aus Heft 2/2015 – Fachthema
Ursula Haupt

Partizipation als Bedingung für Entwicklung, Bildung und Lebensqualität

Es geht bei dem Thema „Inklusion und Schwerstbehinderte“ um das gesellschaftlich anerkannte und für alle Menschen gültige Ziel der gegenseitigen Anerkennung, Wertschätzung und der aktiven Mitgestaltung des gemeinsamen Lebens in all seinen Bereichen. Und gleichzeitig geht es um Menschen – hier insbesondere um Kinder – bei denen genau darin besondere Schwierigkeiten gesehen und angenommen werden.

Es sind Kinder in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen, mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen und unterschiedlich erschwerten Entwicklungen. Das sind zum Beispiel Kinder mit stark ausgeprägten Bewegungs- und Ausdrucksbehinderungen von früher Kindheit an, die sich nicht sprechend verständigen können, die für sehr viele alltägliche Verrichtungen auf Hilfe angewiesen sind, Kinder bei denen auch die kognitive Entwicklung sehr erschwert ist. Es können zudem Störungen des Sehens, des Hörens, sowie Schwierigkeiten mit der Atmung und der Nahrungsaufnahme vorliegen. Andere Kinder erlitten bei Unfällen schwere Schädel-Hirn-Traumata mit schwerwiegenden Folgen bis hin zum anhaltenden so genannten Apallischen Syndrom, das heute allerdings eher als minimaler (oft schwankender) Bewusstseinszustand angesehen wird (vgl. Geremek 2009, Haupt 2011). Manche Kinder erleiden durch sehr schwere, fortschreitende Erkrankungen (z. B. des Gehirns) zunehmende Kompetenzverluste und sterben früh.

 

Alle Versuche, Entwicklungen und Kompetenzen eines Kindes mit schwerster Behinderung einzuschätzen und zu beschreiben, beruhen auf Beobachtungen und Wahrnehmungen von Fachkräften. Aber betroffene Kinder verhalten sich je nach Situation unterschiedlich. Unsere Wahrnehmungsfähigkeit reicht unter Umständen nicht aus, und die Interpretationen unserer Beobachtungen führen uns nicht selten in die Irre. Fehleinschätzungen kommen zum Beispiel bei Kindern mit extrem ausgeprägten zerebralen Bewegungsstörungen vor, die auch Sprechen, gezieltes Hantieren, Malen und Schreiben etc. erheblich beeinträchtigen. Dennoch ist es möglich, dass betroffene Kinder eine gute oder sehr gute kognitive Entwicklung durchlaufen haben – wie z. B. Kathrin Lemler (2005). Sie hat trotz extremer Behinderung Abitur gemacht und gibt heute ihre Erfahrungen mit Unterstützter Kommunikation an andere Menschen weiter.

Tests helfen bei der Beobachtung schwerstbehinderter Kinder meist nicht. Um sie verstehen zu lernen, braucht es längerfristige, zugewandte Beziehungen und Vertrauen in ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Die Erfahrungen der Eltern mit ihren Kindern sind in diesem Prozess wichtige Hilfen für die Fachkräfte. Entwicklungs- und Bildungsprozesse bei diesen Kindern erfordern eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern, die von Wertschätzung getragen ist. Auf dieser Basis wächst Vertrauen und gegenseitige Anerkennung.

 

Wir erleben bei schwerstbehinderten Kindern im Zusammenhang mit ihren Lebenserfahrungen auch Phasen psychischer Verstimmung, in denen sie sehr unruhig sind oder sich innerlich zurückziehen, ihr Interesse an ihrer Umgebung verlieren und vorhandene Möglichkeiten nicht einsetzen.

 

Ich erinnere mich z.B. an Tina, ein 10jähriges blindes Mädchen. Aufgrund einer zerebralen Bewegungsstörung war sie nicht in der Lage zu stehen oder zu gehen. Sie konnte sich auch nicht sprechend verständigen. Sie hockte meist auf ihren Fersen und bewegte sich nicht von der Stelle. Obschon sie ihre Arme und Hände bewegen konnte, nutzte sie sie nicht zum Greifen oder Erkunden ihrer Umgebung. Sie verhielt sich so, als gehörten ihre Arme und Hände nicht zu ihr. Von ihrer Familie erfuhren wir, dass sie zu Hause ihren Platz auf einer leeren Matte in einer Ecke des Wohnzimmers hatte. Dieser Platz war mit einem hüfthohen Gitter aus Holz vom übrigen Raum abgetrennt. Meist war Tina zu Hause allein im Zimmer. Such- oder Erkundungsbewegungen waren in dieser Umgebung sinnlos. Räumlich und mitmenschlich viele Stunden am Tag isoliert, war ihre Entwicklung schon seit Jahren ausgeblieben, als sie in der Schule vorgestellt wurde.

