Ein Nahaufnahmebild eines farbenprächtigen, abstrakten Ölgemäldes, das eine lebendige Mischung aus Rot, Gelb, Pink, Grün und Blau zeigt. Die Farben sind dick aufgetragen und verschmelzen kühn an den Rändern, wobei jede Farbe eine starke Präsenz und Textur aufweist.

Malerei von Antonia Grametté (Ausschnitt)

Foto: © Jutta Czapski
aus Heft 3-4/2024 – Fachthema
Maria Höfflin

Mit Demut gegen Ohnmacht

Ein heilpädagogischer Entwurf
Um es direkt vorwegzunehmen: Jan Müller, von dem Sie in diesem Artikel lesen, hat nie gelebt. Sein Name ist Jan, weil das in seinem gedachten Geburtsjahr 1990 (wir sprechen über Menschen im besten Alter) der beliebteste Vorname für Jungen war. Und er heißt Müller, weil das in Deutschland einer der häufigsten Nachnamen ist.
Jan Müller steht als Stellvertreter für alle Frauen und Männer aus dem nachfolgend beschriebenen Personenkreis, denen ich im Rahmen der Berufstätigkeit begegnet bin. Der Name Jan Müller verringert die Distanz, die Begriffe wie „die“ oder „der Betroffene“ herstellen würden, und lässt Sie und mich nicht vergessen, dass wir über wirkliche Menschen nachdenken.
Was Sie über ihn erfahren, ist also wahr, denn alles, was ich berichte, hat tatsächlich stattgefunden. Und es ist gleichzeitig unwahr, denn diesen Jan Müller hat es nie gegeben. Wenn Sie Jan Müller wiederzuerkennen glauben, liegt es daran, dass ich die jeweils geschilderten Erfahrungen häufiger gemacht habe. Möglicherweise haben sie Ähnlichkeit mit Erfahrungen aus Ihrem Bekanntenkreis. Wenn Sie merken, dass die Fülle der Erfahrungen gar nicht zu einer einzigen Person passen kann, haben Sie recht – Jan Müller sind viele.

Personenkreis

Das Stichwort „Wachkoma“ löst individuell sehr unterschiedliche Vorstellungen aus. Sie reichen vom Zustand eines Körpers als funktionierendem Organsystem ohne Bewusstsein und Erleben bis zum wachen, aber bewegungsunfähigen Menschen, der bei vollem Bewusstsein im Körper eingeschlossen bleibt. Differenzierte Informationen zur Entstehung, zu Verläufen und Blickwinkeln auf Bewusstsein und Wachkoma bietet die umfassende Literatur zu diesem Thema (vgl. Steinbach & Donis 2011, Bienstein & Fröhlich 1994), sind zum Verständnis dieses Beitrags aber nicht erforderlich.

Für die folgenden Gedanken stelle ich mir Personen vor, deren Gehirn massiv schädigenden Einflüssen ausgesetzt war – etwa Verletzungen, Durchblutungsstörungen, Erkrankungen oder Vergiftungen. Diese Schädigungen waren schwerwiegend, in der Folge ist das Gehirn angeschwollen, und die für Wachheit zuständigen Strukturen haben so viel Druck erfahren, dass es für einen längeren Zeitraum zur Bewusstlosigkeit gekommen ist. Daher begegnen sie uns im heilpädagogischen Kontext mit Beeinträchtigungen, die alle Hirnfunktionen, einschließlich der Wachheit, betreffen können.

Jan Müller und seine Familie finden sich in einem Anpassungsprozess wieder, der alle Beteiligten vor umfassende Veränderungen stellt, beispielsweise in Bezug auf die räumliche Orientierung. Jan Müller liegt in einem Bett, das ihm nicht vertraut ist und das in einem ihm fremden Raum steht. Den Raum kann er nicht selbst erkunden, er nimmt ihn nur bruchstückhaft wahr. Wo genau im Bett er liegt, kann er auch nicht feststellen, da er durch die lange Zeit des unbewegten Liegens das genaue Gefühl für seine Position verloren hat. Seine Familie hat höchstwahrscheinlich entweder die Wohnung wechseln müssen, um den räumlichen Erfordernissen der Pflege gerecht zu werden (zusätzliche Zimmer, barrierefreies Bad) – wodurch sie sich in einem neuen Wohnumfeld orientieren muss –, oder Herr Müller lebt in einer Einrichtung. In diesem Fall verändern sich die Wege, die die Angehörigen regelmäßig gehen.

Radikal verändert sind oft auch die sozialen Rollen. Herr Müller ist in der Zeit der tiefen Bewusstlosigkeit mit „Jan“ angesprochen worden, weil er nur so noch erreichbar war. Dieser Prozess ist sinnvoll, wird aber oft nicht rückgängig gemacht, wenn die Nutzung des Vornamens nicht mehr notwendig ist. Herr Müller ist jetzt in jedem Kontext „Jan“, und so wird er auch neuen Bezugspersonen vorgestellt.

