
„Achso, die beforschen sich gar nicht selber, die beforschen andere Autist:innen“
Mit diesem vorliegenden Beitrag möchten wir die Zusammenarbeit in einem partizipativ-rekonstruktiven Dissertationsprojekt reflektieren und diskutieren. Für die explorative Studie wurden für die Datenerhebung biographisch-narrative Interviews mit sieben autistischen Personen durchgeführt. Die Auswertung der Daten erfolgt unter Beteiligung autistischer Co-Forschenden mit der biographischen Fallrekonstruktion nach Rosenthal (2015), die dafür sechs Auswertungsschritte vorsieht. Das Erkenntnisinteresse zielt dabei auf die biographische Rekonstruktion des Überganges in das Arbeits- und Berufsleben autistischer Menschen ab. Über die Verschränkung rekonstruktiver und partizipativer Forschungsansätze wird erst seit geraumer Zeit ein Diskurs geführt (siehe dazu Schipp 2023).
Ausgangslage
Wir sind ein Team, das aus drei autistischen Co-Forschenden und einer Doktorandin besteht. Seit über zwei Jahren forschen wir gemeinsam in einem partizipativ-rekonstruktiven Dissertationsprojekt und werten biographisch-narrative Interviews aus. Mit der unverfänglichen Frage „Hast du Lust ein paar Interviews auszuwerten“ (E.H.), begann unsere gemeinsame Arbeit, die für alle auch ein Stück weit autobiographische Arbeit bedeutet und unversehens standen wir vor einem Publikum. Gleichwohl es rückblickend mit enormen Herausforderungen verbunden war, haben wir gemeinsam Vorträge auf Tagungen vorbereitet und präsentiert sowie einen Beitrag veröffentlicht (siehe dazu Schipp et al. 2024). Es folgten Einladungen zu einem Podcast, einer Keynote und weiteren Möglichkeiten, Einblicke in unsere partizipativ-rekonstruktive Forschungswerkstatt geben und Gehör erhalten zu können. Zweifellos geht unsere Zusammenarbeit mit fortwährenden Aushandlungsprozessen und Reflexionsphasen einher, die wir als sehr dynamisch und herausfordernd erleben. Im Zuge dessen, haben wir uns insbesondere vor dem Hintergrund rekonstruktiver Auswertungsverfahren, immer wieder dem Vorwurf stellen müssen, dass Personen, die der gleichen Gruppe, wie die der beforschten Personen angehören, nicht in die Forschung einbezogen werden können. Vertreter:innen der rekonstruktiven Forschung begründen das damit, dass durch rekonstruktive Verfahren, die eigne Relevanzsetzung (offener Erhebungsprozess) ausreichend berücksichtigt wird und hinterfragen ihr traditionelles Vorgehen nicht ausreichend (Otten & Hempel 2023, 211). Aber von wem sprechen wir hier eigentlich, wenn von Personen der gleichen Gruppe gesprochen wird? Aus den wenigen Schriften, die zur Verschränkung partizipativer und rekonstruktiver Forschungsansätze existieren, geht die Lesart hervor, dass die Autor:innen davon ausgehen, dass die Studienteilnehmenden, also die Personen, mit denen ein Interview geführt wurde, die gleichen Personen sind, die als Co-Forschende in die Forschung einbezogen werden sollen. Hier sagen Vertreter:innen der rekonstruktiven Forschung ganz klar, dass das nicht geht, da nicht die eigenen latenten Sinnstrukturen bzw. implizites Erfahrungswissen herausgearbeitet werden können (siehe dazu auch Demmer & Heinrich 2018). Dem widersprechen wir hinsichtlich methodologischer Gesichtspunkte keineswegs, aber es erschließt sich uns nicht, weshalb die Problematisierung des Einbezugs von Co-Forschenden unscharf formuliert ist. So wird in keiner dieser Publikationen thematisiert, von wem eigentlich die Rede ist. Dieser Frage möchten wir uns im Rahmen dieses Beitrags annähern. Die nachfolgenden Inhalte[1] stammen aus Interviews, die die Forscherin mit den Co-Forschenden geführt hat, um einerseits die bisherige Zusammenarbeit zu reflektieren und andererseits die Fragestellung „Von wem sprechen wir eigentlich?“ diskutieren. Folglich möchten wir im ersten Abschnitt unsere Zusammenarbeit reflektieren und im zweiten Abschnitt soll es sodann um die zentrale Fragestellung gehen. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit zu unseren Ausführungen.
