
Dieses Essay versteht sich als Versuch eines subjektiv formulierten Auftrags und zugleich Verantwortung für die Heilpädagogik als Wissenschaft und Praxis. (Markus Wolf, Januar 2025)
Heilpädagogik zwischen akademischer Ausbildung und Handlungspraxis – Zusammenhänge und Dilemmata zwischen Theorie und Praxis für das Verständnis von Person und persönlicher Erfahrungswirklichkeit in der Heilpädagogik
Heilpädagogik sollte als Handlungswissenschaft verstanden werden, die der von ihr angesprochenen Person im phänomenologischen Sinn ihre eigene erfahrbare Handlungswirklichkeit zutraut und auch anerkennt.
Dabei hat sich die Heilpädagogik in der Wissenschaft selbstkritisch zu hinterfragen, ob sie den Weg der notwendig gebotenen ethischen Verantwortung zugunsten einer rein objektiven Theorie- und Zielperspektive verlässt, die sich in theoretischen Denkmodellen verliert und dabei die subjektiven Perspektiven wie Personalität, Bedürfnisse, Lebenslagen etc. der von ihr adressierten Personen vernachlässigt oder gar außer Acht lässt. So würde die Heilpädagogik als Wissenschaft Gefahr laufen, diejenigen „zu verlieren“, die Inhalte der (wissenschaftlichen) Diskurse sind – Subjekte als Personen. Sie würden objektiv „veräußert“ und zum Spielball normativer Theorie- und Zielperspektiven werden.
Heilpädagogische Wissenschaft muss insbesondere auch auf die persönlichen Lebensverhältnisse hin ausgerichtet sein. Das kann sie aber nur, wenn sie nicht nur deskriptiv die Wirklichkeit erforscht und erklärt (vgl. Speck 2008, 90). Verliert die akademisch-wissenschaftliche Heilpädagogik das angesprochene Subjekt – also die einzelne Person – aus den Augen? Beziehungsweise: Nimmt sie diejenigen mit, über die sie im wissenschaftlichen Diskurs spricht?
Ausgehend vom Artikel „Heilpädagogik und die Frage nach dem Subjekt – Nehmen wir diejenigen mit, über die wir sprechen? Ein Plädoyer für die Heilpädagogik als Praxis und Handlungswissenschaft" und in Anlehnung an die im Dezember 2024 gehaltene Vorlesung des Autors innerhalb der Ringvorlesung „Fokus Person“ der Europäischen Akademie für Heilpädagogik mit dem Titel „Theorie und Praxis: Theorie-Perspektiven in der Heilpädagogik und ein besonderer Blick auf die Person“ versteht sich dieses Essay als thematische Fortsetzung sowie als Versuch eines subjektiv formulierten Auftrags und ist zugleich bestrebt, die Verantwortung der Heilpädagogik als Wissenschaft und Praxis zu begründen. Es drängen sich sicherlich weitere Fragen auf, die eine fortlaufende Reflexion notwendig erscheinen lassen, was aus Autorensicht unweigerlich zum Werkzeug heilpädagogischer Professionalität gehört.
Zu den aktuellen Spannungen – ein subjektiver Blick auf die objektiv-distanzierte Perspektive der akademisch-wissenschaftlichen Heilpädagogik
Zugunsten der theoretisch-objektiven Anerkennung des „Fremden“ in all seinen Erscheinungsformen und der Heterogenität im Allgemeinen soll insbesondere der Abwendung von Defizitorientierung Rechnung getragen sein. Der Blick wird vor allem auf Benachteiligungserfahrungen, Teilhabebarrieren und -prozesse gerichtet. Häufig entsteht dabei ein Theoriekonstrukt, das einseitig auf die je individuelle Freiheit der Selbstbestimmung und -entfaltung Bezug nimmt. Unberücksichtigt, da ausgeblendet, werden soziale und personale Interdependenzen, die Anerkennung subjektiv erfahrener Lebenslagen und Förderbedarfe als persönliche Erfahrungswirklichkeit, Momente des gemeinsamen Aushaltens, des Mitleidens, der Für- und Seelsorge. Eine Gefahr besteht darin, dass diese als nicht mehr zeitgemäß abgestraft werden.
Auf der einen Seite erleben wir einen Diskurs in der Wissenschaft, z. B. über die Profession Heilpädagogik selbst, einschließlich der „aufgeworfenen Zweifel an der Legitimität einer heil- und sonderpädagogischen Disziplin und Profession“ (Dederich & Seitzer 2024, S. 42) oder der „Aussicht auf die Aufhebung der Disziplin in einer inklusiven Pädagogik“ (ebd.) (engl. inclusive education). Anders, als es im Kontext der schulischen Sonderpädagogik der Fall ist – Bezug nehmend auf die Gestaltung von Unterricht (Organisation, Didaktik – Methodik) –, bleibt in der Heilpädagogik (außerschulisch) die Differenzierung unklar und damit bleibt auch die Professionalisierung für eine inklusive Pädagogik unscharf. Entsteht durch die Neujustierungsversuche – bevorzugt aus einem semantischen und bildtheoretisch konstruktivistischen Verständnis – nicht gerade erst eine besondere (also inklusive) Pädagogik? Sollte im Wesentlichen, recht simpel gemeint, „nur“ die Anerkennung von Heterogenität zum Ausdruck gebracht sein? Ist dadurch die Abgrenzung zu anderen Disziplinen und Professionen weiterhin noch zu „greifen“ sowie einer Handlungspraxis mit ihrer „spezifischen“ Schwerpunktsetzung zuzuordnen? Der Diskurs spitzt sich in jüngster Zeit vor allem zu, wenn Behinderungsphänomene der Begriffskritik unterzogen werden oder Gesellschaftsanalysen im Kontext von Teilhabe und Inklusion vorgenommen werden. Dederich und Seitzer (2024) beobachten „ergebnislose Debatten“ (ebd., 42), denn „nicht einmal in Bezug auf die grundlegendsten Fragen der Disziplin“ (ebd., 44) gäbe es Minimalkonsense. Es entsteht eine „Zerfaserung der Fachwelt in die verschiedenen Zweige mit ihren jeweiligen Stilprägungen“ (ebd., S42). Sie konstatieren dabei die Zunahme von unterschiedlichen, eher „spezialisierten“ Forschungsinteressen gegenüber einer „Allgemeinen Heilpädagogik“ als Gesamtdisziplin im Hinblick auf das Spektrum der dabei zu bearbeitenden Fragestellungen.
Auch die in der Vergangenheit betonten und in vielerlei Hinsicht theoretisch entfalteten Prinzipien wie z. B. „Ganzheitlichkeit“, „Systemisches Denken“, „Heilpädagogische Haltung“, „Wertgeleitete Heilpädagogik“ oder „Entwicklungsfreundliche Beziehung“ scheinen heute in der akademischen Ausbildung und im wissenschaftlichen Diskurs weniger an Bedeutung zu erfahren, wenngleich nach Bubeck (2020) davon weiterhin unterschiedliche Prinzipien innerhalb von deutschen Hochschuldokumenten im Studiengang Heilpädagogik als grundlegendes Verständnis aufgeführt werden.
Auf der anderen Seite erfährt die Heilpädagogik ein Praxisfeld, auf das sich Absolvent:innen von Hochschulen und damit angehende Heilpädagog:innen in Bezug auf die vielfältigen menschlichen Herausforderungen vorbereitet wissen müssen, um überhaupt handlungsfähig zu sein – also um heilpädagogisch zu „antworten“. Im persönlichen Gespräch des Autors mit Studierenden der Heilpädagogik wird wiederholt das Problem des Mangels an Praxisverankerung theoretischen Wissens geschildert, sprich eines Theorie-Praxis-Transfers im Kontext realer Gegebenheiten und Problemlagen aus dem heilpädagogischen Handlungsfeld. In der heilpädagogischen Praxis ist in den letzten Jahren eine Zunahme an herausfordernden Situationen aus unterschiedlichsten sozial-ökonomischen Gründen zu beobachten. Der Bedarf an qualifiziertem Personal ist unverändert hoch (vgl. Dederich & Seitzer 2024, 42). Vor allem aus der schulischen Sonderpädagogik und Psychologie kommend, gibt es immer neue diagnostische Verfahren und Interventionstechnologien (vgl. ebd.) sowie Analyse- und Beobachtungsbögen im Kontext biografischer Analyse sowie personenzentrierter Teilhabeplanung. Diese Konzepte und „Werkzeuge“ müssen kritisch-prüfend verstanden sein, um im Handlungsfeld sensibel herangezogen zu werden.