Seine Rolle in der Familie hat sich verändert. Er ist kein Entscheider mehr, über alle Belange entscheiden jetzt andere. Er ist nicht mehr die Person, die andere unterstützt, sondern Empfänger von Hilfeleistungen.

Die Angehörigen müssen seine Familienaufgaben übernehmen – zeitlich und inhaltlich. Der Vater, der Beziehungspartner, der erwachsene Sohn, sie alle sind weggebrochen – als Erziehungsperson, als Ratgeber, als Unterstützer, aber auch, ganz prosaisch, als Helfer im Haushalt, als Gartenbewirtschafter, als Tüftler. In allen Bezügen fehlt er.

Höchstwahrscheinlich haben sich seine wirtschaftlichen Verhältnisse gravierend verschlechtert. Die finanziellen Anforderungen der Pflege fressen schnell alle Rücklagen auf, ein eigenes Einkommen gibt es nach dem Krankengeld nicht mehr und Jan Müller ist jetzt Sozialhilfeempfänger. Ob er sich darüber im Klaren ist? Er hat jetzt einen gesetzlichen Betreuer, der die finanziellen Belange vertritt, das Geld geht nicht mehr durch Herrn Müllers Hände. Er hat keine Übersicht darüber, keine Zugriffsmöglichkeiten und ist ziemlich sicher nicht im Bild über seine aktuellen finanziellen Möglichkeiten.

Für seine Familie ist nicht nur sein Einkommen verloren gegangen. Sie muss möglicherweise bis zu einem gewissen Grad mit ihrem eigenen Vermögen einstehen. Eine lebhafte Verwaltungstätigkeit ist als zusätzliche Belastung entstanden: das Beantragen der notwendigen Leistungen bei Pflegekasse und Sozialamt, einschließlich der erforderlichen Nachweise, die beizubringen sind. Dazu kommt die Organisation eines passenden Pflegeplatzes oder die Einrichtung der Pflegemöglichkeit in den eigenen Wänden. Die Beantragung und Beschaffung von Hilfsmitteln und vieles mehr erfordern tägliche Beschäftigung im Büro.

Das sind nur wenige Schlaglichter als Impulse, um Vorstellungen der fremden neuen Situation zu entwickeln, mit der Jan Müller, neben seinen körperlichen Einschränkungen, und seine Familie zusätzlich zur Bewältigung des Schreckens zu tun haben.

Situationen der Ohnmacht

Vergleicht man das Erleben von Jan Müller mit dem von seinem Umfeld, finden sich erstaunliche Parallelen: Beide sind sicher, sich klar und verständlich auszudrücken, und beide haben den Eindruck, vom Gegenüber nicht wahrgenommen zu werden – so, als wären sie nicht da.

Seine Familie und sein professionelles Umfeld – Pflegekräfte, Ärzt:innen und Therapeut:innen – können nicht erkennen, dass Herr Müller absichtsvolle, sinnvolle Handlungen unternimmt. Sie erleben keine Resonanz auf ihre Angebote. Sie erwarten konventionelle Formen der Antwort – im Idealfall, dass er auf Bitten bestimmte Bewegungen durchführt. Diese können sie nicht erkennen. Oft decken sich die Einschätzungen des professionellen und des familiären Umfeldes nicht, was zusätzlich zur gegenseitigen Verunsicherung und damit zur Suche nach vermeintlich sicheren Anzeichen für bewusstes Handeln – oder dem Gegenteil – führt.

Unser Gehirn arbeitet im Sinne der Effizienz, sodass Wahrnehmungen zunächst in bestehende Erwartungen eingeordnet werden, um sie zu bestätigen, das heißt, unsere Wahrnehmung entspricht der Erwartung. Alle an der Situation Beteiligten – Herr Müller, sein familiäres und sein professionelles Umfeld – werden daher eher ihr jeweils eigenes Bild der Wahrheit festigen, als sich in Richtung einer gemeinsamen Wirklichkeit zu bewegen.

Zum Beispiel hat Herr Müller eine Herz-Lungen-Wiederbelebung überlebt. Noch auf der Intensivstation wird ein neurologisches Gutachten erstellt – mit dem lapidaren Ergebnis: „Das ist nichts und das wird nichts mehr.“ Das Pflegepersonal lässt sich von dieser Aussage eines Facharztes derart beeindrucken, dass sich ihre Wahrnehmungen seiner Einschätzung anpassen – obwohl sie sehr aufmerksam beobachten und den Dialog suchen.

