
"Die Lehrkraft ist mit empathischer Haltung bemüht, dem Bedürfnis des Kindes zu entsprechen. Durch diese zwischenmenschlichen Beziehungen fördert sie die Ressourcen des Kindes und die eigenen Ressourcen." Ferdinand Klein
Handlungsbezogenes Handeln des Pädagogen achtet die Würde des jungen Menschen
Ein Blick zurück nach vorn
Der Beitrag fokussiert einen pädagogischen Grundsachverhalt, der mit dem Fundamentalbegriff des handlungsbezogenen Handelns erörtert wird und Praxis, Forschung und Lehre als Einheit realisiert (vgl. Klein 2004). Er weist auf die Vermittlungsarbeit des Lehrers hin, die auf das Interesse des Schülers und seine Aneignungsarbeit ausgerichtet ist. Aus historischer Perspektive wird mit dem Begriff des handlungsbezogenen Handelns ein formulierbares Verhältnis gefunden, das den alten Gegensatz zwischen der pädagogischen Idee der Führung und der pädagogischen Idee der Selbsttätigkeit überwindet und beide Ideen als Einheit sieht.
1. Einleitung
Im Zentrum steht die Vermittlungsarbeit des Lehrenden
Mit Nachdruck macht die traditionsbewusste Pädagogik darauf aufmerksam, dass ihr bald der totale Verlust des begrifflichen Instrumentariums droht, weil sie ihre zentralen Vorstellungen nicht mehr bedient. Pädagogik hat ihre eigene Logik und Rationalität weitgehend soziologischen und psychologischen Annahmen geopfert. Dem steht aber die Komplexität und Vieldimensionalität pädagogischer Sachverhalte gegenüber (vgl. Hopfner & Winkler 2004, 9 ff.), die der Begriff des handlungsbezogenen Handelns offenlegt. Im Zentrum steht die Vermittlungsarbeit des Lehrenden, d. h. der methodisch gestaltete Unterricht (vgl. Klein 1985 und 1989).
Geboten ist die strukturelle Einheit von Praxis, Forschung und Lehre
Auch wenn es zwischen der Reflexion des Unterrichts und dem praktischen Tun der Lehrkraft keinen unmittelbaren Ableitungszusammenhang gibt, sei an Erich Mollenhauer erinnert, der in seiner Göttinger Abschiedsvorlesung 1996 diesen Zusammenhang anhand der Begriffe Individualität und Autonomie wie folgt analysiert hat: „Diese ideellen Konstrukte könnten wir zwar nicht empirisch verifizieren als etwas, worauf Verlass wäre; sie sind nur mental gegeben als Vorstellung, nur schwach konturiert. Wir können sie deshalb auch nicht normativ, in Erziehungs- und Bildungstheorien, zur Geltung bringen, als Handlungsempfehlung etwa, denn dann müssten wir über prognostisches Wissen verfügen. Individualität und Autonomie sind [...] im strengen Sinne dieser Rede ‚kontrafaktische‘ Ideen, die auf keine Wirklichkeit, sondern nur auf Möglichkeiten verweisen, auf Hoffnungen einer Gattung, die sich noch nicht aufgegeben hat.“ (Erziehungswissenschaft 2000, 67)
Mollenhauer kritisiert das leichtfertige Verknüpfen der wissenschaftlichen Reflexion mit dem praktischen Handeln, weist aber auf Ermöglichungsräume hin. Sein Verständnis ist bei der Erörterung des pädagogischen Fundamentalprinzips des handlungsbezogenen Handelns zu beachten, bei dem es um das Herstellen einer Verbindung zwischen der Theorie und dem sozialen Miteinander in der Praxis geht und damit um das scheinbar Unverknüpfbare doch zusammenzubringen. Das weist auch auf die in der Pädagogik ursprünglich gepflegte Einheit von Forschung, Lehre und Ausbildung hin, in deren Zentrum die Praxis steht. Diese strukturelle Einheit von Praxis, Forschung und Lehre erinnert an Kurt Lewins Methodik des Erkennens: Nach Lewin sollten Handeln, Forschen und Erziehen als Dreieck betrachtet werden, das um jeder seiner Ecken willen zusammenzuhalten ist (vgl. Klein 1997, 354).