In einer reflexiven, akademischen Welt geht es vor allem um einen distanzierten und damit externen Blick von außen. Man könnte argumentieren: Es benötige in der Heilpädagogik diesen Blick von außen, als einen Blick mit Abstand, Objektivität sowie als Reflexionsscheibe und als formuliertes Ziel. Bliebe die akademisch-wissenschaftliche Heilpädagogik zu stark am Subjekt und damit auch an Personen-Merkmalen verhaftet, verliere sie den Blick für die soziokulturellen Ausschluss- bzw. Behinderungsmomente.
Eng verbunden mit einem konstatierten „objektiven“ Blick scheint eine diagnostische Einschätzung. Geht es nun bei diagnostischem Vorgehen um die „Personifizierung“ von Behinderung und Förderbedarfen und damit um eine „Kategorisierungspraxis“, um das praktische Handeln zu systematisieren, es zu vereinfachen, besteht die große Gefahr, soziale und Umweltfaktoren sowie kulturelle Reproduktionen zu vernachlässigen und zu missachten. Damit stünde eine Defizitorientierung im Mittelpunkt. So ist auch in jüngerer Zeit im wissenschaftlichen Diskurs die wiederholte Kritik zu vernehmen, dass die Heil- und Sonderpädagogik Konzepte wie „Förderbedarf“ oder „Empowerment“ benutze, die im Kern defizitorientiert und interventionistisch seien, somit verkürzt und den komplexen Lebenssituationen der Personen nicht gerecht würden. Es entstehe dadurch für Betroffene ein Anpassungs- und Normierungsdruck. Zudem hätten die Expert:innen das Sagen (vgl. Waldschmidt 2023). Die Kompetenz- und Ressourcenorientierung der Heilpädagogik wird dabei vonseiten der Kritiker:innen kurzerhand ausgeklammert – ob aus unzureichender Kenntnis oder gewollt, bleibt offen. Daran anknüpfend müsste die selbstkritische Frage lauten: „Schafft“ die Heilpädagogik im diagnostischen Sinn Behinderungen und Förderbedarfe, um für sich selbst einen Legitimationsgrund zu haben? Doch bleibt zu fragen: Ist Diagnostik nicht insbesondere eine Methode, um einer bereits bestehenden Behinderungs-Erfahrung, einer subjektiv erfahrenen Entwicklungsbeeinträchtigung, einen „Namen“ zu geben, d. h., sie durch Expertise zu- und einzuordnen, um überhaupt Ressourcen – auch aufgrund bisheriger Vergleichsmomente – abzuleiten? In der heilpädagogischen Entwicklungs- und Förderdiagnostik steht die Person mit ihren Bedürfnissen im Zentrum. Ich frage danach, wie es ihr geht und was sie und ihr unmittelbares Umfeld braucht. Das geht unweigerlich über einen defizitorientierten Blick hinaus und impliziert vor allem eine Ressourcen eröffnende Perspektive, die an Kompetenzen und Präferenzen ansetzt. So wäre es doch zu einfach gesagt, die Heilpädagogik „schaffe“ im diagnostischen Sinn Behinderung, um für sich selbst einen Legitimationsgrund zu haben. Sowohl Körper- wie auch soziokulturelle Erfahrungen sind letztlich personimmanente Erfahrungen und dürfen in einer „unterstützenden“ und „advokatorischen“ Arbeit nicht übergangen werden.
Sobald wir in Kontakt zu einem anderen Menschen treten, nehmen wir ihn und die Situation wahr. In der Folge gestalten wir ein „Bild“ des Gegenübers (bildtheoretischer Konstruktivismus) und stellen dieses über Sprache dar. Um einem Förder- und Unterstützungsbedarf und damit einer gezielt personenzentrierten Ressourcenzuweisung in der pädagogischen Reflexion zu begegnen und um heilpädagogisches Handeln zu erleichtern, greift mein „Wahrnehmungssystem“ auf Erfahrungen und damit zugleich auf Vorstellungs- und Wahrnehmungsmuster wie Kategorien, Bilder oder die sogenannten „Schubladen“ zurück. Dies kann in Anlehnung an die kognitive Psychologie als Metapher (kognitive Tools / Werkzeuge) bezeichnet werden. „Metaphern sind demnach nicht nur schlichte sprachliche, sondern kulturell beeinflußte kognitive Konzepte, mit denen die Erfahrungswelt strukturiert, interpretiert und kommuniziert wird, und die handlungsleitend wirken“ (Schmitt 1995). Merkmale, Phänomene werden theoretisch und sprachlich, auch in Form von Ober-Kategorien, gefasst. Wocken plädiert im Kontext Schule beispielsweise für eine „systemische Ressourcenzuweisung“ (2024, 213) und damit für möglichen Verzicht auf klassifizierende Statusdiagnosen (vgl. ebd.). Das ist sicherlich an der ein oder anderen Stelle sinnvoll. Zumindest wäre es eine Orientierung hin zu einer „kategorialen Bescheidenheit“ (ebd., 214) und zu einer stärkeren Ressourcen-, Kompetenz- und Personenorientierung. Das Dilemma und Problem „der Verbesonderung auf Basis einer Definitionsmacht“ (Dederich & Seitzer 2024, 47) der Heilpädagogik gilt es generell auszuloten. Daher muss auch stets „hinter“ vorhandene Kategorien/Bezeichnungen geschaut werden, die die Person in ihrer Subjektivität zum Verschwinden bringen würden (vgl. ebd., 48). Im Sinne einer professionellen Haltung muss sich die Heilpädagogin bzw. der Heilpädagoge den Kategorisierungsprozessen sowie einer Zuschreibungs- und auch Exklusionspraxis bewusst sein. Die Frage ist dann, wie diese Zuschreibungen möglicherweise wiederum die eigene Wahrnehmung und das Handeln in irgendeiner Form negativ beeinflussen und so einem ressourcen-, kompetenz- und personenorientierten Blick im Wege stehen. Dann bestünde die Gefahr, dass die Selbstreflexion nur noch ungenügend zur Verfügung stehen würde, denn dieser bildtheoretische Konstruktivismus lässt sich nun mal nicht einfach so „ablegen“. Letztlich sind theoretisch gefasste kategoriale Bezeichnungen wiederum auch erst „eine Voraussetzung für wissenschaftliche Reflexion“ (Dederich & Seitzer 2024, 50) – sie „benennen“ Phänomene, die auch dann fortbestehen, würden sie im bildtheoretisch konstruktivistischen Sinne „abgeschafft“ werden (vgl. Zander 2022). Phänomene bzw. Merkmale bleiben im phänomenologischen Sinn bestehen, sind also dann nicht (de-)konstruiert, können aber gesellschaftlich unterschiedlich interpretiert und sprachlich „umgangen“ werden. „Erfahrung, Wissen und Handeln entspringen, wie die responsive Phänomenologie zeigt, nicht aus dem Nichts, sodass sie sich durch Dekonstruktion nicht einfach gleichsam in Nichts auflösen.“ (Dederich & Seitzer 2024, 298)
In der Heilpädagogik geht es schon immer um mehr als ein reines Wissen um Merkmalszuschreibungen, Kategorisierungsmuster und davon abzuleitende Förderbedarfe, sondern um Kompetenz- und Ressourcenorientierung – wohl wissend um die auch im Handlungsfeld der Heilpädagogik durch Zuschreibung stattfindenden Exklusionstendenzen der darin tätigen unterschiedlichen Disziplinen.
Es stellen sich folgende Fragen, die im weiteren Verlauf ein Stück weit zu beantworten versucht werden.
- Wie sollten wir in der Heilpädagogik Theorie und Praxis in ihrer Unterschiedlichkeit, aber auch in ihrer Gemeinsamkeit denken?
