Was ich daraus gemacht habe / Foto: David Strenzler (Kathrin Lemler sitzt zufrieden lächelnd in ihrem Rollstuhl)

Foto: David Strenzler
aus Heft 3/2016 – Aus meinem Leben
Kathrin Lemler

Was ich daraus gemacht habe – Unterstützte Kommunikation im Alltag

Es ist 7.47 Uhr. Ich liege in meinem Bett in meiner eigenen kleinen Wohnung. Unruhig bewege ich mich hin und her. Ich träume. Langsam wache ich auf. Was war das für ein gruseliger Albtraum? Hätte wohl so mein Leben ausgesehen, wenn mir die Mittel von Unterstützter Kommunikation (UK) nicht zur Verfügung gestanden wären?
Was wäre wohl gewesen, wenn meine Mutter nicht von Anfang an von der Tatsache überzeugt gewesen wäre, ihre Tochter könne kommunizieren? Was wäre wohl gewesen, wenn ich nicht immer wieder Menschen getroffen hätte, die mit unendlicher Geduld für mich nach individuellen Lösungen gesucht hätten? Und was wäre wohl gewesen, wenn ich irgendwann frustriert aufgegeben und nicht diesen verdammten Dickschädel gehabt hätte? Nun ja, ich wäre wohl wirklich im Bällchenbad versunken. Zum Glück bleibt es aber ein schrecklicher Albtraum!

Über die Augen steuern

Aus dem Nebenzimmer erklingen Geräusche. Meine Assistentin schiebt gerade das Schlafsofa zusammen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es auch für mich gleich Zeit zum Aufstehen ist. Um 8.33 Uhr sitze ich in meinem Wohnzimmer. Tobii – meine Augensteuerung – ist bereits hoch gefahren, sodass ich sofort loslegen kann. Ich kann es nämlich überhaupt nicht leiden, wenn ich Tobii beim Hochfahren zusehen muss. Was hätte ich alles schon längst erledigen können, wenn dieses Gerät nur halb so schnell wäre wie ich selbst? Wenn Tobii aber schon gestartet wurde, kann ich – während meine Assistentin mein Frühstück richtet – schon meine Mails checken, gucken, was es auf Facebook Neues gibt und die Stelle in der Hausarbeit ändern, zu der mir in der Nacht noch eine Formulierung eingefallen ist. Als mir meine Assistentin nun den Kaffee auf den Tisch stellt, strahle ich sie glücklich an. Ich bin froh darüber, schon etwas geschafft zu haben. Inzwischen ist es 8.46 Uhr. Während meine Assistentin mir den Kaffee reicht, werden E-Mails beantwortet. Heute Morgen ist es mal wieder eine Anfrage einer Mutter. Sie möchte von mir wissen, welche Augensteuerung für ihre kleine Tochter am besten ist. Ich seufze und erkläre ihr, dass eine Ferndiagnose unmöglich sei. Dann verweise ich sie an eine Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation. Gleichzeitig verabrede ich mich noch schnell per SMS mit einer guten Freundin zum Mittagessen in der Mensa.

Um 9.32 Uhr schreckt mich meine Haustürklingel auf. Jetzt wechseln die Assistenten. Meistens kommt tagsüber mein Hauptassistent David, der eine volle Stelle bei mir hat. Mit nur einem kurzen Blick verabschiede ich mich und begrüße den frischen Assistenten mit einem Quieken. Das signalisiert immer: Ich bin voller Tatendrang. Lass uns sofort anfangen, jetzt, auf der Stelle! Wohl oder übel muss ich den Assistenten noch die Jacke ausziehen lassen, bevor ich ihm mein Kapitel der Hausarbeit zeigen kann, das ich am Wochenende erarbeitet habe. Er verdreht nur die Augen und fragt mich: „War dir wieder mal langweilig?“ Ich grinse nur. Nichts-Tun ist halt nicht mein Ding.