2. Zum handlungsbezogenen Handeln
Der Begriff des handlungsbezogenen Handelns ist die abkürzende Bezeichnung eines pädagogischen Prinzips, das Wolfgang Sünkel und seine Schüler in der Erlanger Schule entwickelt haben. Das unterrichtliche Handeln des Lehrenden ist Vermittlungsarbeit. Seine Arbeit hat in der Aneignungsarbeit des Schülers ihr Handlungsziel. Dieses ganzheitliche Prinzip überwindet die strikte Trennung der pädagogischen Ideen des Führens und der pädagogischen Idee der Selbsttätigkeit. Wird eine dieser Ideen absolut genommen, so hebt sich der Sinn der Erziehung auf. Es kommt vielmehr darauf an, die Natur des Verhältnisses von Führung und Selbsttätigkeit zu bestimmen. Über Theodor Litt hinausgehend, dessen Analyse dieses Problems in „Führen oder Wachsenlassen“ (1967) mit dem Spiel und Gegenspiel ewig rivalisierender Antriebe endet, legt die Erlanger Schule ein formulierbares Verhältnis vor.
3. Einheit von Führung und Selbsttätigkeit
Zum heuristischen Begriff des Unterrichts
In geschichtlicher Perspektive lässt sich ein Begriff des Unterrichts offenbar nur auf heuristischem Weg finden (vgl. Sünkel 2011). Geht man davon aus, dass das Phänomen der Arbeit in der Reproduktion der menschlichen Gattungsexistenz und das Phänomen der Erziehung in der Generationsfolge gründet, dann kann man sagen: Arbeit und Erziehung existieren seit dem Bestehen der Menschheit, Unterricht dagegen nicht. Unterricht ist im geschichtlichen Prozess entstanden, „und zwar genau zu jenem Zeitpunkt, als das objektive Problem entstand, welches zu seiner Lösung Unterricht erforderlich machte“ (Sünkel 2002, 32).
Der Rekonstruktionsprozess der Phänomene Arbeit, Erziehung und Unterricht kann – mangels Quellenkenntnis – nicht von seinem Anfang an nachgezeichnet, wohl aber begrifflich erschlossen werden. Auch wenn die konkrete Geschichte des Entstehens des Unterrichts nicht bekannt ist, kann die Bogenschnitzerparabel als Erkenntnisinstrument dienen. Eduard Spranger hat die Parabel erzählt, um das Wesen des Unterrichts zu veranschaulichen. Die Parabel zeigt die historische Geburt des Unterrichts: Irgendwann und irgendwo schaut ein Knabe dem Bogenschnitzer bei seiner Arbeit zu. Der Knabe entwickelt wachsendes Interesse, will den Bogen schnitzen und orientiert sich an der Kunst des Bogenschnitzers. Er probiert, macht Fehler und bemerkt die Kompliziertheit des notwendigen systematischen Arbeitens. Wie kompliziert diese Arbeit ist, wird dem Bogenschnitzer klar, als er sich erinnert, wie viel er selbst probieren und verwerfen musste, um den Stand seiner Kunst zu erreichen. Bald zeigt sich, dass dieses Ganz-von-vorn-Beginnen eine bestimmte Zeit braucht. Der Knabe kam, der Bogenschnitzer unterbrach seine Arbeit und widmete sich der Unterweisung des Knaben. Er führte ihn
- in die Kenntnis der Materialien und deren Gewinnung ein sowie
- in die Kenntnisse der Werkzeuge und deren Herstellungsprozess.