- Wie kann Theorie und damit wissenschaftliche Erkenntnis für das praktische Handeln Orientierung geben? Wann gelingt das nicht, weil Erkenntnisansprüche und Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit verloren gehen oder weil der Theorie-Praxis-Transfer ausbleibt?
- Wie gelingt es, die Person in ihrem Sosein in der Heilpädagogik als Wissenschaft nicht aus dem Blick zu verlieren?
Grundlegendes über Theorie und Ableitungen für die Heilpädagogik
Grundsätzlich ist Theorie eine Ansammlung von Aussagen aus dem Betrachten, Beobachten (empirische Grundlagen), also Wissen, das einen Sachverhalt ordnet und erklärt sowie Vorhersagen ermöglichen oder auch eine Lösung anbietet (vgl. Kohler 2022, 39). Wissenschaftliche Theorien sind vor allem geprüft, möglichst eindeutig, transparent und widerspruchsfrei erarbeitet und weisen meist eine übergeordnete Perspektive auf (vgl. ebd., 43). Eine wichtige Anforderung an wissenschaftliche Theorien sind Begründungen für gemachte Aussagen (vgl. ebd., 55). Im günstigen Fall können Ableitungen für die Praxis vorgenommen werden. Im Sinne der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit ist ein Qualitätsmerkmal von Theorien, dass sie nicht nur in einer bestimmten Situation richtig sind, sondern das „Allgemeinere“ umfassen und übertragbar sind – wohingegen die Praxis das „Situative“ adressiert. Die Theoriebildung der Heilpädagogik benötigt eine normative Orientierung – im Sinne einer handlungsleitenden Funktion. Es bedarf daher einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, der transparenten Darstellung und Widerspruchsfreiheit.
Theorien (mit ihren Begriffen) haben in ihrer handlungsleitenden Funktion auch die Kraft, eine Wirklichkeit zu schaffen und das Erleben von Menschen zu beeinflussen (vgl. ebd., 56). Beispielsweise soll im Rahmen von aktuellen Theorien zur Inklusion die „Wirklichkeit“ durch eine andere ersetzt werden (vgl. ebd.), oder im Rahmen fachlich theoretischer Diskussionen um Begrifflichkeiten werden die realitätsstiftenden Dimensionen (vgl. ebd.) bei Begriffen wie Verhaltensstörung oder Behinderung als Begründung für deren Ablehnung (Stigmatisierung) oder Akzeptanz (Begründung für heilpädagogische Maßnahme) angeführt.
Das Wissen um Theorien und daraus resultierende Theoriemodelle und theoretische Ansätze (anwendungsorientierte Theorien), z. B. zu Bindung, kognitiver und sozial-emotionaler Entwicklung oder zur Systemtheorie, verhelfen zu einem grundlegenden Wissen und Verständnis (Wirkungszusammenhänge erschließen) und leiten uns im Denken. Heilpädagog:innen wird es dadurch ermöglicht, Rückschlüsse für das eigene pädagogische Handeln zu ziehen. Sie dienen als Basis zur Reflexion für Handlungsableitungen im Sinne von heilpädagogischen „Schablonen“ bzw. „Werkzeugen“ und weiterführend zur Ableitung von Konzepten, Interventionen und Therapien als Funktion einer übergeordneten Theorie. Dieses Verständnis und daraus resultierende Kompetenzen führen zu einer besseren interdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenarbeit im heilpädagogischen Handlungsfeld. Beispielsweise ermöglicht das Wissen über und zugleich die Berücksichtigung der individuellen sozial-emotionalen Entwicklung die Ableitung bedürfnisorientierter Kontextanpassungen und pädagogisch-therapeutischer Interventionen (z. B. Entwicklungsfreundliche Beziehung, Positive Verhaltensunterstützung).
Führt nun einerseits die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Objektivierung zur Komplexitätsreduktion, stellt andererseits die Objektivität an sich in der geisteswissenschaftlichen Tradition, d. h. die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, ein Problem dar (vgl. Haeberlin 1996). Denn wann ist es in der heilpädagogischen Arbeit mit Personen vor allem eine resonante Beziehung, Intuition oder einfühlendes Verstehen? Dies kann wiederum auch „Erkenntnisquelle“ sein (vgl. Phänomenologie, Hermeneutik). Eine ausgeprägte und geschulte theoriegeleitete Reflexion, die Anwendung empirisch geprüfter Methoden und Interventionen sagen noch nichts über eine heilpädagogische Kompetenz im Sinne professionellen Handelns (Beziehungsgestaltung, Wahrnehmung, Beobachtung, Beratung, Entwicklungsförderung, Teilhabeplanung etc.) aus.
Theorien wollen die Adressat:innen positiv überzeugen. Forschende vertrauen blind der Fähigkeit ihrer Methoden, Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu generieren. Es lässt sich von einem Methodenpositivismus sprechen. Dabei besteht die Gefahr, dass fortwährend die eigenen Vorannahmen bestätigt werden (vgl. Dederich & Seitzer, 2024, 57). Theoriebildung wird durch subjektive Sinnsetzungen, Werte und Vorstellungen sozialer Wirklichkeit beeinflusst. Der reale Einfluss evidenzbasierten Wissens auf die Praxis fällt im Verhältnis zu diesem Anspruch eher ernüchternd aus. Die empirische Forschung ist in ihrem Verfahren der „künstlichen“ Prüfung anhand objektiver Kriterien begrenzt. Sie „bewährt sich an einem theoretischen Modell der Handlungswirklichkeit, nicht an der erfahrenen Wirklichkeit selbst“ (ebd., 55). Es folgen „Übersetzungsprobleme“, und die realen Handlungssituationen der Personen sind meist erheblich komplexer, als im empirischen Forschungsdesign abgebildet. Um Ursache-Wirkung-Zusammenhänge zu untersuchen, können zugleich nicht alle weiteren notwendigen Variablen, Zusammenhänge und Einflussfaktoren eingefangen und abgebildet werden – bspw. Lernen im Unterricht, kindliche Entwicklung im Kindergarten gegenüber weiteren Entwicklungseinflüssen oder biografischen Dispositionen etc. Noch orientiert sich z. B. auch die Teilhabeforschung stark an von Dritten erfassten und beschriebenen Strukturen von Gesellschaftsbereichen und weniger an der subjektiven Perspektive der Betroffenen selbst (vgl. Wolf & Fränkle 2022, 22). Beispielsweise werden entwicklungspsychologische Aspekte in der Teilhabeplanung bislang kaum berücksichtigt (vgl. Brösner & Löhmannsröben 2024, 28). Es werden insbesondere von Dritten erfasste, strukturelle Dimensionen aufgegriffen. Häufig ist aber Unterstützung im sozial-emotionalen oder kognitiven Bereich notwendig – personenzentrierte Bedürfnisse und Interessen, gerichtet auf individuelle Teilhabebereiche, die mehr umfassen als Aktivitäten im weiteren Sozialraum. Hierfür muss ich (auch im theoretischen Sinn) Kenntnis über das sozial-emotionale Entwicklungsprofil haben, um Bedürfnissen gerecht zu werden, Lernsituationen bedürfnisorientiert anzubieten und zu gestalten und Über- oder Unterforderung entgegenzuwirken (vgl. ebd., 29).
Aus einer umfassenden Erkenntnis sowie einem freieren Wissen um Gründe und Ursachen resultiert eine zunehmende Distanznahme zur Praxis. Das Ziel besteht darin, theoretisches Wissen zu erwerben und zu erweitern, um zu einem selbstzweckhaften, freien Betrachten zu gelangen (vgl. Menth 2021, 194). Theorien liefern vor allem einen Blick von „außen“ mit Abstand, Objektivität. Sie dienen als Reflexionsscheibe und formulieren damit ein Ziel. Für die Selbstreflexion pädagogischen Handelns und damit die Möglichkeit einer Erweiterung eigener Einstellungen, Haltungen und Handlungen ist es notwendig, sich mit Themen des alltäglichen Praxisfeldes auch im Besonderen theoretisch auseinanderzusetzen – sprich, sich an der Theorie zu orientieren und zu reflektieren. Praktiker:innen der Heilpädagogik müssen immer wieder ihre „subjektive Brille“ abnehmen, um ihr eigenes Denken und Handeln in der Reflexion zu hinterfragen und weiterführende Antworten zu bekommen (wiederholtes Reflektieren), die einem mehr sagen als das eigene Bauchgefühl (vgl. Wolf & Fränkle 2022, 22), denn eingefahrene Routinen „bremsen“ aus. Praxis „aus dem Bauch heraus“ ist dann genauso unangemessen wie menschenferne Theorie. Eine wissenschaftlich-analytische Distanz kann dabei festgefahrene Handlungsstrukturen aufzeigen und Gewohntes aufgrund externer Maßstäbe in Frage stellen (vgl. Dederich & Seitzer 2024, 247). Theoretische Ansätze können die Kommunikation in der Praxis vereinfachen, so werden Sachverhalte ein Stück weit objektivierbar. Über einen wissenschaftlich fundierten Verstehensprozess kann es gelingen, wieder Handlungsmöglichkeiten zu finden (vgl. Steffens 2024, 25).
