt auf dem sogenannten Binnensee. Er ist durch eine Mole vom offenen Meer geschützt. In einem Café genießen Urlauber Eis und trinken Bier. Segelboote liegen auf der Nordseite an Holzstegen. Gelegentlich klackert ein Seil in der Brise gegen einen Mast. Die Wasseroberfläche ist fast glatt. „Langsam, einen Schritt nach dem anderen“. Tobias dirigiert Astrid geduldig auf das Surfboard, ein Nash CR 250. Er hält ihre Hand. „Du stehst zu sehr auf der Hacke. Und du musst das Zentrum des Bretts suchen.“ Immer wieder klettert sie hinauf. Und immer wieder fällt sie ins Wasser. Doch sie lacht nur und prustet. Zieht sich unermüdlich wieder hoch. Und wird immer sicherer.
Jens stürzt seltener in das flache Wasser des Binnensees, denn er wird von zwei Helfern gehalten. Gemeinsam mit Sabine und Domenico übt er, die Balance zu halten. „Jetzt dreh dich mal langsam um“, ruft Sabine, als er auf dem Brett steht. Jens macht wackelige Bewegungen – aber er folgt unbeirrt der Anweisung. „Ich bin ein Mädchen, gib mir deine Hand“, ruft er in der Drehbewegung scherzhaft zu Domenico.
Die ersten Erfolge
Astrid und Tobias üben jetzt den Schotstart. Mit aller Energie versucht sie, das Rigg aus dem Wasser zu ziehen. Sie fällt einmal hinein, ein zweites Mal. Aber beim dritten Versuch steht sie. Kraftvoll nimmt sie das Segel näher an die Brust – und fährt einfach los. „Du stehst allein“, freut sich Tobias. „Ganz allein!“ Und Astrid, die blutige Surf-Anfängerin, ist nicht zu bremsen. Sie nimmt Fahrt auf und segelt – noch etwas gebückt, aber sicher stehend, in Richtung Festland über den Binnensee. Tobias muss an Land springen und den Außenborder eines Schlauchboots anschmeißen, um ihr hinterher zu eilen.
Unterdessen hat auch Jens Erfolg. Er hat das Segel am Startschot zu sich herangezogen. Jetzt umfasst er den Gabelbaum erst mit der gesunden Linken, dann mit der Ellenbeuge der halbgelähmten Linken. Noch einmal schwankt er bedenklich nach vorn. Aber dann greift ein leichter Wind in das Segel. Er richtet sich auf und – und fährt. Sabine reißt jubelnd die Arme hoch. Ein breites Lachen liegt auf Jens‘ Gesicht. 50, 100 Meter steht er freudestrahlend und kerzengerade auf dem Brett. Erst kurz vor der nahen Mole lässt er sich rücklings ins Wasser plumpsen.
„Danke“, ruft er, als er wieder auftaucht, „danke. Ihr seid die Besten!“ Und fingert auf der Wasseroberfläche nach seiner Mütze, die ihm vom Kopf gefallen ist. „Nee, nee“, erwidert Sabine. Sie fischt die Kopfbedeckung aus dem Salzwasser. „Du bist der Beste. Du überraschst mich immer wieder!“
Tränen der Ergriffenheit
Tobias legt mit Astrid im Schlepptau an der Mole an. „Ich könnte immer wieder Tränen der Ergriffenheit weinen“, sagt der Leiter der Surfschule. „Das ist das Schöne an dieser Arbeit.“ Es müsse eine Selbstverständlichkeit werden, dass behinderte Menschen auf dem Wasser Sport treiben. „Sie können ja alles. Wenn auch mit kleinen Hilfen.“ Eine halbe Stunde später sitzt Jens im Umkleideraum der Wassersportschule. Er hat eine heiße Dusche genommen. Die Mütze trocknet draußen auf einer Bank in der Sonne. „Ich habe gekämpft wie ein Tier“, sagt er. „Das ist der beste Urlaub meines Lebens“