Reflexion der Zusammenarbeit im partizipativ-rekonstruktiven Forschungsprojekt
Rückblickend umschreibt E.H.[2] die Projektmitarbeit als „Blindflug“, da allen das ganze Ausmaß dessen, was bisher daraus entstanden ist, im Vorhinein nicht bewusst war. Grundsätzlich möchte E.H. einen Beitrag zur Aufklärung leisten, da es hinsichtlich des Autismus-Spektrums sehr viele Missverständnisse gibt. Auch A.H. äußert, dass es wichtig ist, „dass man Leute mit ins Boot holt oder mit involviert, die nicht direkt aus der akademischen Schiene selber kommen“. Darüber hinaus merkt A.H. folgendes an: „Wenn man irgendwo Forschung unterstützen kann und das halbwegs passt, dann kann man ja auch ein bisschen von seiner Zeit dafür hergeben“. So ähnlich reflektiert es auch K.D.:
„Und ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass es für beide Seiten fruchtbringend ist, weil die Verständigung zwischen Autist:innen und Neurotypen wirklich eine sehr schwierige ist. Sie reden viel aneinander vorbei, weil jeder seinen Kontext immer mitbringt und hier hatten wir genau die Konstellation: Eine Forschende, die die Aussagen von Autist:innen untersucht und deswegen Autist:innenen mit reingenommen hat, weil sie wahrscheinlich schon ahnte, dass es nicht so einfach wird, wie man das vielleicht am Anfang glaubt“.
Auch A.H. resümiert zur Zusammenarbeit, dass es „so rückblickend betrachtet schon cool [ist], weil, es tut sich ja eine ganze Menge […], das heißt, da ist ja offensichtlich auch Interesse dran an dem Thema und dann arbeitet man ja dann offensichtlich auch nicht für Nichts“. Weiterhin erzählt er, dass er sich mit seinen Sichtweisen ernstgenommen fühlt, was außerhalb solcher Kontexte leider oft nicht der Fall ist. A.H. fühlt sich nicht nur auf die Frage „wie geht es dir“ reduziert, sondern hier wird auch danach gefragt, „‘wie ist deine Meinung zu dem Gesamtthema?‘ Das ist eine andere Frage, weil bis jetzt habe ich immer nur bekommen ‚okay, wie können wir dir entgegenkommen, dass du da und da funktionierst‘“.
Partizipativ Forschende sind per se damit konfrontiert, dass die Gültigkeit und Wissenschaftlichkeit des partizipativ erzeugten Wissens angezweifelt wird (Defila & Di Giulio 2018, 41). Folglich haben wir uns immer wieder mit dem nach wie vor traditionellen Vorgehen der rekonstruktiven Forschungspraxis auseinandergesetzt und auch den Begriff der ‚Partizipation‘ diskutiert. Es sei noch darauf hingewiesen, dass wir uns nicht an klassischen Partizipationsmodellen orientieren, wie z. B. der Stufentabelle von Wright et al. (2010), sondern an der Matrix (Partizipation an der Forschung – eine Matrix zur Orientierung) von Farin-Glattacker et al. (2014). Bezugnehmend auf den Partizipationsbegriff äußert A.H., dass
„Partizipation vor allen Dingen [bedeutet], dass ich die Beforschten auch direkt repräsentiere, also die Gruppe, ich sage, ich bin Autist und ich repräsentiere hier Autist:innen in der Forschung über Autist:innen, weil das ja, soweit ich das mitbekommen habe, sehr selten ist, dass diejenigen, um die es geht, auch selber über sich forschen dürfen oder involviert werden bei solchen Sachen“.
