Zugehörigkeit und Partizipation
Heft 6/2024
Zwei Jubiläen gaben den Anlass für die Schwerpunktsetzung dieses Heftes: Vor 100 Jahren wurde die derzeitige Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich gegründet, vor 10 Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz ratifiziert. Der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ist auch in der Schweiz mehr als holprig – wie in anderen Ländern dominieren die schönen Worte, die realen Verhältnisse sehen anders aus.
Neben menschenrechtlichen Aspekten stellt die Behindertenrechtskonvention die Subjektivität der bisher Ausgeschlossenen mit den zentralen Aspekten der eigenen Würde (sense of dignity) und der eigenen Zugehörigkeit (sense of belonging) in den Mittelpunkt. Manche ziehen den Begriff Belonging dem der Inklusion vor. „Während Inklusion immer mit einem Vorgang des Einbeziehens vormals Ausgeschlossener verbunden bleibt, sei Belonging ursprünglicher, unhinterfragbar“, schreibt Susanne Leitner, die dazu auffordert, über den eigenen Mikrokosmos hinaus in einem globalen Zusammenhang zu denken.
Sebastian Brändli und Barbara Fäh zeichnen die Geschichte der Hochschule für Heilpädagogik Zürich nach, die mit berühmten Namen wie Heinrich Hanselmann (1885–1960) und Paul Moor (1899–1977) verbunden ist. Hanselmann erhielt 1931 die erste Professur für Heilpädagogik im deutschsprachigen Raum. Zuvor gründete und leitete Hanselmann von 1924 bis 1929 das Landerziehungsheim Albisbrunn.
Die dunklen Seiten dieser Einrichtung beleuchtet ein Autorenkollektiv um Lucien Criblez. Der Beitrag „Kontinuität und Wandel der stationären Erziehung – am Beispiel des Landeserziehungsheim Albisbrunn im 20. Jahrhundert“ beleuchtet viele Facetten, auch den Einfluss der materialen Gegebenheiten: „Den Isolierräumen und Mauern geschlossener Abteilungen wurde von den damaligen Akteur:innen des Heims ein entscheidender Wert zugesprochen, um den ‚Erziehungsschwierigen‘ zu helfen.“ Die Praxis in den Heimen beeinflusste in hohem Maße den diagnostischen und therapeutischen Blick – auch in der Theorie. Historisches Unrecht kann nicht wieder gutgemacht werden, aber die vertiefte Reflexion geschichtlicher Entwicklungen kann differenzierte Perspektiven für die Gegenwart eröffnen, und zwar jenseits einer moralischen Verurteilung im Kontext heutiger Werte und Normen.
Heute will die HfH Antworten für eine inklusive Schule liefern. „Es braucht das spezialisierte Wissen über Bildung für Alle für eine gelingende, tragfähige und zukunftsfähige Gesellschaft“, so Sebastian Brändli und Barbara Fäh.
Die einzigartige Fähigkeit der Spezies Mensch ist nach Franziska Felder keine individuelle, sondern eine soziale. Wir lernen – das zeigen die exzellenten Arbeiten von Michael Tomasello – nicht so sehr durch Imitation, sondern durch Kollaboration miteinander. „Teilhabe ist ein Schlüssel für und gleichzeitig Ausdruck von Zugehörigkeit.“
Den Begriff Partizipation entflechtet Kathrin Müller in Teil-Habe, Teil-Gabe und Teil-Nahme.
Jede dieser Dimensionen beleuchtet unterschiedliche Aspekte von Partizipation.
Karoline Sammann stellt das sprachliche Förderkonzept SPRINT vor, das die kommunikative Partizipation von (mehrsprachigen) Kindern zwischen 4 und 7 Jahren fördert.
Lucia Maier, Ilona Widmer, Melanie Nideröst und Pierre-Carl Link berichten, wie mit Mentalisieren in der Psychomotoriktherapie ein Beziehungsraum für Gefühle der Zugehörigkeit eröffnet werden kann. Pierre-Carl Link hat dieses Heft auch angeregt und kuratiert.
Die Digitalisierung, so Ingo Bosse, kann die Möglichkeiten inklusiven Lernens und des Zugangs zu Informationen erweitern, zugleich jedoch auch neue Ausschlüsse schaffen. Er zeigt an konkreten Beispielen, wie inklusive Medienbildung gelingen kann.
„Anders nicht falsch“ – so illustriert und beschreibt Maria Zimmermann ihr Leben im Spektrum. Andreas Eckert führt in seinem Beitrag über „Kommunikation und Teilhabe von Jugendlichen im Autismus-Spektrum“ diese Innenperspektive mit dem aktuellen wissenschaftlichen Fachdiskurs zusammen.
Aufgrund von Elterninitiativen entschied das norwegische Parlament 1988, alle Wohnheime für Menschen mit Beeinträchtigungen innerhalb weniger Jahre zu schließen. Per Gesetz wurde die Zuständigkeit für alle sozialen Dienstleistungen auf die Gemeindeebene übertragen, die für die Planung und Vernetzung aller Bedarfe sorgt, wobei das „Dorfgefühl“ erhalten bleiben soll. Franz Wolfmayr beschreibt an einem Beispiel anschaulich, wie in Norwegen Menschen mit Beeinträchtigungen als selbstbewusste Bürger:innen ihr eigenes Leben führen können.
Josef Fragner, Chefredakteur
Über den folgenden Link erhalten Sie Zugang zur Open-Access-Version der Ausgabe 6/2024: https://www.dropbox.com/scl/fi/n0jkc2iydv8emi7xkf14x/zeitschriftmenschen-6-24.pdf?rlkey=0tqdira3lxg93yvf1s5dwwjpu&dl=0