 

Ich denke auch an Arne (Haupt 2011, 186), den 3jährigen Jungen. Die Diagnosen des Kinderneurologischen Zentrums für ihn hießen: Spastizität, schwere geistige Behinderung, Blindheit, Gehörlosigkeit, Autismus, fehlende Sprachentwicklung. Seine Mutter berichtete, dass er sich im Behandlungszentrum vehement weigerte, angefasst zu werden. Jeden Versuch einer bewegungstherapeutischen Förderung beantwortete er mit anhaltendem Schreien, so dass diese Versuche schließlich aufgegeben wurden. Auf andere Angebote, z.B. des Erkundens oder Spielens reagierte er überhaupt nicht.

Inklusion von Kindern mit schwersten Behinderungen?

Wie ist aktives Mitgestalten im sozialen Kontext für Kinder mit schwersten Behinderungen möglich? Anders gefragt: Sind Entwicklung, Bildung, Lebensqualität heute ohne Partizipation denkbar?

Kinder entwickeln sich von frühester Zeit an gemäß der zu ihnen gehörenden Entwicklungsdynamik. Sie brauchen dazu förderliche Bedingungen in Zuwendung und Interaktion mit ihren Bezugspersonen und ihrer Umgebung. Das gilt auch für sehr schwer behinderte Kinder, deren Entwicklung zum Beispiel durch organische Schädigungen deutliche Einschränkungen aufweist. Es besteht weitgehend Konsens darüber (vgl. Schlack 2000, 34), dass die Abfolge von Entwicklungsschritten bei ihnen wie bei anderen Kindern verläuft, wenn auch in anderem zeitlichen Abstand. Diese Analogie bezieht sich auch auf die Voraussetzungen für das Auftreten bestimmter Kompetenzen. Diese Voraussetzungen sind keineswegs nur organischer Natur. Entwicklungen sind hoch komplex vernetzt. Das heißt, dass jeweils alle Möglichkeiten zusammenwirken, die ein Kind selbst hat und seinem sozio-kulturellen Umfeld vorfindet. Für Fachkräfte, die die Entwicklung und Bildung schwerstbehinderter Kinder unterstützen möchten, sind daher solide Kenntnisse von Entwicklungssequenzen und ihren Bedingungszusammenhängen unerlässlich. Es wäre aber ein krasses Missverständnis, wenn man daraus schließen würde, man könne Entwicklungsfortschritte mit Kindern einüben. Wir sind angehalten, den Kindern Entwicklungen zu erleichtern, indem wir geeignete Erkundungs- und Erfahrungsmöglichkeiten für sie bereit stellen, in denen sie grundlegende Zusammenhänge erleben, Handlungen erproben und aktiv sein können. Sie sind dabei auf die Hilfe vertrauter Bezugspersonen und die fortlaufende Interaktion mit ihnen angewiesen. Diese nehmen Anteil an der Erfahrungswelt jedes Kindes und lassen es an der gemeinsamen Lebenswelt teilnehmen. Sie verständigen sich mit ihm, bringen zur Sprache, was sie verstanden haben und sind wichtige Vermittler (Schäfer 2014, 121). Durch sie erlebt das Kind die emotionale und soziale Sicherheit, die notwendig ist, um die Erfahrung machen zu können, die seiner Entwicklung entspricht. Es ist ein bedeutsamer Fortschritt, wenn es möglich wird, dass andere – sprechende – Kinder in dieses Geschehen einbezogen werden können, die mit der notwendigen Feinfühligkeit ihre Erfahrungen mit den schwerstbehinderten Kindern teilen. Die Förderung orientiert sich an den Entwicklungsgesetzlichkeiten und am individuellen Kind. Die dem Kind mögliche Entwicklung ist auch die gültige Entwicklung. Selbstverständlich müssen alle Angebote die aktuelle Befindlichkeit des Kindes ebenso berücksichtigen wie seine Lebens- und Beziehungserfahrungen.

 

Die Partizipation, die aktive Teilnahme am gemeinsamen Leben ist eine Grundvoraussetzung für die Lernprozesse der Kinder in ihrer Entwicklung.

Knauer (2005) spricht von einer Pädagogik, die die Partizipation als Recht des Kindes in den Mittelpunkt der Arbeit stellt. Kinder sind Akteure ihrer Entwicklung und nicht „Objekte unseres pädagogischen Handelns“ (a.a.O.).

Bildungsprozesse sind Lern­prozesse mit spezifischen Qualitäten

Frühe oder grundlegende Bildung ist eng mit dem positiven Erleben zugewandter, feinfühliger Beziehungen verknüpft. Sie ist nicht die Aneignung von vermittelten Lerninhalten. Das was Schäfer für junge Kinder feststellt (2005, 66), gilt analog auch für Kinder mit schwersten Behinderungen in der Phase frühen Lernens. „Man kann ihnen kaum etwas beibringen, weil sie alle Erklärungen noch nicht verstehen, die Leute, die es besser wissen, ihnen anbieten können. Sie müssen sich aus ihren konkreten Erfahrungen ein Bild darüber verschaffen, wie die Welt um sie herum gemacht ist und wie man mit ihr umgeht; sie verändern damit das Bild von sich und der Welt“.