Allerdings weist A.H. auch darauf hin, dass „eine akademische Barriere“ existiert, die erst überwunden werden muss, damit sich partizipative Ansätze in der rekonstruktiven Forschungslandschaft etablieren können. Insbesondere die Deutungshoheit der Wissenshaft bzw. akademisch Forschender (Demmer & Heinrich 2018, 184) wird von K.D. kritisch betrachtet und er empfindet es „als dringender denn je, dass diese Partizipation notwendig ist, um diese blinden Flecke, die sich aus dem homogenen Kontext von neurotypischen Menschen ergibt, offenzulegen und zu hinterfragen“. Auf die Frage hin, ob die Mitarbeit im hiesigen Dissertationsprojekt auch eine persönliche Bedeutung für ihn hat, antwortet K.D. folgendes:
„Naja, der Punkt ist, dass ich, als ich gehört habe, dass ich Autist bin, ich sage jetzt mal, nach all den Jahren und all dem Leidensweg, war für mich die entscheidende Frage erst mal beantwortet: Was unterscheidet mich von anderen? Es hat mir ein Stück Identität gegeben und danach habe ich aufgehört, mich mit Autismus zu beschäftigen und mit mir selbst zu beschäftigen, weil ich hatte jetzt eine Antwort. [Mit dem Projekt besteht jetzt] die Chance, dann zu sagen, ‚okay, du steigst in die Frage, wer bin ich, wieder ein, aber auf eine ganz neue Art, als du es vorneweg gemacht hast‘. Vorneweg hast du es nur in Bezug auf neurotypische Menschen versucht zu beantworten, was unterscheidet mich von denen, wieso sind die anderen anders oder so was? Und jetzt ist es tatsächlich die Frage: Wie definiere ich mich? Was ist das Besondere an mir? Was ist die Andersartigkeit, die mich von anderen so unterscheidet und welchen Wert hat dieser Unterschied?“.
So ähnlich sieht es auch A.H., da er die Mitwirkung in der Forschung einerseits als eine Art Bürgerpflicht ansieht und andererseits formuliert er, dass „es ja auch ein Wissensgewinn für mich [ist], also ich lerne ja, während ich diese Forschungsaufträge quasi mache, dadurch, was es an Gemeinsamkeiten zwischen den Forscher:innen gibt, auch, dass ‚oh guck, das gibt es ja auch als in Anführungsstrichen generell autistisches Merkmal, das wusste ich ja noch gar nicht‘, so solche Sachen also“. E.H. hebt noch hervor, dass vor allem auch die Intersektionalität eine große Rolle gespielt hat, wenn es um das persönliche Anliegen geht, in die Forschung über Autismus einbezogen zu werden. Die derzeitigen Diagnosekriterien beschreiben eher den männlichen Autismus und somit werden weiblich gelesene Autist:innen mit diesen Kriterien gar nicht erfasst (u. a. Preißmann, 2020; McQuaid et al., 2022). Aufgrund dieser Benachteiligung bedeutet Partizipation für E.H. auch eine Art „Autistinnen zu vertreten“ und ihnen eine Stimme zu geben. Insgesamt betrachtet wünscht sich E.H., „dass wir noch mehr einbezogen werden müssten, so dass doch noch oft über uns anstatt mit uns geredet wird“.
Die gemeinsame Analyse und Interpretation des Datenmaterials der autistischen Biograph:innen ist laut den Co-Forschenden auch eine Chance, sich mit sich selbst und seiner eigenen Biographie auseinanderzusetzen. Es geht also vor allem darum, das eigene Leben in den Blick zu nehmen und biographische Arbeit zu betreiben. K.D. äußert dazu,
„wir sehen ähnliche Handlungsmuster eben auch bei anderen Autist:innen und viele Handlungsmuster habe ich erst überhaupt durch die Biographien mitbekommen. Also zum Beispiel dieses Orientieren an Theater, Büchern, Filmen, dass man aus Filmen lernt, war mir so gar nicht bewusst gewesen“.
Auch E.H. kann sich sehr gut mit den autistischen Biograph:innen identifizieren und sieht sehr viele Parallelen zwischen ihrem und dem Leben dieser Personen. K.H. geht sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnet die biographische Arbeit als
„eine Therapie, weil im Grunde genommen, in allen Therapien, die ich durchgegangen bin, war ich auch tatsächlich etwas unterfordert, weil die Therapien sind in der Regel auf neurotypische Menschen ausgerichtet. […] [Im Projekt] gehen wir analytisch ran, also die Hermeneutik, die hier im Mittelpunkt stand, erzwingt eine gewisse Analyse und in der normalen Verhaltenstherapie spielt die Analyse gar nicht die Rolle. Da steht die Frage im Vordergrund ‚Und was macht das mit Ihnen?‘, eine Frage, die ich nie beantworten kann“.