Er zeigte dem Knaben die Handgriffe, Konstruktionen und Schnitte, zuerst die einfachen, dann die schwierigeren, und ließ ihn das alles an dem unbrauchbaren Bogen und anderem wenig wertvollen Material so lange üben und anwenden, bis er zu ernsthaften Konstruktionen und Schnitten am wertvollen Material fähig war. Dabei gewann der Bogenschnitzer neue Erkenntnisse und Einsichten in den systematischen Aufbau seiner Kunst. Und wie er früher über Verbesserungen des Bogenschnitzens nachgedacht hatte, so dachte er jetzt darüber nach, wie er den Knaben besser und sicherer in diese Kunst einführen könnte.
Als der Knabe den ersten vollständigen Bogen hergestellt hatte, freute sich der Bogenschnitzer mit ihm, obwohl der Bogen viel schlechter war als der von Meisterhand gefertigte. Er fuhr mit dem Unterrichten fort – der nächste Bogen geriet schon besser. Und nach einigen Jahren hatte der Knabe den Stand der Kunst seines Lehrers erreicht. Von nun an arbeiteten beide Bogenschnitzer miteinander. „Die Einsicht in den Aufbau der Bogenschnitzkunst, die sie durch den Unterricht gewonnen haben, nahmen sie zur Grundlage, um neue Verbesserungen der Kunst zu erfinden.“ (Sünkel 2002, 37)
Das Beispiel lehrt: Das Interesse des Lernenden ist die bewegende Kraft des Unterrichts. Und das Interesse des unterrichtenden Bogenschnitzers zeigt zwei Richtungen: Es ist auf das Herstellen des Bogens gerichtet; dabei versucht er das Herstellen mit den Augen des Knaben zu sehen. Sein Interesse ist aber auch auf das situative Handeln des Knaben konzentriert. Dieses ambivalente Interesse richtet sich weder auf das Bogenschnitzen-Können noch direkt auf den Knaben, „sondern auf das, was sich zwischen diesen beiden situativen Positionen abspielt: auf das Interesse also und das Handeln des Knaben, welch letzteres seinerseits auch nicht mehr ein Handeln in bezug auf den Bogen ist, sondern in bezug auf den Komplex der zu seiner Herstellung erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnisse“ (ebd., 63).
Zum Unterricht
Grundsätzlich kann gesagt werden, dass sowohl im Unterricht in inklusiven Klassen als auch in der akademischen Lehre der „sachlich-fordernde und der helfend-entwickelnde Charakter des Lehrens“ notwendig sind (Sünkel 2002, 17). Die fordernde und helfende Lehrerhaltung hat beim Schüler mit Behinderung die Aneignungsdisposition sorgfältig diagnostisch zu ermitteln. Beim Unterricht in all seinen Erscheinungsformen geht es also um die Leitung und Unterstützung der Selbsttätigkeit des Schülers in intersubjektiven Situationen im Prozess der Selbstkonstitution.
Zum gemeinsamen Unterrichtsgegenstand
Die in der Parabel aufgeworfene Frage kann so beantwortet werden: Unterrichtsgegenstand ist weder der Bogen selbst noch seine Herstellung, „sondern die objektivierte, unabhängig von der realen Bogenproduktion formulierbare Disposition zur Herstellung des Bogens: die Bogenschnitzkunst. Diese besteht aus einzeln identifizierbaren Kenntnissen, Fertigkeiten und Motiven, denn man muss, um einen Bogen zu machen, Bestimmtes wissen, können und wollen.“ (Sünkel 2002, 69) Als Aufgabe konstituiert also der Unterrichtsgegenstand in seiner Strukturvielfalt das Handeln des Schülers als Aneignung und das Handeln des Lehrers als Vermittlung. Bei der Vermittlungsarbeit ist vor allem Martin Wagenscheins genetische Methode bedeutsam, der es um ein Zurückverwandeln des Sachzusammenhangs in die Ursprungssituation geht. Hier rekonstruiert der Schüler subjektive Dispositionen für die Aneignung des Gegenstandes (vgl. Wagenschein 2008).