Um bildungswirksam sein zu können, muss Lernen einen persönlichen Sinn ergeben. Alles muss miteinander in Einklang gebracht werden: „Handeln, Empfinden, Fühlen, Denken, Werte, sozialer Austausch, subjektiver und objektiver Sinn“. Die von Anfang an vernetzten, komplexen Erfahrungen aller Sinne spielen dabei eine wichtige Rolle. „Bildungsprozesse verknüpfen Selbst- und Weltbilder zu einem mehr oder weniger spannenden Gesamtbild“ (a.a.O. 30).

Die notwendige unterstützende Kooperation mit Erwachsenen beginnt mit den Eltern als früheste Bezugspersonen für das Kind im gemeinsamen alltäglichen Leben, vielleicht unter Einbeziehung von Großeltern und auch von professionellen Helfern. 

Kinder mit schwersten Behinderungen brauchen meist auch noch in der Kindertagesstätte und in den ersten Jahren in der Schule Fachkräfte als konstante Bezugspersonen, um lernen zu können. Sie brauchen die erlebbare Einladung, ihr zugewandtes Angebot anzunehmen und sich im Maße ihrer Möglichkeiten auf Entdeckungen und Erkundungen einzulassen. Das entspricht der frühen Entwicklungsphase des Lernens in Beziehungen (Haupt, 2006, 149).

Wie kann das aussehen, zum Beispiel bei Tina oder Arne?

Tina versuchten wir unsere Einladung deutlich zu machen, indem wir sie immer wieder freundlich ansprachen, ihr zugewandt beim Trinken und Essen halfen, versuchten ihren Platz im Raum so angenehm wie möglich zu gestalten, für sie sangen … Wir boten ihr auch Dinge an, von denen wir hofften, dass sie sich für Tina angenehm oder interessant anfühlten. Aber wir merkten, dass sie zunächst nur beim Hören von Stimmen eine deutlichere Aufmerksamkeit zeigte und lauschte. Hörend konnte sie auch Stimmungen unterscheiden. So lachte sie, wenn sie in einer Stimme Spaß erkennen konnte. Das waren erste Formen von Partizipation – Lernen in Beziehungen.

 

Und Arne? Zuerst hatte ich keinerlei Plan, wie ich ihn so einladen könnte, dass er vielleicht doch eine Weise zu partizipieren findet. Aber dann stellte es sich heraus, dass das gar nicht so schwer war. Seine Mutter setzte ihn auf den Boden, weil er sich gern auf dem Boden aufhielt. Ich legte ohne bestimmte Erwartung etwas Spielzeug in seine Nähe. Während seine Mutter mir von ihrem gemeinsamen Tagesablauf erzählte, sah ich, dass Arne nach den Lochbausteinen griff, die ich für ihn hingelegt hatte. Er erkundete sie sehr genau. Als er umzufallen drohte, riskierte ich es, ihm eine vorsichtige Unterstützung mit meinen Händen zu geben. Er ließ sich dadurch nicht stören, im Gegenteil. Er dehnte seine Erkundungen aus.

Es ist hier nicht der Ort, um den weiteren Verlauf genau zu schildern. Jedenfalls stellte sich in weiteren Begegnungen und im gemeinsamen Tun heraus, dass der Junge weder autistisch noch gehörlos noch blind war. Er hatte aber ein sehr starkes Bedürfnis nach Unterstützung seiner eigenen Entwicklungsimpulse – ein ermutigender Beginn eines Lernens in bezogener Interaktion (Haupt 2011, 186).

 

Manchmal erhalten unsere Angebote keine klar interpretierbaren Antworten.

So war es bei Piet, dem 11jährigen Jungen, der an einer schnell fortschreitenden, schweren Gehirnerkrankung litt, die ihn völlig lähmte, manchmal sein Bewusstsein trübte und ihn schläfrig machte. Nach Aussagen der behandelnden Ärzte hatte er nur noch eine geringe Lebenserwartung.

Die Familie war zugezogen und bat um Aufnahme des Jungen in die Schule – für ein paar Stunden täglich. Die Lehrerin einer Grundschulklasse, die sich auf den Besuch einer Realschule mit Gymnasium vorbereitete, nahm Piet in ihre Klasse auf. Die Mitschüler wussten, dass Piet sehr krank war. Sie akzeptierten ihn mit Wärme und entwickelten immer wieder Ideen, was sie mit ihm oder für ihn tun konnten. Sie erzählten ihm Dinge, die ihnen wichtig waren, fuhren ihn in der Pause im weiten Schulgelände spazieren, sangen ihm etwas vor. Schlief er in der Klasse ein, verhielten sie sich sehr ruhig, ohne sich von ihren schulischen Arbeiten ablenken zu lassen. Piet zeigte keine klaren Reaktionen, aber er wirkte im Zusammensein mit den Kindern entspannter, manchmal schien er zu lauschen. Zu anderen Zeiten schien er innerlich weit fort zu sein. Die Eltern berichteten, die Schule und die Kinder würden ihm gut tun. Er besuchte die Schule bis wenige Tage vor seinem Tod.