Dieses analytische Vorgehen in den gemeinsamen Auswertungsrunden, empfinden die Co-Forschenden als bereichernd, gleichwohl die Methode der biographischen Fallrekonstruktion sehr komplex ist. Erst in der Anwendung hat sich uns dieses Verfahren in seiner Gänze erschlossen und K.H. sieht genau das als „Teil der Aufgabe“ an. Einhergehend damit, bekräftigt E.H., dass wir „zusammen gelernt haben“ und „dass man ja daraus wieder was Neues lernen kann […] und dass das umsetzbar ist, […] wenn man wirklich zusammenarbeiten möchte“. Nicht selten haben wir hinsichtlich des Methodenverständnisses gehadert, gezweifelt und sind an unsere Grenzen gestoßen. K.H. kommt im Kontext des Methodenverständnisses zu folgendem Schluss:
„Und wenn wir hier sind und analytisch rangehen und gucken auch zum Beispiel in der Sprachanalyse, also welche Textform wird verwendet und wie wird diese Textform strategisch angewendet, um etwas aus seinem Leben zu erzählen, dann kann man tatsächlich, sagen wir mal, dem anderen in den Kopf, ins Hirn reinschauen, die Struktur seines Denkens sehen, wirklich die Bewältigungsstrategien ermitteln, nur um sich die Frage zu beantworten ‚Wer bin ich?‘“.
Wie bereits eingangs dargelegt wurde, ist der Methode ein offenes und abduktives Vorgehen inhärent und dazu stellt A.H. abschließend noch heraus, dass diese Methode erfordert,
„dass man abstrakt denken kann, dass man Sachen auch versuchen kann anzuwenden und nicht einen absolut strikten Ablaufplan braucht. Und ich glaube, das ist nicht mit jedem so machbar. Also ich glaube, das ist tatsächlich schon relativ schwierig, was wir da machen. Ich glaube, das ist keine generell für alle brauchbare Variante. […] Die Fähigkeit, ‚Out of the box‘ zu denken und wirklich probieren zu wollen, Sachen einfach mal zu machen und zu gucken, ob es funktioniert und zu sagen ‚okay, nee, das kann noch nicht ganz stimmen‘. Da braucht es halt so eine gewisse Experimentierfreudigkeit und ich glaube, das geht gerade bei Autist:innen nicht mit jeder:m“.
Ein weiterer Punkt, den wir zur Diskussion gestellt haben, betrifft die nach wie vor bestehenden Barrieren innerhalb der traditionellen Forschungspraxis. Infolgedessen haben wir uns sehr intensiv mit Vorannahmen von akademisch Forschenden beschäftigt und daraus ist die Fragestellung entstanden, die im folgenden Abschnitt diskutiert werden soll.
Von wem sprechen wir eigentlich?