Zum Schüler
Unterricht realisiert sich durch die Arbeit des Schülers. Die Schülerarbeit besteht im Aneignen des Unterrichtsgegenstandes, bei der das Interesse des Schülers der Motor ist. „Aneignung des Gegenstands ist die subjektive Rekonstruktion der vorgegebenen objektivierten Tätigkeitsdisposition.“ (Sünkel 2002, 81) Diese im inneren System des Schülers wirksam werdende Selbstkonstitution ist Schülerarbeit. Hier verrichtet der Schüler eine gesellschaftlich notwendige Arbeit. Er ist deshalb ein vollwertiges Glied des Systems der gesellschaftlichen Arbeit. „Seine Würde kommt dem Schüler als Schüler zu, unabhängig von seinem Alter und seinen anderen individuellen Merkmalen.“ (Ebd., 47). Der Schülerarbeit, ganz gleich auf welchem Niveau, kommt also gesellschaftlicher Primat zu. Darauf beruht die Würde des Schülers.
Zum Lehrer
Der Lehrer hat ein zweifaches Vermittlungsinteresse, das sich auf den Unterrichtsgegenstand (gegenständliches Interesse) und auf den Schüler (persönliches Interesse) richtet: Er
- versucht den Gegenstand mit dem Kopf, dem Herz und der Hand des Schülers zu sehen und
- bemüht sich, dem bereits vorhandenen oder vermuteten Schülerinteresse mit Empathie zu entsprechen und zu einem „vielseitigen Interesse“ (Herbart 1986, 90), das nach allen Richtungen ausgreift, werden zu lassen.
Beim gegenständlichen und persönlichen Interesse des Lehrers handelt es sich eigentlich um ein Interesse, nämlich um das Interesse an der „Aneignungsarbeit des Schülers und der ihr zugrundeliegenden und sie begleitenden Interessebeziehung zwischen Schüler und Unterrichtsgegenstand“ (Sünkel 2002, 99). Bei dieser Ambivalenz des Lehrerinteresses kann zwischen einer logotropen Valenz, d. h. einee dem Unterrichtsgegenstand zugewandten Valenz, und einer paidotropen Valenz, d. h. einer dem Schüler zugewandten Valenz, unterschieden werden. Bei der logotropen Valenz geht es in der Vermittlungsarbeit um die Artikulation des Gegenstandes, um die didaktische Strukturierung mit der Absicht, dem Schüler das Aneignen zu ermöglichen. Bei der paidotropen Valenz geht es um die Organisation der Aneignungsarbeit, die prinzipiell Sache des Schülerhandelns ist.
Es ist Aufgabe des Lehrers, die innere Welt des Schülers – seine Wirklichkeitskonstruktion – so weit wie möglich zu verstehen und für sich zu rekonstruieren, um auf dieser Grundlage eine Lernumgebung zu gestalten, die es dem Schüler ermöglicht, an seine Wirklichkeitskonstruktion anzuknüpfen und sich nach seiner individuellen Perspektive zu entwickeln. Das Handeln des Lernenden bedarf der planenden Voraussicht, der Hilfe und Unterstützung, der Anregungen und Vorschläge des Lehrers. Deshalb ist der Grundcharakter der Lehrerarbeit als handlungsbezogenes Handeln zu bestimmen.
Zusammenfassung
Im Verständnis des Fundamentalprinzips des handlungsbezogenen Handelns ist das unterrichtliche Handlungsziel des Lehrers, seine Vermittlungsarbeit also, das selbsttätige Handeln des Schülers. Das Lehrerinteresse – sein gegenständliches und sein persönliches Interesse – ist auf die Aneignungsarbeit des Schülers S und die Interessebeziehung zwischen Schüler und Gegenstand G bezogen. Dieses Interesse oszilliert zwischen beiden Polen (Abbildung) und realisiert sich durch das handlungsbezogene Handeln.