Als wir um 9.47 Uhr gerade noch die Straßenbahn erwischen, löst sich die Halterung meines Sprachcomputers – und das sehr plötzlich. Die Infrarotkamera des Tobii knallt gegen mein Knie und eine Tonfolge verrät, dass die Kamera die Verbindung zum PC verloren hat. Während ich innerlich die wildesten Flüche ausstoße, schraubt mein Assistent die Halterung wieder fest und startet Tobii neu. Um 9.56 Uhr erreiche ich die Grundschule in Köln-Godorf. 

Projekte im Team

Diese Grundschule hat vor einiger Zeit ein Mädchen mit Cerebralparese aufgenommen, das seit Kurzem mit einer Augensteuerung versorgt ist. Seit Mai begleite ich Jana – einmal pro Woche. Dies geschieht im Rahmen eines Projektes von ISAAC, der Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation. Im sogenannten UK-Scout-Projekt gehen drei erwachsene Menschen ohne Lautsprache an verschiedene Schulen und unterstützen dort Kinder, die auch über Hilfsmittel sprechen. In diesem Projekt übernehme ich keineswegs die Rolle einer Förderlehrerin, die mit Jana einmal pro Woche UK trainiert. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass Menschen nur wirklich von UK profitieren, wenn diese alternativen Kommunikationsmethoden gerade für ihren Alltag einen Mehrwert haben. Sie müssen die Methoden der UK möglichst immer und überall zur Verfügung haben. Aus diesem Grund ist es mir in der Projektarbeit sehr wichtig, alle im Team mit einzubeziehen. Lehrer, Eltern, Therapeuten unter einen Hut zu bekommen, sich auf gemeinsame Förderziele zu einigen und diese auch durchzuhalten, ist zwar manchmal eine echte Herausforderung. Aber durch den Einbezug aller in die UK-Förderung sehe ich die Möglichkeit, dass der Computer für Jana eines Tages zu ihrer Stimme wird.

Für heute habe ich mir vorgenommen, gemeinsam mit Jana, ihrer Assistentin, und ihrer Förderlehrerin an einer besseren Positionierung ihrer Augensteuerung zu arbeiten. Als ich in den Klassenraum komme, strahlt Jana übers ganze Gesicht. Nach der Begrüßung erkläre ich ihr, ich wolle heute probieren, dass sie leichter auf ihren Computer schauen kann. Jana macht ein gelangweiltes Gesicht. Logisch, das klingt nicht gerade spannend für eine Siebenjährige. Also versuche ich es noch einmal: „Wir bauen dir jetzt einen Thron, dann bist du eine richtige Prinzessin.“ Jana hebt mühsam ihren Kopf und grinst mich an. Im Vorhinein habe ich mir von meinen Physiotherapeuten einige Tipps geben lassen, wie Jana ihren Kopf leichter halten kann. Ich gebe meinem Assistenten einige Anweisungen. Wir probieren ein wenig aus. Nach ungefähr einer halben Stunde bin ich mit dem Ergebnis zufrieden. Auch Jana scheint die neue Position zu gefallen, denn sie wählt spontan mit ihrer Augensteuerung das Symbol „Cool“ aus.