Zuvörderst möchten wir einen kleinen Exkurs in die Wissenssoziologie vornehmen, um unsere Fragestellung einordnen zu können. Mannheim (1928; 1929) spricht allgemein in seinen Schriften über den Zusammenhang von sozialem Standort und Wissen. Mit dem Begriff der ‚totalen Ideologie‘ verdeutlicht er, dass jedes Denken durch die soziale Position und den damit verbundenen Erfahrungen verbunden ist. In diesem Zusammenhang betont er, dass das Denken im sozialen Raum verankert und mit der kollektiven Erfahrung einer sozialen Gruppe verbunden ist. Hinsichtlich der Einbindung von Personen, die der gleichen sozialen Gruppe angehören, wie die der Beforschten in die Forschung, sei allerdings darauf hingewiesen, dass Mannheim diesen Aspekt nicht explizit diskutiert. Werden Mannheims Theorien in die Forschungspraxis übertragen bzw. wie Wagner-Willi (2016) schreibt, aus der Perspektive der Wissenssoziologie betrachtet, ist die Rolle der Forschenden für die eben benannte soziale Gruppe im Kontext von rekonstruktiven Verfahren denkbar. Sie bezieht sich dabei auf die Standortgebundenheit des Denkens nach Mannheim, die im Kontext von Autismus als Betroffenheit und Perspektivität gedeutet werden kann (ebd., 217ff.). Gleichwohl „[d]ie eigene Standortgebundenheit […] gerade deshalb nicht so einfach zu suspendieren [ist], weil sie überwiegend durch vorreflexive, habituelle Wissensbestände strukturiert ist“ (ebd., 219; Hervorh. im Original), würde diese Lesart implizieren, dass betroffene Forscher:innen die Lebenswelt ihrer eigenen sozialen Gruppe nicht untersuchen dürften. Ebenso wie Mannheim, plädiert Wagner-Willi dafür, diese Standortgebundenheiten methodisch zu kontrollieren (ebd., 217): „Hier gilt es, [die Phänomene] zu erforschen, als seien sie fremd“ (ebd., 221). Weitere Ausführungen von Wagner-Willi (2011) lassen den Schluss zu, dass das explizite Wissen und die subjektiven Theorien betroffener Forscher:innen nicht als alleiniges Qualitätskriterium gelten kann (ebd., 68). Diesen Anspruch verfolgen allerdings partizipative Forschungsansätze, somit ist ein partizipativ-rekonstruktiver Ansatz durch ein gewisses Spannungsverhältnis geprägt. Dieser kleine Exkurs sollte verdeutlichen, dass Vertreter:innen rekonstruktiver Verfahren u. a. aufgrund dieser Auffassungen, einer Verschränkung von partizipativen und rekonstruktiven Ansätzen kritisch gegenüberstehen. Nach unserer Ansicht, geht allerdings aus den Ausführungen nicht hervor, von wem eigentlich die Rede ist, wenn von Personen die der gleichen sozialen Gruppe angehören, gesprochen wird. Auf verschiedenen wissenschaftlichen Tagungen, auf denen wir das Forschungsvorhaben vorgestellt haben, haben wir einerseits sehr positive und bestärkende Rückmeldungen erhalten, aber andererseits wurden irrtümliche Annahmen an uns herangetragen. Hierbei handelte es sich um die Annahme, dass es sich bei der Gruppe der Studienteilnehmenden, also der Biograph:innen, um die gleichen Personen handelt, die in der Rolle der Co-Forschenden an der Datenauswertung beteiligt sind. Das hat uns dazu veranlasst uns mit dieser Auffassung im Rahmen unserer gemeinsamen Auswertungsrunden auseinanderzusetzen. Uns war zu jeder Zeit klar, dass das Herausarbeiten und Rekonstruieren der eigenen latenten Sinnstrukturen eher in Richtung Psychoanalyse und Selbsterfahrung (Sigmund Freud) geht und dass das im Kontext eines biographieanalytischen Zugangs nicht zielführend ist. Sind Studienteilnehmende die gleichen Personen, wie die Co-Forschenden, kann eine reflexive Haltung gegenüber dem Material (also den eigenen Aussagen) und eine Distanzierung von den eigenen Vorannahmen sowie Erwartungen nicht praktiziert werden. Diese Aspekte sind wie bereits aufgezeigt wurde, der rekonstruktiven Forschung per se eingeschrieben. Allerdings war uns nicht bewusst, dass der Großteil unseres Publikums davon ausgegangen ist, dass genau das praktiziert wird. Werden allerdings Personen, die zwar zum Personenkreis der beforschten Personen gehören, aber andere sind, als die Studienteilnehmenden, in den Forschungsprozess einbezogen, ist die vorangegangene Argumentation von Wagner-Willi nicht haltbar. Denn das hieße ja, autistischen Personen würde man per se absprechen, eine kritische Distanz und eine Reflexivität einnehmen zu können.
Anfangs haben wir diese Annahme immer wieder als humorvolle Anekdote thematisiert, wie A.H. treffend beschreibt:
„‘Achso, die beforschen sich gar nicht selber, die beforschen andere Autist:innen‘, also die Kommunikation oder die Erwartungshaltung ist irgendwie in den akademischen Kreisen noch nicht sauber. Also die gehen zum Teil mit sehr fragwürdigen Erwartungshaltungen rein: ‚Das haben die erwartet?‘. […] Es ist doch klar, dass wir nicht über uns selber forschen, sondern über andere, sonst ist es doch keine Forschung“.