Die Aufgabe der Heilpädagogik als Handlungswissenschaft ist es, die Metaebene (Theorieperspektiven) in die Praxis zu transferieren und systemisches Denken mit subjektorientierten Positionen zu vernetzen (vgl. Wolf & Fränkle 2024, 18). Theorie ist stets im Spannungsfeld zur angewandten Praxis kritisch zu reflektieren, wenn sie im praktischen Kontext verankert und verstanden sein will. Was wir sonst erleben, ist und bleibt eine „intellektuelle“ Debatte ohne Anwendungsbezug und damit eine nicht zu überwindende Distanz zwischen den jeweiligen Denk- und Erfahrungswelten, also zwischen Theorie und Praxis (vgl. Wolf & Fränkle 2022, 22). Wenn diese Disposition unreflektiert durchschlägt, wird Wissen produziert, das unter praktischen Gesichtspunkten belanglos ist, weil die in der Forschung benutzten Kategorien sich nicht mit der sozialen Praxis in Einklang bringen lassen oder weil im wissenschaftlichen Duktus und Inhalt keine Anknüpfungspunkte an die Praxis mehr hergestellt werden können, also keine Bedeutung zugeschrieben werden kann. Das ist auch der Fall, wenn Wissen unter Bedingungen gewonnen wurde, die nicht auf komplexe Praxissituationen übertragbar sind, also kein Theorie-Praxis-Transfer möglich ist, oder unter theoretischen Vorannahmen zustande kommt, bei denen die wissenschaftlichen Ableitungen in der sozialen Praxis erst gar nicht zum Gebrauch stehen (vgl. Altrichter et al., 2005). Haeberlin sagte bereits in den 90er-Jahren, dass möglicherweise bei vielen der „Druck zur Legitimation als Wissenschaft“ einer Berufsethik der „Wertgeleiteten Heilpädagogik“ im Wege stehe (vgl. ebd. 1996, 350). Es besteht ein Drängen nach Objektivität.
In der Heilpädagogik haben wir es vor allem mit Handlungstheorien zu tun. Wissenschaftliche Forschung in den Sozialwissenschaften bezieht sich auf soziale Praxis (vgl. Altrichter et al. 2005). Es sollte keine Hierarchie zur Praxis entstehen (Dialektik). Das Handlungsfeld der Heilpädagogik selbst ist, wie aufgeführt, wiederum im Spiegel wissenschaftlicher Analyse und theoretischer Fragen zu sehen. Handlungs- bzw. anwendungsbezogene Theorien haben für den Kernauftrag der Heilpädagogik dabei den meisten Nutzen (vgl. Kohler 2022). Nach Kohler kann zu einer Professionalisierung der Heilpädagogik dann beigetragen werden, wenn der Fachöffentlichkeit systematisch ein Mehr an „Einzelfallstudien“ zur Verfügung gestellt würde (vgl. ebd., 269). Handlungswelten gilt es zu erfassen und hermeneutisch zu durchdringen. Die Entwicklung und Festigung eines professionellen Habitus gelingt dann aus Wissen und Fertigkeiten im Kontext praktischer Arbeitsprozesse (vgl. Altrichter et al. 2005). Gerade die Einbeziehung der Person verlangt die Verbindung von Theorie und Praxis.
Ein interaktionistisches Verständnis biete nach Kobi dabei eine Chance, empirische Pädagogik wieder mit Praxis und persönlichen Erfahrungen zu verbinden (vgl. Weisser 2012, 38). Der Theorie-Praxis-Transfer ist stets durch Dialog geprägt, der die Erfahrungen beider Seiten integriert.
„Heilpädagogische Reflexion steht also vor einer komplexen Aufgabe. Sie muss sich zum einen auf empirische Fakten beziehen; zum anderen muss sie hermeneutisch und phänomenologisch versuchen, den Anderen und seine Situation in das eigene erklärende System einzupassen, aber dabei begäbe sie sich in Gefahr, ihn zu veräußern, seine innere Welt zu missachten und sich ihm zu entfremden.“ (Speck 2008, 22) „Heilpädagogik […] hat nicht nur einen Forschungsgegenstand auf der Objektebene der […] Person, sondern auch ein Mandat auf der Subjektebene der […] Person.“ (Kobi 1985, 126, zit. nach Haeberlin 1996, 320) Ansonsten kommt es zu einer Objektivierung der Person und der Untergrabung einer selbstbestimmten Erzählung des Lebens. Theorie kann nie vorwegnehmend und vorschreibend gegenüber der Praxis und der Erfahrung sein. So ist es wichtig, dass Heilpädagog:innen grundlegend wahrnehmen, beobachten und beschreiben, bevor sie analysieren und erklären. Die Person als erfahrendes Subjekt darf – im phänomenologischen Sinn – nicht ausgeklammert werden. Wenn alles Subjekt-Relative aus der Beschreibung ausgeklammert wird und sich auf das beschränkt, was quantitativ darstellbar ist, dann hat der empirisch-pragmatische Stil ein recht begrenztes Verständnis von Erfahrung (vgl. Dederich & Seitzer 2024, 113). Denn: „Alles, worüber wir objektive Feststellungen machen wollen, ist zunächst und zugleich Erfahrung von Jemandem.“ (ebd., 110) Die Phänomenologie als deskriptive Wissenschaft (bspw. Husserl, Merleau-Ponty) bietet hierbei eine Zugangsweise des genauen Hinsehens, Beschreibens und Analysierens. Für die Untersuchung nimmt die Phänomenologie die Erste-Person-Perspektive des Subjekts ein (vgl. ebd., 114). Die Erscheinungsweise der Welt ist durch das Verhältnis des Subjekts zur Welt bestimmt (vgl. ebd., 118). Die Phänomenologie versucht, das Fremde (von der Person aus) „zu denken“. Die Erscheinungsweise der Welt ist also durch das Verhältnis des Subjekts zur Welt bestimmt (vgl. ebd.). „Als Methode verstanden geht es in der Phänomenologie […] darum, das im Bewusstsein Gegebene, das heißt die Erfahrung, unter Verzicht auf theoretische Vorannahmen zu beschreiben.“ (ebd., 120) Dies dient der Vermeidung interpretativer Umdeutungen der Erfahrung (möglichst vorurteilsfrei, von Vorannahmen Abstand nehmend). Personen, insbesondere solche mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, sind keine generalisierbaren Subjekte – es bleiben Unbezeichenbarkeiten, wissenschaftlich nicht abbildbare Momente heilpädagogischer Praxis, vor allem bei subjektiven Erfahrungen. Über die Person und ihre Wahrnehmung kann nicht verfügt werden. Die Person ist mehr, als wir über sie wissen.