4. Konkretisierung: „Recht und Gerechtigkeit als Gegenstand gemeinsamen Lernens“
Die Struktur des Didaktischen Dreiecks veranschaulicht, dass Lernende des Lehrers bedürfen, „weil sie als relationale Subjekte immer schon auf Andere und anderes bezogen sind und sich erst aufgrund dieser Bezüglichkeit als Eigenrelation kennen lernen können“ (Stinkes 2001, 277). Diese Bezüglichkeit zeigt das folgende Beispiel, das auf das Hamburger Projektstudium zurückgeht: Thomas Hoffmann hat das Gerichtsprojekt „Recht und Gerechtigkeit als Gegenstand gemeinsamen Lernens“ mit geistig behinderten Schülern und Schülerinnen gewagt, das sich aus Spielsituationen 11- bis 12-jähriger Kinder entwickelt hat. Hoffmann ließ sich dabei von Janusz Korczaks Idee des Kameradschaftsgerichts mit seinen 99 verzeihenden und 10 bestrafenden Paragrafen und Jean Piagets Gedanken zum „Self-Government“ leiten (vgl. Beckmann, Hoffmann & Zimpel 2001).
Die pädagogische Aufgabe wurde nicht darin gesehen, „die Kinder zu einem bestimmten sozialen Lernziel zu führen, sondern ihrem erwachten Interesse für das Thema ‚Recht‘ die geeigneten kulturellen Mittel zur Verfügung zu stellen“ (ebd., 3). Hoffmann konnte zeigen, dass die Schüler und Schülerinnen ein Verantwortungsgefühl und Urteilsvermögen entwickelten, die in dieser Intensität nicht erwartet wurden: Mit großem Ernst suchten und fanden sie in den Verhandlungen gerechte Urteilssprüche. Offenbar wurde ihr Gefühlsquotient angesprochen, der sie zur sozialen Orientierung und zum sozialen Handeln motivierte. Damit konnte ein Vorurteil widerlegt werden, das jungen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ein mangelndes Verantwortungsgefühl und ein geringes Urteilsvermögen zuschreibt. Hoffmann machte Entdeckungen, die an Johann Friedrich Herbarts „Charakterbildung zur selbstbewussten Persönlichkeit“ (1986, 60) erinnern. Das Protokoll einer Sitzung, das den Ablauf einer Gerichtsverhandlung illustriert, lässt eine basale Didaktik erkennen, die an den Interessen der Lernenden anknüpft und Interesse am Gegenstand erzeugt. Das Gerichtsprojekt lehrt, wie den jungen Menschen ermöglicht werden kann, ihre Interessen in die gemeinsame Situation einzubringen und zu einem vielseitigen Interesse zu entwickeln.
5. Fazit: In intersubjektiven Zusammenhängen lernen, lehren und forschen
Im wissenschaftlichen Handlungskontext
- Überträgt man die eben erörterten intersubjektiven Erfahrungen auf die allgemeine Unterrichtssituation, kann man sagen: Der Erwachsene (Lehrende, Unterrichtende, Erziehende, Begleiter, Betreuer) hat sich dem anderen Menschen (Lernenden, Schüler, dem zu erziehenden Menschen) bei seiner Aneignungsarbeit zur Verfügung zu stellen. Er bildet für ihn eine nahe Umgebung, dergestalt, dass sich der Lernende die gegenständliche Welt aus eigenem Interesse aneignen kann. Die nahe Umgebung ist nichts anderes als die Beschaffenheit der handelnden Erzieherpersönlichkeit. Diese Sichtweise übersteigt das traditionelle Verständnis von Unterricht als herstellendes Machen und begleitendes Wachsenlassen und lässt sich in intersubjektiven Lernsituationen als Selbstkonstituierung des „Menschen mit dem Menschen“ begreifen.