Auch K.D. äußert sich kritisch zu der Annahme, die Co-Forschenden würden sich selbst beforschen und kommentiert das wie folgt: „Also ich meine, du kannst ja keine Person dazu fragen, nenne mir mal deine blinden Flecke. Wenn sie die blinden Flecke benennen könnte, wären sie keine mehr“. Darüber hinaus bekräftigt er hinsichtlich einer Analyse des eigenen Datenmaterials folgendes: „[…] Also du kannst ja von einem Menschen nicht eine Hermeneutik seiner eigenen Aussagen erwarten. Es gehört eine andere, eine fremde Perspektive dazu, für die dieser Satz neu ist“.
Im Laufe der Zeit haben wir jedoch festgestellt, dass wir diesen Sachverhalt auch method(olog)isch (er)fassen und einordnen müssen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass sich die Lesart durchsetzt, dass damit andere Personen gemeint sind, dann ist die Argumentation der rekonstruktiven Forschung nicht haltbar. Grundsätzlich sieht die gängige Praxis einhergehend mit Otten und Hempel (2023) innerhalb der rekonstruktiven Forschungslandschaft i.d.R. nicht vor, Akteur:innen in den Forschungsprozess einzubeziehen, die der gleichen Gruppe wie die der beforschten Personen angehören und z. B. am Auswertungsprozess beteiligt sind. Vertreter:innen rekonstruktiver Ansätze gehen davon aus, dass durch rekonstruktive Verfahren die eigene Relevanzsetzung ausreichend berücksichtigt wird. Trotz Forderungen nach mehr Partizipationsmöglichkeiten, wird das traditionelle Vorgehen jedoch kaum hinterfragt. Nach wie vor gibt es eine stringente Trennung zwischen „alltagstheoretischem Verstehen der Akteur:innen in den beforschten Kontexten (als Gegenstand der Forschung) und wissenschaftlicher Analyse durch methodisch kontrolliertes Fremdverstehen (als Modus rekonstruktiver Forschung)“ (ebd., S. 211). Das bedeutet, dass nicht in Betracht gezogen wird, gemeinsame Erkenntnisarbeit zu realisieren, bei der es um eine multiperspektivische Deutung des Wissens der beforschten Personen geht (ebd.). Diese grundsätzliche Inkongruenz zwischen der Forderung nach Partizipation und der traditionellen Forschungspraxis beschreibt A.H. folgendermaßen:
„Genau und ich glaube da gibt es ganz viele Barrieren, dass Leute, wenn sie erstmal eine Vorannahme haben, ob es jetzt so eine ist oder Autist:innen können nicht akademisch forschen, weil die sind nicht in den Kreisen oder whatever, dass sobald da eine Vorannahme da ist, dass es sehr schwer ist, diese Vorannahmen zu killen oder wieder zu bereinigen, dass sich Leute da sehr schnell selber in Schubladen schieben oder andere in Schubladen schieben“.
K.D. schlägt an dieser Stelle vor, das Ganze aus der gegensätzlichen Perspektive zu betrachten: „Ob eine Sache stimmt oder nicht, dreh sie einfach um und das bedeutet: Dürfte dann ein neurotypischer Mensch, einen neurotypischen Menschen [beforschen]?“. Seine Argumentation soll verdeutlichen, dass die Kritik daran, dass autistische Co-Forschende die Lebenswelt anderer Autist:innen vor dem Hintergrund einer rekonstruktiven Methode untersuchen, völlig haltlos ist. Er konkretisiert das im Kontext der Psychotherapie auf folgende Weise: „Dann wäre es völlig sinnlos, in die Therapie zu gehen, weil dort ein neurotypischer Mensch sitzt. Also dann dürften neurotypische Psycholog:innen, neurotypische Patient:innen nicht untersuchen. Völliger Quatsch. Aber das meine ich, diese Asymmetrie in der Perspektive. Wieso sind neurotypische Menschen nicht in der Lage, das, was sie sagen, was sie fordern, mal umzukehren und zu schauen, ob es dann immer noch stimmt. Und das ist aber etwas, was Autist:innen ein Leben lang begleitet, dass an [sie] Anforderungen gestellt werden, die ein neurotypischer Mensch selbst gar nicht leisten kann“.