Forschung, Beratung, Lehre

Um 12.09 Uhr sitzen wir wieder in der Straßenbahn in Richtung Universität. Ich gluckse zufrieden. Mein Assistent und ich tauschen uns kurz aus, denn ich muss später noch ein Protokoll über diese Sitzung verfassen – ich möchte über Janas Entwicklung meine Bachelor-Arbeit schreiben und dies erfordert eine präzise Dokumentation. Unsere lebhafte Diskussion zieht, wie so oft, die Blicke der anderen Fahrgäste an. Bei Fremden führt es zu Irritationen, wenn sie merken, dass aus mir tatsächlich grammatikalisch richtige und vollständige Sätze heraus kommen. Plötzlich steht meine Freundin neben mir in der Straßenbahn. Wir knuddeln uns. Sie erzählt mir, dass sie wieder einmal viel zu spät dran sei und schon um 13.00 Uhr im Büro sein müsse. Ich schmunzle bloß: Wie ähnlich wir uns doch sind! Gegen 12.20 Uhr setzen wir uns zu dritt in unserer kleinen und sehr leckeren Mensa an den Tisch. Leider gibt es heute nur Reis. Da ich wenig Lust habe, mich zu verschlucken, entscheide ich mich bloß für den Nachtisch. Als mein Assistent mir einen Schokoladenpudding bringt, leuchten meine Augen. Meine Freundin lacht los: „Ach, Püppi, es ist so herzig, wie du dich über die kleinen Dinge im Leben freuen kannst.“ Bevor meine Freundin abrauscht, verabreden wir uns noch für den Abend zu einem Kneipenkonzert. Als wir um 13.12 Uhr gerade die Mensa verlassen, fährt sich Tobii herunter. Sein Akku ist leer. Der zweite Akku-Satz liegt natürlich zu Hause. Naja, Hauptsache meine eigenen Akkus machen nicht schlapp. Um 13.24 Uhr klopfen wir an die Tür des Forschungs- und Beratungszentrums für Unterstützte Kommunikation (fbzuk) – einer Einrichtung der Universität zu Köln. Es möchte in den drei Bereichen Forschung, Beratung und Lehre Wissen über Unterstützte Kommunikation verbreiten. Seit etwa einem Jahr arbeite ich dort neben meinem Studium als Praktikantin. 

Dieses Kind hat es drauf!

Heute wird eine Familie mit einem Mädchen mit Rett-Syndrom zur Beratung kommen. Von der Mitarbeiterin des Beratungszentrums erfahre ich jetzt, dass das Mädchen erst zwei Jahre alt ist. Ich strahle. Die Kinder, die zu uns in die Beratung kommen, werden immer jünger. Das freut mich sehr, denn je früher Kinder mit Unterstützter Kommunikation beginnen, desto mehr Möglichkeiten ergeben sich für ihre Sprachentwicklung. Von draußen ertönen Stimmen. Die Familie ist da. Neben der kleinen Lea und ihren Eltern sind die Großmutter und die Sprachtherapeutin mitgekommen und setzen sich jetzt zu uns an den großen Tisch. Wie immer habe ich mich so positioniert, dass ich vor allem das Kind gut beobachten kann. Lea schaut aufmerksam in die Runde. Während die Mitarbeiterin des fbzuk mit der Beratung beginnt, versuche ich mit Lea Blickkontakt aufzubauen. Nach zehn Minuten habe ich es geschafft: Wir schauen uns direkt in die Augen. Ich lächle und bekomme ein zaghaftes Lächeln zurück. Jetzt ist mir klar: Dieses Kind hat es drauf! Hin und wieder mische ich mich in den kommenden eineinhalb Stunden in das Beratungsgespräch ein. Ich gebe meinem Assistenten Stichworte, wie zum Beispiel: „Mit den Fokuswörtern ‚nochmal‘ und ‚fertig‘ anfangen“, „In möglichst vielen Alltagssituationen einsetzen“, „Lea das Gefühl geben, etwas selbst entscheiden zu können“. Die Mitarbeiterin des fbzuk geht jeweils auf meine Anmerkungen ein und führt sie aus. Wir sind mal wieder ein gutes Team.

Nach der Beratung geht‘s nach Hause. Es ist 15.18 Uhr. Als mich mein Assistent über einen Bordstein schiebt, wird mir bewusst, dass meine Blase ziemlich voll ist. Ich musste schon seit dem Mittagessen auf die Toilette, hatte aber einfach keine Zeit. Jetzt ist es umso dringender. Um 15.42 Uhr verlange ich nach einem Snack. Ich buchstabiere und mein Assistent versteht: „Du-Plo“. Ich schüttle den Kopf und versuche es nochmals. Wieder versteht mein Assistent nur „Du-Plo“. Ich muss lachen, solche Fehler bei der Betonung sind einfach so lustig. Inzwischen ist mein Assistent auf die Lösung gekommen: „Ach, du möchtest ein Duplo essen. Sag das doch gleich.“ Es ist nun 16.05 Uhr und ich beschließe, dass mein Assistent frische Luft braucht. Wir gehen in den Stadtwald. Aber Spazierengehen ist etwas für ältere Menschen, deshalb fahren wir Inliner. Auch hier genieße ich die Geschwindigkeit. Während mir der Fahrtwind um die Nase weht, kann ich so richtig abschalten. Eine Oma beobachtet uns aus ihrem Fenster. Sie winkt und ruft: „Och, das ist aber schön, was Sie da mit dem armen Mädchen machen.“ Ich grinse: Wenn sie wüsste, wer hier was mit wem macht. Um 17 Uhr ist wieder Assistenzwechsel. Bevor es an die Dienstplanung für den nächsten Monat geht, wird mit der frischen Assistentin erst einmal ein Kaffee getrunken und aus mir sprudeln die Erlebnisse des Tages. 

