Zwischen Wertschätzung von Diversität und spezialisierter Intervention
Ein behindertenpädagogisches Dilemma im Zeichen der Inklusion
Während das Postulat der Anerkennung Diversität grundsätzlich als wertvoll und daher nicht bearbeitungsbedürftig auszuweisen sucht, beruhen spezialisierte Hilfen ebenso wie Früherkennung und Prävention auf einer Unterscheidungslogik, die bestimmte Differenzen als unerwünscht markiert und sonderpädagogische Interventionen legitimiert. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diesem Dilemma auf einer handlungspraktischen Ebene zu entgehen? Und wenn ja, wie könnte sie aussehen? Oder verändert sich der Blick, wenn das Problem auf andere Weise als bisher beschrieben wird?
Einführung in die Problemstellung
Im Zeichen der Inklusion findet sich die Behindertenpädagogik im Spannungsfeld zweier werthaltiger Grundorientierungen wieder. Auf der einen Seite steht die Forderung nach unbedingter Anerkennung von Menschen mit Behinderungen, die eine von vielen als gleichwertig angesehenen Formen von Verschiedenheit verkörpern. Dies ist, folgt man beispielsweise Prengel (1995), der sozial-ethische Kern der Idee der Inklusion. Diese Wertorientierung scheint unmissverständlich nahezulegen, auf einen defizitorientierten, die Schädigung und Beeinträchtigung fokussierenden Blick, durch den die Behinderung als soziale Tatsache überhaupt erst hervorgebracht wird, zu verzichten. Der kategorisierenden Annäherung, die eine negative Differenz herausstellt und damit hierarchiebildend wirkt, wird ein normatives sozial-ethisches Prinzip entgegengesetzt: die Anerkennung und Wertschätzung von Verschiedenheit. Hierdurch soll die wertmäßige Gleichheit des empirisch Differenten sichergestellt werden. Hier setzt eine häufig vorgebrachte Kritik einer spezialisierten Pädagogik bei Behinderung an. Sie habe, so der Kern der Kritik, historisch als Normalisierungsinstanz gewirkt und auf theoretischer wie praktischer Ebene die Konstruktion und (auch berufspolitisch motivierte) institutionelle Verbesonderung ihrer Klientel betrieben. Ihr Fortbestehen werde es erschweren oder verunmöglichen, kategoriale, stereotypisierende und hierarchisierende Gruppenbildungen abzubauen.
Auf der anderen Seite dürfte es nicht nur in der Behindertenpädagogik, sondern in der Pädagogik überhaupt Konsens sein, dass Beeinträchtigungen der Entwicklung eines Kindes nicht tatenlos hingenommen werden dürfen. Vielmehr werden bestimmte Entwicklungsauffälligkeiten bzw. Entwicklungsrisiken als Anzeichen für Probleme angesehen, die einer spezifischen Bearbeitung bedürfen. Daher gelten Früherkennung und Prävention als bedeutsame pädagogische Handlungsfelder, denen die Aufgabe zufällt, unter Rückgriff auf definierte Maßnahmen Entwicklungsrisiken zu verhindern oder zu minimieren. Desweiteren dürfte konsensfähig sein, dass die pädagogische Bearbeitung individueller Beeinträchtigungen und mit ihr einhergehender psychosozialer Problemlagen sonderpädagogische Expertise erfordert.
Diese Konstellation hat die Züge eines Dilemmas, vielleicht sogar einer Aporie. Zunächst möchte ich das bisher skizzierte Problemfeld noch etwas zuspitzen.
Behinderung als analytische Kategorie und als historisches Konstrukt
Viele Beiträge zu einer kritischen Reflexion der Theorie und Praxis der Behindertenpädagogik haben seit den späten 1970er Jahren gezeigt, dass die Kategorie „Behinderung“ ein Problemtitel ist. Der medizinisch und psychologisch geprägte, auf individuelle Funktionsstörungen, Defekte und Defizite eingeengte Behinderungsbegriff wurde nicht nur als unzureichend, sondern als falsch ansetzend zurückgewiesen, weil er historische, soziale und kulturelle Aspekte der Konstruktion von Behinderung, etwa Stigmatisierung, Benachteiligung und Ausgrenzung, mehr oder weniger vollständig ausblendet. In der Folge wurden, etwa im Rahmen der Soziologie der Behinderungen oder der Disability Studies, verschiedene Theorien und Modelle entwickelt, deren gemeinsamer Nenner trotz aller Unterschiede darin besteht, Behinderung nicht auf individuelle Eigenschaften oder Merkmale zurückzuführen, etwa geschädigte Strukturen oder Funktionen, sondern als kontextabhängiges und relationales Phänomen zu fassen. Demnach bezeichnet der Begriff kein Individuum mit spezifischen Störungen oder Beeinträchtigungen, sondern ein mehrdimensionales Geflecht von Beziehungen und Relationen, aus dem erst der soziale Sachverhalt hervorgeht, der als „Behinderung“ bzw. „disability“ bezeichnet wird (Dederich 2009). Diese Theorien und Modelle verwenden Behinderung nicht als klassifikatorische oder diagnostische, sondern als kritisch-analytische Kategorie. Sie fokussieren die Frage, wie sich kulturelle, soziale, politische und wissenschaftliche Resonanzen auf Menschen, die erwartungswidrige Eigenschaften zeigen, zu Deutungsmustern verdichten, als „Wissen“ verankert und durch soziale und institutionell regulierte Praktiken tradiert, aber auch weiterentwickelt und verändert werden. Hier steht mit anderen Worten die Frage im Zentrum des Interesses, wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen Vorstellungen, Deutungsmuster, Theorien und Modelle von negativ bewerteter körperlicher, geistiger, wahrnehmungs- und verhaltensbezogener Differenz entstehen.