Theorie als Über-Größe – oder besser gesagt: Es ist die Rede vom „Theoretisieren“
Wir erleben sowohl innerhalb des theoretischen Diskurses wie auch aus Ableitung aus dem praktischen Handlungsfeld, dass Theorie teilweise auf einer „Metaebene“ bleibt, die bewusst Einzelfälle übergeht und für individuell unterschiedliche Lebenswirklichkeiten unzulänglich ist. Es bleibt beim „Theoretisieren“ – im Sinne von Denken und Deuten. So besteht die Gefahr der reinen Meinungen, Vorstellungen und Visionen. Es wird versucht, Begriffe oder soziales Handeln gedanklich zu erfassen (Gedankengebäude). Begriffe tauchen dabei unreflektiert auf. Sachverhalte werden einfach übernommen, sind also nicht abgesichert. Es entsteht eine Reduktion auf der Ebene eines abstrakten bildtheoretischen Konstruktivismus. Wissenschaftssprache ist heute voll von wertenden Sätzen – dabei in vielen Teilen ohne wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch, nicht analytisch-hermeneutisch begründet und intersubjektiv nachvollziehbar, was eigentlich ein Minimalprinzip der Wissenschaft und ihrer Forschung ist.
Zu beobachten ist in verschiedenen Ausprägungen des kritisch-dekonstruktiven Stils die Tendenz, Fragen und Probleme ausschließlich auf einer abstrakt-theoretischen Ebene zu verorten, dabei jede lebensweltliche und erfahrungsbezogene Dimension der Fragen auszublenden, um diese auf einer theoretischen Ebene unter Rückgriff auf Begriffe wie Diskurs, Struktur, Macht usw. zu diskutieren (vgl. Dederich & Seitzer 2024, 62 f.) (bspw. Begriffskritik zu Behinderung). Es geht um weniger als ein reflexives, geprüftes (empirisch), analytisch-hermeneutisches „Nachdenken“. Die Folge ist ein kurzschlüssiges, assoziatives, unreflektiertes und wenig hergeleitetes Theoriekonzept/-konstrukt – positiv besetzt, an Ideale geknüpft –, das abhängig von den jeweiligen Gesellschaftsbildern ist. Damit verbunden sind häufig unangemessene, überhöhte Ziele und Kriterien, die der Praxis zu visionär und nicht zumutbar erscheinen – aufgrund der Unmöglichkeit der direkten deduktiven Anwendung „wissenschaftlicher“ Ergebnisse (vgl. Altrichter et al., 2005). Handlungsableitungen sind vorerst nicht zu ziehen. Es bedarf wiederum erst der Analyse, Prüfung und der Praxis zur Konkretion. Dabei bleibt stets die Gefahr bestehen, dass vor lauter Abstraktheit der Bezug zum Handlungsfeld verloren geht. „Theorie“ wird dann nicht mehr „greifbar“, sondern sie wird zur „Prosa“. Die Inklusionsforschung sei nach Boger (2019) beispielsweise voll davon (vgl. ebd., 17). „Reines Theoretisieren ohne Bezug zur Empirie ist eher gefährdet, abgehoben und ohne Bezug zur Realität zu sein.“ (Kohler 2022, 55) Theoretisieren konstruiert allerdings Wirklichkeit (vgl. ebd.) – oder besser gesagt: eine „vermeintliche“ Wirklichkeit?! Beispielsweise läuft der inflationäre Gebrauch von Begriffen Gefahr, auf Probleme der Zukunft nicht zu reagieren und sensibel wie professionell einzugehen, da anwendungsbezogenes Wissen untergeht und vor allem Ableitungen ausbleiben sowie Übergangsprozesse nicht aufgezeigt werden. Im phänomenologischen Sinn subjektive Erfahrungen werden begrifflich schon gar nicht mehr gefasst, wodurch Personen „ausgeklammert“ werden, die z. B. leibliche Beeinträchtigungen als subjektiv hinderlich erfahren und auf die es auch im heilpädagogischen Kontext zu antworten gilt (vgl. Felder 2018, 81). Die Strategie, Begriffe wie z. B. Inklusion, Partizipation oder Interdisziplinarität dabei nur noch verkürzt als verbale Löschdecken über alle möglichen Probleme zu legen, wird weder dem Anspruch einer Wissenschaftstheorie noch dem einer Pädagogik gerecht, die einer komplexen Wirklichkeit Rechnung zu tragen beansprucht (vgl. Dederich & Seitzer 2024, 44 f.).
Ein heilpädagogisches Verständnis von Person und persönlicher Erfahrungswirklichkeit
Die „Heilpädagogik geht davon aus, dass jeder Mensch bedingungslos Person ist und es nicht erst noch werden muss“ (BHP 2022, 11). Der Person werden Würde und Schutz zugesprochen. Die Person ist ein psychisches System, Trägerin individueller Eigenschaften, Interessen, sozialer Rollen, von Rechten und Pflichten. In der Person finden Bewusstsein, Denken, Beziehung und Kommunikation, bewusstes Handeln sowie unbewusstes Verhalten ihren Ausdruck. Es gibt auch etwas, das sich dem Gegenüber und damit dem sprachgebundenen Zugang verschließt, einen Zwischenbereich, erfahrungsbasiert und subjektspezifisch – eine Art „Persönlichkeit der Individualität“.
Die Person kann theoretisch gefasst und abgebildet werden, ist aber ohne das reale In-Beziehung-Treten nicht gänzlich zu „greifen“ bzw. zu erfahren (vgl. Buber: Der Mensch wird am Du zum Ich). Das Verständnis von Person-Sein ist dann erst relational zu verstehen. Im interaktionistischen Sinn zeigen Personen aufeinander bezogenes Handeln. Es geht um ein In-Beziehung-Treten, ein Aufeinander-Bezug-Nehmen in Wechselbeziehung zwischen Person und Umwelt (Körper/Leib, Sozialität, Kulturalität) – was zu Behinderungs- und Benachteiligungsgeschehen sowie Teilhabeeinschränkungen führen kann.
Es gibt eine Sozialität des Körperlichen, aber auch eine Körperlichkeit des Sozialen (vgl. dazu Kastl 2017). „Der Leib ist ein Stück naturalisierter Kultur und ein Stück kultivierter Natur“ (Staud 2012, 23). Der Person, der wir innerhalb der heilpädagogischen Arbeit begegnen, begegnen wir unweigerlich auch in ihrer Körperlichkeit, die ihr selbst und dem sozial Möglichen Vorgaben macht (vgl. Kastl 2017, 53). Jede Beeinträchtigung, wie z. B. eine starke motorische Beeinträchtigung oder eine Lähmung, beeinträchtigt nicht nur das nach außen hin gezeigte Handeln selbst, sondern auch die Wahrnehmungsmöglichkeiten, etwa dadurch, dass das Kind sich nicht zu den interessanten Dingen hin bewegen kann (vgl. Pitsch & Thümmel 2019, 79). Die Person ist zuallererst ein in der Welt lebendes körperliches und leibliches Subjekt. „Das Verhältnis des Menschen zur Welt gründet demnach in seiner Leiblichkeit.“ (Dederich & Seitzer 2024, 130) Das umfasst eine grundlegende Rezeptivität und damit vorpersönliche Struktur. „Durch den Leib wird uns die Welt zugänglich, er ist ‚das Subjekt der Wahrnehmung‘.“ (Merleau-Ponty 1966, 263, zit. nach Dederich & Seitzer 2024, 137) Der Leib ist Wahrnehmungsorgan, Nullpunkt der Orientierung (vgl. Alloa et al. 2019, 2). Beispielsweise dürfen Menschen mit schweren Behinderungen auch nicht willkürlich umgelagert oder in ihrem Rollstuhl weggeschoben werden. „Nur als körperliche Existenz lebe ich überhaupt und insofern hat mein Körper stets einen Bezug zum Leben.“ (Alloa & Depraz 2019, 11) „Demnach sind der Zugang zu den Dingen der Welt und zum Anderen, sind das Fühlen, Aufmerksamkeitsprozesse und das begriffliche Erkennen, Sprechen und Kommunizieren […] selbst leiblich verfasst.“ (Dederich & Seitzer 2024, 153). Der Leib lässt dem Aufgenommenen eine Bedeutung geben, es erfahren. „Im Empfinden entfaltet sich für den Erlebenden zugleich Ich und Welt […]“ (Straus 1956, 372, zit. nach Dederich & Seitzer 2024, 154) Es gibt ein leibliches Verhalten, das sich ausdifferenziert (Merleau-Ponty) (vgl. Staud, 2012, 17). Damit konstituiert sich Persönlichkeit auch im Leib. Dieser ist voraussetzender Erfahrungsraum und -medium, in dem und durch den erst das entsteht, was (Selbst-)Bewusstsein oder Subjektivität auszeichnet (vgl. Menth 2021, 176) und aufs Engste mit Erfahrung verbunden ist.