Schlussendlich bekräftigen diese Ausführungen, dass auch die rekonstruktive Forschung nicht umhinkommt, ihr bisheriges traditionelles Vorgehen zu hinterfragen. Denn genau das bringt mit den Worten von K.D. „die Notwendigkeit der Partizipation wieder mit rein“.
Fazit
Aus unserer Sicht, stellt sich nicht mehr die Frage, ob partizipativ geforscht werden soll, sondern inwiefern sich die rekonstruktive Forschungspraxis einer solchen Verschränkung gegenüber offen zeigt. Eine Multiperspektivität hätte
„[…] das Potenzial für reichhaltigere und differenziertere Lesarten. Diese wären aufgrund unterstellter oder tatsächlicher Betroffenenerfahrung weder wahrer noch befangener als alle sonst üblichen Interpretationen durch Wissenschaftler*innen“ (Otten & Hempel 2023, 216).
Damit einhergehend äußert A.H.
„[…] irgendwann gehen einem Sachen verloren, wenn man sagt ‚naja, nur jemand, der in Anführungsstrichen wirklich Wissen durch Forschung erlangt hat, kann auch zu dem Thema was sagen‘. Da spielen wirklich Wahrnehmung, Emotionen alles mit und sobald es um unterschiedliche Wahrnehmungen geht, kannst du dich auch nicht mehr in die Leute reinversetzen, das geht halt nicht“.
Das bedeutet, dass sich rekonstruktive Forschungsansätze diesen exkludierenden Praktiken nicht entziehen können, vor allem dann nicht, wenn es sich um einen biographietheoretischen Zugang handelt, der soziale oder psychische Phänomene eingebettet in den Gesamtzusammenhang verstehen und erklären möchte (Rosenthal 2015, 193). Die Analyse des Datenmaterials in einem partizipativen Setting kann nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung der Forschungsfrage leisten, sondern den autistischen Co-Forschenden wird die Möglichkeit gegeben, vor dem Hintergrund der Erfahrungen und des Erlebens der Biograph:innen solche Zuschreibungen zu verhandeln und mit ihrer eigenen Deutungsweise am Diskurs teilzuhaben.
Vor allem hinsichtlich der hier diskutierten Fragestellung,
„[…] ist das hier beschriebene partizipativ-rekonstruktive Dissertationsvorhaben, als Lernprozess zu verstehen, der vor allem Möglichkeitsräume für alle Beteiligten eröffnet und die eigene (Selbst-)Reflexivität der Forscherin stärker befördert als ein Vorgehen, das gemeinsame Interpretation vorrangig in akademisch geschulten Gruppen vornimmt“ (Schipp 2023, 157).
Den Beitrag wollen wir mit folgenden Worten von K.D. schließen:
„Wir sind für alles blind, was konstant ist und solange der Neurotyp nur unter sich agiert, wird er diese Dinge nicht wahrnehmen, selbst wenn du ihn danach fragst, wird er sie nicht aufzählen können. Es braucht letztendlich Autist:innen, die die Dinge in Bewegung bringen, damit auch der neurotypische Mensch versteht, wie wir funktionieren. Und nur dann, wenn der Neurotyp tatsächlich in der Lage ist, seine eigenen Bewältigungsstrategien zu definieren, lässt sich überhaupt sinnvoll die Frage beantworten ‚Was ist ein Autist?‘“.
Literatur
Defila, R. & Di Giulio, A. (2018): Partizipative Wissenserzeugung und Wissenschaftlichkeit – ein methodologischer Beitrag. In: Defila, R. & Di Giulio, A. (Hrsg.): Transdisziplinär und transformativ forschen. Eine Methodensammlung. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß. Wiesbaden: Springer Verlag, 39-68.