Ich möchte hier nur eines von sehr vielen Beispielen dafür anführen, wie solche Prozesse kritisch rekonstruiert werden können. In Bezug auf die zunehmend institutionalisierte Pädagogik weisen Turmel (2008) und Tervooren (2008) darauf hin, dass die überwiegend aus der Psychologie stammenden und von der Pädagogik adaptierten Modelle von Entwicklung und Lernen zugleich deskriptiv und präskriptiv waren. Systematische Beobachtungen, deren statistische Auswertung sowie die Entwicklung von kategorialen Systemen haben seit dem 19 Jh. schrittweise zu einer Theorie der Normalentwicklung und damit zu einer Normalisierung der Kindheit geführt (vgl. Turmel 2008). Diese hat sich unter anderem in Entwicklungskalendern manifestiert, die durch die Zusammenarbeit von Eltern und Professionellen überaus wirkungsmächtig geworden sind. „Der Entwicklungskalender ist auf der Grundlage einer langen Tradition der Beobachtung und Beschreibung von Kindern erstellt worden und dient mit seiner Skala der notwendigen Entwicklungsschritte, die mit feinsten Altersmarkierungen verbunden sind, zur Regulierung und damit letztlich zur Präskription einer als normal aufgefassten Entwicklung. Wenn das tatsächliche Aufwachsen eines Kindes davon abweicht, wird medizinische oder therapeutische Hilfe angeraten oder werden größere Anstrengungen von den Eltern verlangt, um diese Abweichungen auszugleichen“ (Tervooren 2008, 41).
Von solchen (und vielen anderen) Beobachtungen ausgehend scheint die Schlussfolgerung zwingend zu sein, dass die Kategorie „Behinderung“ und ihre funktionellen Äquivalente, allen voran der „sonderpädagogische Förderbedarf“, substanzielle Barrieren für die Verwirklichung der Inklusion sind. Daher sind sie nur noch als analytische, auf einer Beobachterperspektive angesiedelte Kategorien legitim, nicht aber in handlungspraktischen Kontexten, wo sie den Individuen spezifische Identitäten zuweisen.
Aber ist diese Schlussfolgerung wirklich tragfähig?
Feststellungspraxen und Interventionen bei besonderem Bedarf
Die nachfolgenden Überlegungen beruhen auf der Annahme, dass Differenzen zwischen Kindern nicht nur irgendwie in sich wertvoll und daher zu achten sind, sondern als Unterschiede, die einen Unterschied machen, auch theoretisch und handlungspraktisch zu be-achten sind. Die ausdrückliche Beachtung der Differenzen wird aus pädagogischer Sicht dann unumgänglich, wenn sie Bildungs- und Partizipationsmöglichkeiten einschränken und diesen Einschränkungen nicht mit den üblichen pädagogischen Mitteln und Interventionen begegnet werden kann.
Wenn diese Annahme zutritt, stehen die Befürworter der Dekategorisierung, sofern sie nicht der Idee einer Individualisierung pädagogischer Maßnahmen widersprechen, vor einem erheblichen erkenntnistheoretischen Problem. Es muss nämlich ernsthaft angezweifelt werden, dass beispielsweise Früherkennung, Prävention und die Bereitstellung früher Hilfen ohne Begrifflichkeiten und kategoriale Differenzierungen überhaupt möglich sind. Pädagogisch sinnvoll und gezielt auf etwas einzugehen, setzt voraus, dieses als etwas wahrzunehmen und zu erkennen. Obwohl das Erkennen von etwas als etwas eine sinnliche Dimension hat und mit Empfindungen und Gefühlen einhergeht, erfordert es spätestens dann sprachliche Bezeichnungen, wenn es verbalsprachlich kommuniziert werden soll. Dies gilt unabhängig von der sprachphilosophischen Frage, ob bewusste Erkenntnis nicht ohnehin grundsätzlich sprachlich verfasst ist. Zumindest war Immanuel Kant dieser Ansicht, als er feststellte, dass Anschauungen ohne Begriffe blind seien (vgl. hierzu Dederich 2015).
