Keine Wunder, aber so manche Überraschung
In einer Bremer Klasse wird tagtäglich um gemeinsames Lernen gerungen. Haben all die Kinder, die abweichen von dem, was die Gesellschaft als „normal“ definiert, weil sie langsamer lernen, sich schlecht konzentrieren können oder schneller aggressiv werden, nun wirklich das Gefühl, dazuzugehören? Nur weil man ihnen sagt: Ihr gehört jetzt dazu. Hier ein Rückblick auf vier Jahre gemeinsame, vielfach herausfordernde Entwicklungsarbeit.
Wie wird es ihren Schülern ergehen in diesen Tagen? Draußen in der Arbeitswelt? Die beiden Lehrer Frank Dopp und Siebo Donker fragen sich das oft, wenn sie morgens an ihrem Klassenraum vorübergehen anstatt hinein. Kein Laut kommt aus dem Zimmer, in dem die Klasse 9.3 nun schon seit mehr als vier Jahren zusammen lernt. Kein Kichern, kein Flüstern, kein Murat, der ruft „Herr Donker, Herr Donker, können Sie mir helfen?“, kein Alex, der unablässig Werbebotschaften vor sich hin murmelt, kein Tuna, der mit dunkler Männerstimme eine Provokation in Richtung Lehrerpult schickt.
Die 9.3. ist im Betriebspraktikum. Drei Wochen lang. Jeder Schüler hat einen Platz gefunden, in Büros, Praxen, Werkstätten, Kanzleien. Das ist nicht selbstverständlich, denn in der 9.3 lernen fünf Kinder mit besonderem Förderbedarf.
Als der Lehrer Frank Dopp an der Bremer Gesamtschule Ost die Klasse im Spätsommer 2011 übernahm, hatte er schon mehr als 20 Berufsjahre hinter sich. Aber einen Autisten wie Murat hatte er noch nie unterrichtet. Auch niemanden wie Alex, der durch sein Grunzen, Schreien und Quietschen die gesamte Klasse am Anfang in den Wahnsinn trieb.
Der Sprung ins kalte Wasser
Dopp hatte keine Ahnung, wie es sein würde, diesen Kindern Deutsch und Englisch beizubringen, mit ihnen Theater zu spielen oder auf Klassenfahrt zu gehen. Das erste Schuljahr hat ihn an seine Grenzen gebracht, gezeigt, wie ein gestandener Lehrer in Hilflosigkeit und Verzweiflung geraten kann. Noch heute kann er die Gefühle von damals zurückrufen: „Es war unmöglich, diese Klasse überhaupt zu unterrichten. Wir hätten fünf Lehrer pro Stunde gleichzeitig gebraucht.“ Lange fühlte sich Dopp, als käme eine Welle auf ihn zu, „die größer war als alles, was ich vorher gesehen hatte“. Und trotzdem: Frank Dopp war überzeugt davon, dass die Vielfalt der Kinder am Ende ein Gewinn für alle sein wird, dass das gemeinsame Lernen nicht nur den förderbedürftigen und behinderten Schülern zu Gute kommt, sondern auch den schnellen Denkern, den Sprachbegabten und Mathegenies.
Die Hansestadt Bremen hat als eines der ersten Bundesländer in Deutschland bereits 2009 die inklusive Schule gesetzlich verankert und sich damit auf den Weg gemacht, die UN-Behindertenrechtskonvention zu erfüllen. Demnach sollen alle Kinder gemeinsam zur Schule gehen, egal, ob sie nicht behindert oder behindert, in ihrer Entwicklung zurückgeblieben oder den anderen Kindern voraus sind. Das über Jahrzehnte geschaffene Parallelsystem von separaten Förderschulen will Bremen damit möglichst schnell auf den Sondermüll der Pädagogik verbannen. Förderschulen wird es in Zukunft nur noch für schwerst- und mehrfach körperbehinderte Kinder, für Blinde und Gehörlose geben. Schon heute gehen 77,1 Prozent der Schüler mit geistigen oder körperlichen Handicaps auf allgemeinbildende Schulen.
Wie verändert die Inklusion das System Schule?
Mindestens einmal im Jahr besuchen wir Schüler und Lehrer der Bremer Inklusionsklasse, um zu erfahren, ob sich die Perspektiven für Kinder mit Lernstörungen und Behinderungen wirklich ändern, wenn sie gemeinsam mit allen anderen zur Schule gehen. Und ob später – nach der Schule – ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt wirklich größer ist. Wir wollen wissen, wie lange das überhaupt funktioniert: gemeinsam zu lernen. Obwohl die Matheaufgaben komplizierter und die englischen Texte länger werden. Was geschieht mit den fünf Inklusionskindern, wenn sich der Rest der Klasse auf die Abschlussprüfungen vorbereitet? Werden sie dann doch nur noch stören? Sortiert man sie wieder aus? Wird Murat, der autistische Junge, der gerne am Flughafen arbeiten will, sein Ziel erreichen? Und wird Alex einen Abschluss schaffen, um Koch zu werden, so wie er sich das wünscht?
Für das Betriebspraktikum hat es Alex immerhin schon in eine Küche geschafft. Drei Wochen lang hilft er bei einem Pizzalieferanten. Murat arbeitet in einer Behindertenwerkstatt, bis zum Flughafen fehlt da noch ein ganzes Stück Weg. Die stille Elena ist in einem Friseurgeschäft untergekommen, Max bei einem Elektriker und Tuna in der Werkstatt eines Busunternehmens. Den Sonderschulpädagogen Siebo Donker macht diese Aufzählung besonders stolz. Denn gerade für die Inklusionskinder sei das ein wichtiger erster Erfolg – zu sehen: Wir haben eine Chance. Es gibt einen Platz für uns in der Arbeitswelt.
Donkers Ziel ist es, bis zum Ende der neunten Klasse mit den Kindern eine klare berufliche Perspektive zu erarbeiten. Denn die Zeit rast. Noch zwei Jahre, dann werden sie den Schonraum Schule verlassen müssen. Dann können Lehrer wie Frank Dopp, Siebo Donker oder die Sozialpädagogin Astrid Möllmann, die seit Anfang an zum Team gehört, nicht länger unterstützen, motivieren, trösten, aufmuntern und ermutigen.
Ein Besuch in der Inklusionsklasse
Kurz vor den Sommerferien. Ein heißer Dienstagmorgen, erste Stunde, Mathematik. Prozentrechnung müssten die Schüler längst können: Ein Autohändler besitzt 400 Autos, er verkauft davon drei Prozent. „Wie viele Fahrzeuge sind das dann?“, fragt die Mathe-Lehrerin Vanessa Fernandez und reißt die Augen auf. Ihre Schüler starren zurück, ein paar seufzen. Einfachster Dreisatz. Stoff aus der Siebten. Und so viel Ratlosigkeit. „Stöhnt nicht so viel!“, ermahnt die Lehrerin. „Formeln haben auch Gefühle!“ Murat nickt und wippt mit dem Oberkörper vor und zurück. So lange, bis es aussieht, als nicke alles an ihm. Das macht er meist, wenn er aufgeregt ist. Murat ist immer der Erste, der auffällt. Wer ihn sieht, weiß, dass die Klasse anders ist.
Foto: Kathrin Spirk