Demmer, C. & Heinrich, M. (2018): Doing rekonstruktive Inklusionsforschung? Zu den Schwierigkeiten, methodisch aufgeklärt innerhalb eines normativ aufgeladenen Forschungsfelds zu agieren. In: Heinrich, M. & Wernet, A. (Hrsg.): Rekonstruktive Bildungsforschung. Zugänge und Methoden. Wiesbaden: Springer Verlag, 177-190.
Farin-Glattacker, E.; Kirschning, S.; Meyer, T. & Buschmann-Steinhage, R. (2014): Partizipation an der Forschung – eine Matrix zur Orientierung. Ausschuss „Reha-Forschung“ der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) und der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW) https://www.dvfr.de/fileadmin/user_upload/DVfR/Downloads/Stellungnahmen/Partizipation_an_der_Forschung_%E2%80%93_eine_Matrix_zur_Orientierung_Ef.pdf [20.12.2024].
Mannheim, K. (1929): Ideologie und Utopie. Bonn: Verlag von Friedrich Cohen.
McQuaid, G. A., Raitano Lee, N., & Wallace, G. L. (2022): Camouflaging in autism spectrum disorder: Examining the roles of sex, gender identity, and diagnostic timing. In: Autism, 26(2), 552–559. https://doi.org/10.1177/13623613211042131 [20.12.2024].
Otten, M. & Hempel, S. (2023): Epistemische Teilhabe an rekonstruktiver Forschung zur Sozialen Arbeit. In: Köttig, M.; Kubisch, S. & Spatscheck, C. (Hrsg.): Geteiltes Wissen – Wissensentwicklung in Disziplin und Profession Sozialer Arbeit. Leverkusen: Barbara Budrich Verlag, 209-220.
Preißmann, C. (2020): Asperger-Mädchen und -Frauen sind anders anders. In: Preißmann, C. (Hrsg.): Überraschend anders ‒ Mädchen und Frauen mit Asperger, 2. Aufl. Stuttgart: TRIAS, 8-14.
Rosenthal, G. (2001): Biographische Methode. In: Keupp, H. & Weber, K. (Hrsg): Psychologie: Ein Grundkurs. Reinbek b. Hamburg: Rowphlt-Taschenbuch Verlag, 266-275.
Rosenthal, G. (2015): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. 5., aktual. u. erg. Aufl. Weinheim: Juventa Verlag.
Schipp, C. (2023): Partizipation in der Biographieforschung: Menschen im Autismus-Spektrum als Co-Forschende. In: Sonderpädagogische Förderung heute 68(2), 146-159.
Schipp, C.; Hübscher, E.; Deutscher, K. & Hesse, A. (2024): „Es war ein seltenes Glück, dass man uns nicht nur anhörte, sondern auch zuhörte, dass wir in unseren analytischen Fähigkeiten ernst genommen wurden“ – Epistemische und machtkritische Herausforderungen im Kontext eines partizipativ-rekonstruktiven Forschungsprozesses. In: Goldbach, A.; Langner, A.; Mannewitz, K.; Schuppener, S. & Leonhardt, N. (Hrsg.): Macht und Wissen – kritische Reflexionen im Kontext von Inklusion und Exklusion. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag, 193-202).
Wagner-Willi, M. (2011): Standortgebundenheit und Fremdverstehen. Anmerkungen zum Schwerpunktthema „Partizipative Forschung“ der Teilhabe 1/11. In: Teilhabe, 50(2), 66-68.
Wagner-Willi, M. (2016): Kritischer Diskurs Inklusiver Forschung aus Sicht der praxeologischen Wissenssoziologie. In: Buchner, T.; Koenig, O. & Schuppener, S. (Hrsg.): Inklusive Forschung. Gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten forschen, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 216-230).
Wright, M. T; Block, M. & von Unger, H.: (2010) Partizipation in der Zusammenarbeit zwischen Zielgruppe, Projekt und Geldgeber/in. In: Wright, M. T. (Hrsg): Partizipative Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung und Prävention. Bern: Hans-Huber, 75-92.
carina.schipp@paedagogik.uni-halle.de
Fußnoten:
[1] Wörtliche Rede wird dabei mit Anführungszeichen gekennzeichnet.
[2] Die Kürzel kennzeichnen, welche Aussage von welcher Person stammt.