Die Person verstehen zu lernen gelingt nur dann, wenn ich auch ihre subjektiven Erfahrungen wahrnehme und Geschichte (Prägung) kenne (biografische Analyse). Nun ist aber nicht jede „Besonderheit“ bzw. jedes „Merkmal“ eine Eigenschaft der Person im eigentlichen körperlichen Sinn, sondern liegt in biografischen Entwicklungs- und Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen. Und wiederum sind dann auch Biografie, Lebenserfahrungen und Lebenslagen „inkorporiert“ (vgl. Kastl 2017). Beispielsweise zeigen sich missbräuchliche Lebenserfahrungen in Ängsten, körperlicher Unsicherheit, Zurückgezogenheit (Verhalten, Auftreten), einer geringen Bildungssozialisation und Vernachlässigung in Lern- oder kognitiven Beeinträchtigungen.
Ableitungen für die Heilpädagogik als Profession
Will die Heilpädagogik als Handlungswissenschaft verstanden werden, dann geht es immer um die subjektiv erfahrene Handlungswirklichkeit der Person – das auch unabhängig von objektiven Kategorien und Kriterien (anders als in den Grundlagenwissenschaften wie z. B. der Biologie, in der es um Gesetzmäßigkeit, Funktion und Struktur geht). „Das selbstreferenzielle Subjekt widersetzt sich dem objektivistischen Blick und Zugriff.“ (Dederich & Seitzer 2024, 105). Das muss auch dann berücksichtigt werden, wenn die „Wirksamkeit“ von Konzepten und Maßnahmen empirisch nachgewiesen werden soll – es gibt, wie erwähnt, Variablen (beeinflussende Faktoren), die nicht verallgemeinernd abgebildet werden können (z. B. hinderliche Beziehungserfahrungen). In der Folge ist die Heilpädagogik aufgefordert, die Person wahrzunehmen (ihre Bedürfnisse, Kompetenzen etc.), vor allem auch und gerade in Bezug auf ihre Körper-/Leiblichkeit. Im Vordergrund steht eine geschulte Wahrnehmung, also im Hinblick auf das von der Heilpädagogin bzw. dem Heilpädagogen in einer Situation gezeigte körperliche Verhalten in Form von Ausdruck, Wohl- oder Missempfindung, Aktivität, Kommunikation, Konzentration sowie Reaktionen.
Subjektiv erfahrene Lebenslagen und Problemlagen als Erfahrungswirklichkeit, körpereigene Erfahrungen (z. B. Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen, kognitive Anpassungsschwierigkeiten, Koordinationsschwierigkeiten, motorische Hypertonie, unvollständige Raumvorstellung), Übergänge (Zwischenräume, Relationen) und dynamische Verläufe, die gerade den Kern der heilpädagogischen Praxis ausmachen, nicht zu benennen – im „Sinne vermeintlich wissenschaftlicher Objektivität und angeblicher Verteidigung der Interessen bislang Diskriminierter […]“ (Felder 2018, 84) – lässt subjektive Lebenseinschränkungen und subjektive Unterstützungsbedarfe unberücksichtigt sowie vollständige Teilhabe misslingen. Körpereigene Erfahrungen sind letztlich „nicht nur“ Normierung und Konstruktion von außen und gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal, sondern auch intrinsisch und personimmanent. Wenn körperliche Erfahrungen übergangen werden, führt das zu einer Vernachlässigung realer Probleme in Hinsicht auf eigene Erfahrungs- und Handlungszusammenhänge (vgl. Dederich & Seitzer 2024, 62). Heilpädagog:innen müssen die Erfahrungswirklichkeit ihres Gegenübers kennen- und verstehen lernen (phänomenologische Denktradition). Die Person selbst bringt sich schließlich in ihrer individuellen Identität durch individuelle zur Verfügung stehende Kompensations- und Anpassungsstrategien in soziale Kontexte und Diskurse ein und beeinflusst diese. Das Subjekt (Person) gibt es zwar, wie erwähnt, als Gegenstand der theoretischen Analyse (objektiv), aber eben auch als individuelles Subjekt in seinem Sosein – hier beginnt Pädagogik (vgl. Boger 2019, 9). Im Sinne des Personenbegriffs impliziert die Annahme des Anderen in seinem Sosein gleichermaßen ein Ergründen von dessen Bedürfnissen und Ressourcen, um ein Konzept professioneller Unterstützung zu entwickeln, das personale wie sozialräumliche Implikationen umfasst (vgl. Menth 2021, 208). Heilpädagog:innen sind dabei aufgefordert, die Sicht der Person in den Mittelpunkt zu stellen.
Selbstkritisch muss sich die Heilpädagogik als Profession stets fragen: Geht es in einer (akademisch-wissenschaftlichen) heilpädagogischen Arbeit um „reine“ Theorie-Zielperspektiven (objektiv), die sich in theoretischen Denkmodellen „verlieren“ und die subjektiven Perspektiven (Personalität, Bedürfnisse, Lebenslagen etc.) außer Acht lassen? So würde die Heilpädagogik – insbesondere als Wissenschaft – Gefahr laufen, diejenigen „auf dem Weg zu verlieren“, die Inhalte der (wissenschaftlichen) Diskurse sind: Subjekte als Personen. Heilpädagogische Wissenschaft muss auch auf die persönlichen Lebensverhältnisse hin ausgerichtet sein. Das kann sie aber nur, wenn sie nicht nur deskriptiv die Wirklichkeit erforscht und erklärt (vgl. Speck 2008, 90).
„Heilpädagogik befasst sich, als subjektive Wissenschaft, bildlich gesprochen, mit Wasser (vom ‚köstlichen Nass‘ bis zur ‚dräuenden Flut) und nicht mit H₂O […]. Heilpädagogik als Theorie benötigt einen Wissenschaftsbegriff, in welchem die Subjektivität eine das Mass[!] gebende Rolle spielt“ (Kobi 1983, 55, zit. nach Mürner 2012, 14).
Nehme ich in diesem Sinn die Person nicht mehr wahr, kann ich auch nicht heilpädagogisch antworten – ich wüsste nämlich nicht, worauf. Das impliziert, dass betroffene Personen aus der Objektivität ihrer ihnen „zugeschriebenen“ Rolle (z. B. der Rehabilitationsempfänger) heraustreten können müssen und als mündige Subjekte wahrgenommen werden (vgl. hierzu auch die Analysen der Disability Studies). „Der Blick von außen lenkt die Aufmerksamkeit auf für die Pädagogik stets prekäre Themen wie Macht und Machtmissbrauch, An- und Enteignung des Anderen, Ausgrenzung, Fremdbestimmung und Gewalt und macht eine diesbezügliche Selbstreflexion dringend erforderlich.“ (Dederich & Seitzer 2024, 253)
Heilpädagogisches „Antworten“ ist immer zuerst induktiver Art. Dieses kann nicht ohne die Person auskommen. So wird die Person auch nicht zum Objekt, sondern stets zum Subjekt heilpädagogischen Handelns. „Handelnde Subjekte stehen also im Vordergrund.“ (Wolf 2024, 136) Würde die Heilpädagogik die subjektive Perspektive (Bedürfnisse, Einschränkungen, Biografie, Deprivationsverhältnisse, Ressourcen, Kompetenzen usw.) aus dem Blick verlieren, wäre das pädagogische Scheitern eine logische Schlussfolgerung. Es geht im Wesentlichen um ein Verständnis der individuell erfahrenen Lebenslage der mir anvertrauten Personen. Ein einseitiger Blick auf soziokulturelle Ausschluss- bzw. Behinderungsmomente wäre dabei zu wenig (vgl. Wolf & Fränkle 2023).