- Die oben skizzierte pädagogische Praxis und Forschung zeichnet eine erkennende Einstellung und Haltung aus. Bekanntlich hat Jörg Schlee (2001) der sonderpädagogischen Wissenschaftsentwicklung eine ausgesprochene Rückständigkeit bescheinigt: Ihre Theoriebildung sei defizitär, weil sie beschreibende (deskriptive) und bewertende (präskriptive) Begriffe miteinander vermenge. Schlee geht von der Annahme aus, dass die Pädagogik durch Begriffe anderer Disziplinen in ihrem wissenschaftlichen Anspruch aufgewertet werde. Das Gegenteil ist der Fall.
- Praxis, Lehre und Forschung, die sich am pädagogischen Fundamentalprinzip des handlungsbezogenen Handelns orientieren, ermöglichen das Erörtern unterrichtlich bedeutsamer Lebens- und Lernzusammenhänge mit pädagogisch relevanten Begriffen in einem immer wieder sich erneuernden Prozess. Dabei darf im Hinblick auf die heute im Zentrum der wissenschaftlichen und praktischen Diskussion stehenden inklusiven Erziehung und Bildung nicht übersehen werden: Solange die Allgemeine Pädagogik und Didaktik Kinder mit Behinderungen aus ihren Überlegungen ausschließt, „lässt sie das Bemühen vermissen, einen umfassenden Begriff ihrer selbst und den reinen Begriff der Erziehung auch nur suchen zu wollen“ (Klein 1979, 308).
Stets geht es in der Praxis um den dreifachen Kontakt
Pädagogisches Denken geht von der Praxis aus und wird durch Reflexion bewusster. Die Lehrkraft ist mit empathischer Haltung bemüht, dem Bedürfnis des Kindes zu entsprechen. Durch diese zwischenmenschlichen Beziehungen fördert sie die Ressourcen des Kindes sowie die eigenen. Dabei ist der dreifache Kontakt zu beachten:
Dreifacher Kontakt
Es geht um einen Kontakt der Lehrkraft
- mit sich selbst,
- mit dem Kind und
- mit dem Inhalt
Der veranschaulichte Kontakt geht auf den Psychotherapeuten Carl Rogers zurück. Rogers erkannte bei seiner Arbeit drei Aspekte der Haltung, die für hilfreiche zwischenmenschliche Beziehungen charakteristisch sind und die eigenen Ressourcen sowie die des anderen Menschen fördern.
Diese Erkenntnis trifft für Kontakte zwischen Menschen überhaupt zu, sie gewinnt ihre besondere Bedeutung für die kollegiale Zusammenarbeit und Teamarbeit. Das Interesse konzentriert sich auf die beziehungsorientierte Erziehungssituation. Sie ist für die inklusive Praxis höchst aktuell und hat ihre eigene Würde:
- Sich um empathisches (einfühlendes) Verstehen und uneingeschränkte Wertschätzung des Kindes bemühen, es ohne Vorbedingungen akzeptieren.
- Sich um Klärung der eigenen Gedanken bemühen und sich für das Kind und seine Bedürfnisse öffnen, um mit ihm in einen wechselseitigen Austausch zu kommen.
- Sich um eine verständliche und klare Sprache bemühen, die jedes Kind zum Mitmachen, Mitdenken und Mitfühlen einlädt.
Die drei Aspekte der Haltung lassen sich nur theoretisch voneinander trennen. Dem ganzheitlichen Handeln der Lehrkraft, das die drei Haltungsmomente in sich vereint, liegt ein Menschenbild zugrunde, das die Einzigartigkeit des Kindes bedingungslos achtet. Diese achtsame Haltung zeichnet die Würde des handlungsbezogenen Handelns aus.
Literatur
Beckmann, W., Hoffmann, Th., Zimpel, A. F. (2001): Lernen am gemeinsamen Gegenstand. Unveröffentlichtes Manuskript. Universität Hamburg.
Erziehungswissenschaft (2000): Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft: Ernst-Christian-Trapp-Preis. In: Erziehungswissenschaft 11, Heft 22, 66–67.