Es ist schwer nachzuvollziehen, wie es gelingen soll, der Entstehung einer möglichen Problemlage durch Prävention vorzubeugen oder ihre Folgen durch frühe Hilfen abzumildern, wenn es als sozialethisch bedenklich eingestuft wird, diese Problemlage auch zu benennen. Wie soll es möglich sein, eine spezifische Hilfe zu planen, wenn nicht klar gesagt werden kann oder darf, wobei, wozu und mit welchen Mitteln die Hilfe erfolgen soll? Problemlagen können nur dann handlungspraktisch angemessen gewürdigt werden, wenn sie klar eingegrenzt und hinreichend konsistent erklärt werden können. Dies gilt trotz der Problematik, dass sich die Klassifizierung solcher Problemlagen in jungen Jahren allein aufgrund der kindlichen Entwicklungsdynamik als schwierig erweist und Prognosen unsicher sind. Insofern muss festgehalten werden: Begriffe und Kategorien, die pädagogisch relevante Differenzen markieren, sind unverzichtbar.
Wenn dies zutrifft, stellen sich jedoch sogleich zwei weitere Fragen: Erstens: Anhand welcher Kriterien wird eine besondere Problemlage festgestellt? Und zweitens: Ist die Feststellung einer Problemlage in Absehung von individuellen Merkmalen oder Eigenschaften des Kindes möglich?
Wie viele andere bemerkt Seitz (2012), die Zuweisung von Leistungen der Frühförderung über kindbezogene Defizite sei ein Qualitätshemmnis für die Inklusion. Dies sei deshalb der Fall, weil andere, vor allem sozial-ökologische Problemhorizonte mit der Folge ausgeblendet würden, kontextabhängige Aspekte der spezifischen Bedarfs- oder Problemlage zu individualisieren. Seitz stellt fest, „dass die administrative Praxis individuumsbezogener Ressourcenvergabe in inklusiven Kindertageseinrichtungen das Denken der pädagogischen Fachkräfte insofern prägt, als sie die kindbezogene Diagnose als ‚Schlüssel‘ für Unterstützung in der pädagogischen Arbeit werten, auch wenn sie um die Umfeldbedingtheit der Auffälligkeit wissen“ (S. 321).
Diesem Hinweis von Seitz kann problemlos zugestimmt werden. Ohne Zweifel sind systemische oder ökologische Rahmenbedingungen kindlicher Entwicklungs- und Bildungsprozesse, etwa der soziokulturelle Hintergrund oder die soziale Lage der Familie, von entscheidender Bedeutung. Die Genese und Manifestation von Beeinträchtigungen und Behinderungen erfolgt nicht nach einfachen und unilinearen Ursache-Wirkungs-Prinzipien. Vielmehr ist immer eine Vielzahl von intervenierenden Variablen im Spiel, etwa eine komplexe Konstellation von Risiko- und Schutzfaktoren. Ohne Zweifel sind der auf das Kind eingeengte klinische und pädagogische Blick sowie entsprechende Interventionspraktiken viel zu eng. Sie führen nicht nur zu einer nicht begründbaren Reduzierung von Komplexität, sondern münden häufig auch in Interventionen, die die an sie gerichteten Erwartungen allein deshalb nicht erfüllen können, weil sie Probleme, deren Ursachen in den Kontexten zu suchen sind, ausblenden beziehungsweise am Kind zu reparieren suchen. Zugleich aber dürfte es sich genau wegen dieser Komplexität in den meisten Fällen als unmöglich erweisen, nur mit Blick auf ein Umfeld oder eine Lebenssituation auf einen spezifischen Bedarf eines Kindes zu schließen und passende pädagogische Interventionen daraus abzuleiten. Hieraus folgt die (pädagogisch eigentlich triviale) Erkenntnis, dass es unumgänglich ist, nicht nur die häusliche, sozioökonomische und kulturelle Lebenswirklichkeit eines Kindes, gegebene institutionelle Kontexte usw. in den Blick zu nehmen, sondern auch das Kind selbst.
An dieser Stelle könnte man nun einwenden, nicht der Blick auf das Kind sei das Problem, sondern die in der Sonderpädagogik traditionsreiche Defizitorientierung. Tatsächlich ist kaum zu bestreiten, dass auch und vielleicht sogar in erster Linie die Stärken und Kompetenzen eines Kindes im pädagogischen Fokus stehen und mit vorhandenen Ressourcen unterschiedlichster Art gearbeitet werden sollte. Wenn aber ein Kind beispielsweise offenkundige Probleme hat, sich altersangemessen verbalsprachlich zu artikulieren, dann reicht es nicht aus, auf seine lebhafte Körpersprache und seine ausdrucksstarken Bilder zu verweisen oder sich mit der Feststellung eines prekären häuslichen oder sozio-kulturellen Hintergrundes zu begnügen. Dann müssen auch individuelle Voraussetzungen des Kindes in den Blick genommen werden. Dazu gehört beispielsweise die Abklärung, ob funktionelle Beeinträchtigungen vorliegen.
Foto: Dederich