Der „Heilpädagogische Blick“ – personenzentriert und zugleich systemisch geschärft
Ein erheblicher Teil heilpädagogischer Praxis besteht vorrangig nicht darin, Ziele festzulegen sowie Methoden auszuwählen und systematisch anzuwenden, sondern darin, aus dem Gegebenen spontan eine Chance zu ergreifen und Möglichkeitsräume auszuloten (vgl. Dederich & Seitzer 2024, 56). So ist praktisches Handeln in „Einzelsituationen“ immer auch auf Nicht-Wiederholung und Nicht-Generalisierbarkeit gerichtet – im Vergleich zur wissenschaftlichen Theorie (vgl. Haeberlin 1996). In der Begegnung, im Dialog, liegt dann mehr Erkenntniswert als in generalisiertem Wissen. Die Person und ihre Sicht auf Lebenslagen und -bereiche verstehen zu lernen, gelingt letztlich nur, wenn auch ihre subjektiven Erfahrungen wahrgenommen und abgebildet werden. Wer heilpädagogisch unterstützen möchte, der muss, wie es bereits Hansellmann (1932) ausdrückte, zunächst die gegenwärtige Wirklichkeit anerkennen (vgl. Haeberlin 1996, 341) – das impliziert die Berücksichtigung der Wahrnehmung der Person. Auch und insbesondere die auf Erfahrung beruhende (empirische) Heilpädagogik ist theoriebildend bzw. -erweiternd.
Aber auch die eigene Erfahrung ist wiederum nie unabhängig von dem, was wir „wissen“. Letztlich ist auch praktisches Tun nie frei von alltagstheoretischen Voraussetzungen (vgl. Haeberlin 1996). Professionelles, praktisches Handeln ist von theoretischem Wissen nicht sauber zu trennen. Theorie ist (mehr oder weniger) inkorporiert (vgl. Altrichter et al. 2005). Theoretisches Vorwissen kann mich dann auch daran hindern, urteilsfrei und nicht interpretativ in eine Situation zu gehen. Die Heilpädagogin bzw. der Heilpädagoge ist daher aufgefordert, „passiv“ zu bleiben, wahrzunehmen, zu beobachten, nicht vorschnell Handlungsschritte abnehmen zu wollen, die vermeintliche Antwort nicht schon selbst zu geben und in der Folge die Selbstentfaltung und Selbstständigkeit der Person nicht zu untergraben. Beobachten gelingt nur im Zusammenspiel der „bewussten“ Wahrnehmung. Ansonsten gehen Eindrücke verloren und bleiben mir für meine heilpädagogische „Antwort“ verwehrt. Diese Kompetenz bedarf lebenslanger Selbstreflexion, denn oft verfallen wir in ein spekulatives Interpretieren, abhängig von unseren gemachten Erfahrungen und der je eigenen Sicht auf die Situation! Habe ich als heilpädagogische Fachkraft die falschen Erwartungen und Vorannahmen, können schließlich auch Antworten des Gegenübers verborgen bleiben. Es muss einem in der heilpädagogischen Begleitung bewusst sein, dass unterschiedliche Personen im Kreis der Unterstützer:innen auch ihr „jeweils eigenes Bild der Wahrheit festigen, als sich in Richtung einer gemeinsamen Wirklichkeit zu bewegen“ (Höfflin 2024, 51). So kann auch eine aufgrund von falschen Vorannahmen angenommene „Wirklichkeit“ die eigene Wahrnehmung blenden. Die Gefahr besteht, dass in Gelegenheiten, in denen keine gegenseitige Erreichbarkeit, keine resonante Beziehung gegeben ist, die Person zur Projektionsfläche der eigenen Vorstellungen des Umfelds wird (vgl. ebd.).
Erst eine an der Person ausgerichtete (personenzentrierte) und zugleich systemisch geschärfte Heilpädagogik ist dazu fähig, Ressourcen und Teilhabechancen zu erkennen und Möglichkeitsräume zu eröffnen (vgl. Wolf & Fränkle 2024, 15). Zunächst geht es folglich darum, Möglichkeiten zu erfassen – also um die Bereitstellung von Wahl- und Handlungsmöglichkeiten. Personen mit Unterstützungsbedarfen müssen folglich in ihrer Kompetenzentfaltung unterstützt werden. Selbstständigkeit und Selbstbestimmung entstehen häufig erst in der Handlungssituation selbst. Stets ist eine Öffnung zur Welt, ein Sich-Einlassen, notwendig, um Handlungsmöglichkeiten und Selbstbestimmungsmöglichkeiten zu schaffen (vgl. Kastl 2002, 373). Es gilt sowohl den persönlichen Möglichkeitsraum (Handlungskompetenz und Ressourcen) als auch den gesellschaftlichen Möglichkeitsraum (Ressourcen und Partizipationsmöglichkeiten) der Person zu erweitern, sodass sie diese Räume ausschöpfen kann (vgl. Röh & Meins 2021, 78 f.). Damit könnte Teilhabe auf Basis der gesellschaftlich garantierten Verfügbarkeit von Ressourcen und Partizipationsmöglichkeiten gewährleistet werden. Kurz gesagt: Es geht um eine Eröffnung des persönlichen und sozialen Möglichkeitsraumes. Diesem Verständnis folgend sollte die Heilpädagogik als Profession in der Lage sein, empirisches Wissen und Alltagshandlungen zusammenzuführen. Das führt uns zum Auftrag und zur Verantwortung der Heilpädagogik als Wissenschaft und Praxis.
Auftrag und Verantwortung der Heilpädagogik als Wissenschaft und Praxis
Zu beobachten ist eine Exklusivität der Akademisierung eines Handlungsfeldes aus Sorge um wissenschaftliche Anschlussfähigkeit – auch und gerade im Kontext des internationalen Forschungsnetzwerks. Begründet liegt diese Ausrichtung sicherlich auch in dem von Haeberlin festgestellten und bis heute immer wieder aufflammenden Druck zur Legitimation als Wissenschaft (vgl. 1996, 350).
In den aktuellen und anhaltenden wissenschaftlichen Diskursen richtet sich, wie erwähnt, die Energie insbesondere auf Behinderungs- und Benachteiligungsgeschehen sowie Teilhabeeinschränkungen im Kontext einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe an den unterschiedlichen Lebensbereichen – das wird jedoch, wie bereits dargelegt, von externer „Expertise“ abgeleitet. Die Stimmen der Betroffenen selbst sind bislang eher wenig zu hören.
Wie einleitend aufgeführt, wird die Heilpädagogik als spezielle Fachdisziplin und Profession an der ein oder anderen Stelle auch schon mal infrage gestellt bzw. man versucht sie im Lichte einer kritisch-kulturwissenschaftlichen Analyse zumindest neu zu konstituieren. Schwerpunkte verschieben und erweitern sich, bisherige werden vernachlässigt oder bleiben einfach unberücksichtigt. Eine akademische Heilpädagogik, die in Zukunft bewusst nur noch einen gesellschaftskritischen Blick einnimmt, verliert allerdings ihr eigenes Handlungsfeld. Sie wird dann vor allem zur kritisch-kulturwissenschaftlichen und kritisch-sozialpolitischen Metapher. Zudem überlässt sie medizinischen, therapeutischen und psychologischen Berufsgruppen die Antworten im Handlungsfeld, da subjektive Erfahrungen – insbesondere Beeinträchtigungen und Bedürfnisse – unreflektiert und unbeantwortet bleiben. Ein theoretisches Urteilsvermögen und eine theoretische Reflexion tragen, für sich genommen, noch nicht zu einer professionellen heilpädagogischen Kompetenzentfaltung bei.
„So tiefschürfend, überzeugend und scharfsinnig kritisch-dekonstruktive Analysen gelegentlich auch sein mögen, so bleibt bei vielen Beiträgen die Frage nach Ansatzpunkten für die Bearbeitung praktischer, gelegentlich sogar brennender Probleme unbeantwortet. Damit werden Studierende, von denen die meisten eine Tätigkeit in pädagogischen Praxisfeldern anstreben, mit ihren berechtigten Fragen alleine gelassen.“ (Dederich & Seitzer 2024, 61).