Herbart, J. F. (1986): Systematische Pädagogik. Eingeleitet, ausgewählt und interpretiert von Dietrich Benner. Stuttgart: Klett-Cotta.
Hopfner, J. & Winkler, M. (2004): Die aufgegebene Aufklärung. Experimente pädagogischer Vernunft. Weinheim: Juventa.
Klein, F. (1979): Die häusliche Früherziehung des entwicklungsbehinderten Kindes. Ein Beitrag zur pädagogischen Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
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Klein, F. (1989): Unterricht mit geistig behinderten Schülern. Erörterung grundlegender Strukturzusammenhänge unter besonderer Berücksichtigung der Methode. In: Geistige Behinderung 28, 88–101
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Langer, I., Schulz von Thun, F. & Tausch, R. (2015): Sich verständlich ausdrücken. 10. Aufl. München und Basel: Reinhardt.
Litt, Th. (1967): Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems. Stuttgart: Klett-Cotta.
Schlee, J. (2001): Ist die sonderpädagogische Forschung in Deutschland provinziell und rückständig? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 52, 331–334.
Stinkes, U. (2001): Das Kind als „Subjekt seines eigenen Handelns“: Kritische Anmerkungen zur Illusion einer Subjektpädagogik. In: Schell, H. (Hrsg.): Selbstgestaltung in der Sonderpädagogik. Begegnungen mit Hansjörg Kautter. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 269–279.
Sünkel, W. (2002): Phänomenologie des Unterrichts. Grundriss der theoretischen Didaktik. 2. Aufl. Weinheim, Juventa.
Sünkel, W. (2011): Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis. Allgemeine Theorie der Erziehung, Band 1. Weinheim: Juventa.
Wagenschein, M. (2008): Verstehen lehren. 4. Aufl. Weinheim: Beltz.
Autor
Ferdinand Klein, Prof. Dr. phil. Dr. paed. et Prof. h. c., Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik (Jg. 1934), arbeitete 20 Jahre als Erzieher, Heilpädagoge und Logotherapeut, lehrte und forschte an sechs Universitäten in Deutschland, Ungarn und der Slowakei im Geiste des polnischen Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak.
Wie sein Lehrer Janusz Korczak lernt der Autor bis heute von Kindern:
- Das re-agierende Verhalten des Kindes zeigt ihm, wie Erziehung heute noch häufig praktiziert wird.
- Das schöpferische Handeln des Kindes lehrt ihn, wie Erziehung sein soll.
Arbeitsschwerpunkte: Ethische Fragen, Forschungsmethoden, Reformpädagogik, Korczakpädagogik, Waldorfpädagogik, Früh- und Elementarpädagogik. Durch Reflexion der aktuellen (heil-)pädagogischen, medizinisch-therapeutischen und neurobiologischen Fachliteratur bildet er seinen integralen und transdisziplinären Standpunkt weiter.
Die Gusztáv-Bárczi-Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität Budapest würdigte sein wissenschaftliches Werk und seine Verdienste um den Ost-West-Dialog mit der Verleihung eines „Doctor et Professor honoris causa“. 2019 wurde ihm für sein sozial- und heilpädagogisches Wirken das Bundesverdienstkreuzes am Bande verliehen.
Anschrift
Prof. em. Dr. Dr. et Prof. h.c. Ferdinand Klein
83043 Bad Aibling, Adalbert-Stifter-Str. 4a
E-Mail: ferdi.klein2@gmail.com
[1] Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, wähle ich die männliche Sprachform. Auch die neutrale Form „pädagogische Fachkraft“ bietet sich an. Wird auf einen Text Bezug genommen, der die weibliche Sprachform wählt, dann wird dieser entsprochen. Stets dürfen sich alle Geschlechter verschiedener Professionen (Erzieher, Eltern, Heil- und Sonderpädagogen, Therapeuten, Pflege- und Betreuungskräfte, Assistenten, Studenten oder Schüler) angesprochen fühlen.