Ein ganz normal verrückter Tag

Dann machen wir uns an die Arbeit: Sieben Assistentinnen und ein Assistent müssen möglichst gerecht auf die Dienste des Monats verteilt werden. Dabei müssen sowohl meine unzähligen Termine als auch die jeweiligen Wünsche der Assistentinnen berücksichtigt werden. Nach 45 Minuten raucht uns beiden der Kopf und wir haben einen Knoten im Hirn. Aber der Plan steht und wie ein Wunder passt mal wieder alles. Wir geben uns High five! Nun fällt mir siedend heiß ein, dass ich weder Joghurt noch Kaffee im Haus habe. So überstehe ich den nächsten Morgen nicht. Also machen wir uns um 18.04 Uhr noch schnell zum Supermarkt auf. Dann ist es auch schon Zeit fürs Konzert. Als wir um 19.11 Uhr vor der Kneipe eintreffen, sehe ich schon einige bekannte Gesichter. Sofort werde ich begrüßt: „Kathrin, schön, dass du wieder mal dabei bist.“ Und ehe ich mich versehe, haben drei Männer mich samt Rollstuhl die doch etwas steile Treppe zur Kneipe hinuntergetragen. Im Nu stehe ich ganz vorne, neben meiner Freundin und trinke das erste Bier. Was für ein herrlicher Ausklang des Tages! Wir lauschen der Musik und tanzen ein bisschen. In den Pausen wird gequatscht und gelacht. Ich bin gerade zu meiner Haustür hereingekommen, da klingelt das Telefon. Es ist inzwischen 23.08 Uhr. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Tim. Mein Freund lebt und arbeitet in meiner Heimat. Wir führen seit knapp sieben Jahren eine Fernbeziehung. Tim fragt: „Wie war dein Tag, Schatz?“ Ich antworte: „Och, ganz gut, nichts Besonderes halt. Ich bin ein bisschen müde. Ich lieb dich.“ Um 23.27 Uhr liege ich dann in meinem Bett. 

Selbstbestimmt und unabhängig

Ich erinnere mich noch einmal an den Albtraum von diesem Morgen. Nein! Ganz entschlossen schüttle ich meinen Kopf: Ich gehöre bestimmt nicht ins Bällchenbad. Ich gehöre an die Universität. Wissenschaftliches Arbeiten liegt mir. Bald werde ich meinen ersten universitären Abschluss erreichen. Ich gehöre in die Praxis – sei es in die Schule oder im Beratungszentrum. Denn inzwischen kann ich für diese Arbeit nicht nur meine eigenen Erfahrungen nutzen, sondern habe mir auch fachspezifisches Wissen angeeignet und möchte gerne, dass andere Menschen ohne Lautsprache von diesem Wissen profitieren. Und ich gehöre zu diesem verrückten Alltag, den Sie jetzt kennen. Durch die Unterstützte Kommunikation kann ich diesen Alltag leben – und das ohne, groß darüber nachzudenken. UK verschafft mir die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen. Darüber bin ich sehr glücklich! Während ich diesen Gedanken weiterentwickle, schlafe ich langsam ein: Leben – Unabhängigkeit – Grenzenlos – Freiheit. Dieses Mal erwartet mich ein sehr, sehr, schöner Traum!

Diesen Text hat Kathrin Lemler vor erfolgreichem Abschluss ihres Studiums geschrieben. Heute macht sie Vorträge und schreibt für Bücher und Zeitschriften:

www.kathrinlemler.de