Wird der kritisch-dekonstruktive Stil auf die Spitze getrieben, entstehe nach Dederich und Seitzer sowohl in der universitären Ausbildung als auch in der Forschung ein „pädagogisches Brachland“, das insbesondere durch die Zunahme an lerntheoretisch unterfütterten Konzepten gefüllt werde (vgl. ebd., 63). Hierbei ist zu beobachten, dass vor allem ausgehend von der Psychologie versucht wird, auf Problemlagen im Feld zu reagieren. Die aufgeführten, in der Heilpädagogik unverzichtbaren Handlungsprinzipien wie beispielsweise Wahrnehmung, Beobachtung, Beziehungsorientierung spielen hierbei allerdings meist eine untergeordnete Rolle.
In den jeweiligen Modulhandbüchern von Hochschulen der Heilpädagogik werden, wie durch eine Onlinerecherche schnell ersichtlich wird, unterschiedliche Konzepte angeführt, und diese werden im Studium mal mehr, mal weniger intensiv behandelt. Insbesondere auch die Heilpädagogische Diagnostik bzw. Entwicklungsdiagnostik wird modular erwähnt. Laut Bubeck wird sie innerhalb von deutschen Hochschuldokumenten im Studiengang Heilpädagogik „nahezu durchweg als Kernkompetenz beschrieben“ (2020, 53), wenngleich sie von vielen Absolvent:innen als kognitives und methodisches Werkzeug nicht gänzlich verstanden und schon gar nicht beherrscht wird.
Als Erfahrungs- und Praxiswissenschaft sollte sich die Heilpädagogik an dem Anspruch messen lassen, für das heilpädagogische Handlungsfeld anschlussfähige Beiträge formulieren zu können, die den dort arbeitenden und lebenden Menschen in konkreten Problemlagen Orientierung geben (vgl. Dederich & Seitzer 2024, 61).
„Veränderungen kultureller Räume müssen sich im Handeln in sozialen und kulturellen Nahräumen realisieren. Wenn eine sich kulturwissenschaftlich verstehende Heil- und Sonderpädagogik ihren Gegenstand vornehmlich auf einer Makroebene verortet und lediglich abstrakt von Dingen wie Gesellschaft, Ordnung und Macht spricht, verpasst sie den Anschluss an die auf einer Mikro- und Mesoebene angesiedelten lebensweltlich-lokalen Handlungsspielräume, innerhalb deren Grenzen Heil- und Sonderpädagog:innen tatsächlich Einfluss auf Kultur nehmen können.“ (Dederich & Seitzer, 2024, 257).
Ein Studium, das den Anschluss zum eigenen Handlungsfeld verliert, da der Theorie-Praxis-Transfer ausbleibt, „erzeugt“ auch keine berufspraktische Qualifikation – diese müsste also vordergründig durch eine Ausbildung an einer Fachschule oder im Anschluss durch spezifische Weiter- und Fortbildungen erworben werden. Denn wie könnte es sonst gelingen, sein eigenes pädagogisches Handeln an den Gegebenheiten vor Ort und den subjektiven Bedarfen auszurichten, wenn z. B. Unterstützung im sozial-emotionalen Bereich, in der beruflichen Kompetenzeinschätzung und -entwicklung von Jugendlichen mit kognitiver und Lernbeeinträchtigung notwendig ist – oder wenn im Gruppensetting auf herausfordernde Verhaltensweisen unterschiedlicher Ausprägung von Kindern pädagogisch-reflexiv zu antworten ist? Ganz zu schweigen von persönlich als herausfordernd erlebten Beratungs-, Hilfeplan- oder Teilhabeplangesprächen.
Heilpädagogik als Wissenschaft muss daher in den Praxisfeldern, auf die ihre Reflexion schließlich bezogen ist, Erfahrungen sammeln (vgl. Dederich & Seitzer 2024, 88). Letztlich ist sie in ihrer Reflexion nachgeordnet, insofern Erfahrungen in den Praxisfeldern vorausgehen (vgl. ebd., 246). Als Erfahrungs- und Handlungswissenschaft kann Heilpädagogik auch nicht lediglich eine Kritik der Praxis sein oder sich auf Selbstkritik beschränken. Sie muss konkrete Anknüpfungspunkte für die Praxis bieten, sollte sie diesen Anspruch nicht aufgeben wollen (vgl. ebd., 65). Erkenntnisansprüche und Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit würden verloren gehen, wenn „Theorien“ nicht mehr begründet und nur noch als Konstruktion behandelt werden (vgl. Zander 2022, 14 f.). Wenn Heilpädagogik als Wissenschaft nicht nur eine theoretische Perspektive sein möchte, bedarf es der Berücksichtigung der Handlungswirklichkeit, besonders der subjektiv erfahrenen Bezugssysteme. Eine akademische Heilpädagogik, die den Menschen in seinen Alltagsbezügen aus den Augen und sich selbst in theoretischen Diskursen verliert, wäre immer weniger in der Lage, heilpädagogische Antworten auf die Fragen und Aufgaben zu geben, die Menschen in besonderen Lebenslagen für sie bereithalten. Letztlich ist es die Person, die den heilpädagogischen Auftrag gibt. „Der Mensch als Objekt der Wissenschaft muss […] zum Subjekt der Wissenschaft werden können“ (Boger 2019, 133) und „zu einer selbstbestimmten Erzählung des eigenen Lebens“ (ebd.) gelangen. Mit Fischer ist zu betonen: Das „Antlitz des Menschen [darf] nicht noch weiter hinter der jeweiligen Profession verschwinden, sondern vielmehr wieder ‚ans Licht‘ gebracht werden“ (2009, 13). Die Heilpädagogik müsste dann auch selbst immer wieder aus ihrer Objektivität heraustreten können, damit es insbesondere auch Studierenden gelingt, frühzeitig Kompetenzen zu fördern und ein eigenes heilpädagogisches Profil innerhalb der gemeinsamen Lehr-Lern-Reflexion auszubauen.
Durch die bisher in vielen Bereichen bestehende Distanz zwischen akademischer Welt und Handlungsfeld bleiben viele Fragen unbeantwortet bzw. vorgeschlagene Entwicklungsschritte sind nicht auf die komplexen Praxissituationen übertragbar. Eine komplementäre Zusammenarbeit gestaltet sich häufig schwierig. Aus Autorensicht bedarf es zukünftig wieder eines stärkeren Zusammenschlusses zwischen wissenschaftlicher Forschung und der heilpädagogischen Praxis, um diese aus objektiver Perspektive, kritisch-konstruktiv und beratend, sowie im Sinne der Evaluation und Wirkungsanalyse zu begleiten. Die wissenschaftliche Heilpädagogik kann so, durch den Schulterschluss mit Institutionen, Trägereinrichtungen und Kommunen, Systemveränderungen innerhalb von Handlungsfeldern anstoßen. Auch dafür müssen Grundlagen erarbeitet werden – das geschieht nicht nur aus der Erfahrung und aus dem Bauch heraus.
Autoreninfos:
Dr. Markus Wolf, geb. 1986
Jugend- und Heimerzieher
Heil- und Sonderpädagoge M.A.
Berufliche Tätigkeiten und Erfahrungen in der „Wissenschaft“:
Eberhard Karls Universität Tübingen, Forschungsstelle Lebenswelten behinderter Menschen (Z.I.E.L.), Dr. Heidrun Metzler
Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl Pädagogik bei geistiger Behinderung und Pädagogik bei Verhaltensstörungen und Autismus einschließlich inklusiver Pädagogik, Prof. Reinhard Markowetz
Institut für empirische Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg (IfeS)
Berufliche Tätigkeiten und Erfahrungen in der „Praxis“:
Lebenshilfe für Menschen mit Behinderungen e.V.
Kinder- und Jugendhilfe
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Sonderpädagogische Förderschulen
Sozialtherapeutische Fördergruppe bei ASS
Ambulanter Heilpädagoge – Entwicklungsförderung
Leitung Berufsvorbereitung – Inklusion in Arbeit
Heilpädagogisch-therapeutisches Internat für traumatisierte Kinder
Literatur:
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Alloa, E. & Depraz, N. (2019): Edmund Husserl – „Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding“. In: Alloa, E., Bedorf, Th., Grüny, Ch. & Klass, T. N. (2019): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. 2. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, 7–22.
Altrichter, H., Kanninier-Finster, W. & Ziegler, M. (2005): Das Theorie-Praxis-Verhältnis in den Sozialwissenschaften im Kontext professionellen Handelns. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 30(1), 22–43.
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