Ich beginne meine Begleitung mit einer ausgedehnten Beobachtung, die ich absichtlich ohne jede Vorinformation durchführe. Ich begrüße Herrn Müller mit einer flächigen Berührung an seiner linken Schulter und stelle fest, dass er seine Schulter unter meiner Hand wegzieht. Ansonsten liegt Herr Müller eine ganze Zeit lang unbewegt, bis er zu husten beginnt und dazu die rechte Hand vor den Mund nimmt! Spätestens diese Bewegung war nicht zu übersehen – dennoch hat die anwesende Pflegekraft sie nicht wahrgenommen. Die von ihr angenommene Wirklichkeit hat dies verhindert.

Als Herr Müller später zu sprechen beginnt, wird sein spezielles Erleben der Situation deutlich: Er geht davon aus, gestorben zu sein – auf die ausdrückliche Frage danach antwortet er: „Sicher, ich habe mich doch liegen gesehen!“

Mit Herrn Müller sind Gespräche möglich, die keineswegs unsachlich sind. Er zeigt keine Orientierungsstörungen. Lediglich über die Frage, ob er gestorben sei oder nicht, ist keine Einigung zu erzielen. Alle Erlebnisse ordnet er in seinen Kontext ein. Der Besuch von Familienmitgliedern beispielsweise überzeugt ihn, dass auch diese gestorben seien.

Jan Müller ist in seinen körperlichen Möglichkeiten eingeschränkt. Er kann seine Sinne nicht mit ausreichend Informationen versorgen, um eine genaue Vorstellung seiner Umgebung zu entwickeln. Aus den wenigen zur Verfügung stehenden Informationen formuliert sein Gehirn ein zusammenhängendes Erleben – das sich von dem seines Umfeldes grundlegend unterscheiden kann (vgl. Gustorff & Hannich 2000).

So passen die Angebote seines Umfeldes voraussichtlich selten oder nie zu dem, was er mitzuteilen glaubt. In Erfahrungsberichten ist oft zu lesen, dass Betroffene sicher sind, sich laut und deutlich mitzuteilen – sie erleben ihr Umfeld als taub und blind für ihre Äußerungen (vgl. beispielsweise Tavalaro & Tayson 1998, Pistorius 2012, Gernlach 2000).

Herr Müller und sein Umfeld sind der Überzeugung, dass ihre Angebote eines Dialoges sehr eindeutig und leicht zu beantworten sind und dass ihr Gegenüber nicht in der Lage oder nicht willens ist, diesen Dialog aufzunehmen. Das macht beide Seiten ohnmächtig – hilflos im Sinne der Erlernten Hilflosigkeit (vgl. Seligman 1999).

Resultate

Herr Müller und alle, die mit ihm zu tun haben, unterliegen also durch die selbsterfüllende Prophezeiung letztlich Störungen des Erkennens.

Sein professionelles Umfeld beispielsweise hat medizinische Ordnungskonzepte, die dabei helfen, ihre Beobachtungen schnell zur Grundlage eines sinnvollen Handelns zu machen.

Herr Müller ist zu Beginn noch nicht in der Lage, sich viel zu bewegen. Seine Ehefrau hat den Eindruck, er nehme wahr, wenn sie ihn besucht, und zeige das in sinnvoller Weise, etwa durch einen Händedruck. Das medizinische Personal erlebt ihn als tief bewusstlos und nicht erreichbar.

Zu beobachten ist eine hochfrequente Drehbewegung der locker gefausteten linken Hand aus dem Ellenbogen heraus. Sie wird als Zeichen eines fokalen Krampfgeschehens gedeutet und behandelt, allerdings erfolglos.

Im Gespräch mit der Ehefrau stellt sich heraus, dass Herr Müller leidenschaftlich Schlagzeug spielt, was der Bewegung eine Bedeutung gibt.

Ich stecke einen Gegenstand in die lockere Faust und stelle sicher, dass Herrn Müllers Bewegung nun ein Geräusch erzeugt: Trommelwirbel!

„Ich kann Sie gut hören. Ich kann Sie aber noch nicht verstehen. Sie können mir mit Trommeln zustimmen. Ist Ihr Bedürfnis dringend?“ Trommelwirbel.

„Bekommen Sie schlecht Luft?“ „Haben Sie Schmerzen?“ „Müssen Sie zur Toilette?“ Trommelwirbel auf letztere Frage. Die Überprüfung des Blasendauerkatheters zeigt, dass ein Abflusshindernis besteht. Als dieses beseitigt ist, fließt eine Menge Urin ab, was zeigt, dass ein starker Harndrang bestanden haben muss.

Beide an dem Austausch Beteiligten konnten ein verstehendes Gegenüber erleben.

Die wiederholte Erfahrung, dass sowohl Herr Müller als auch sein Umfeld der Meinung sind, sich klar und eindeutig zu äußern, und dass das jeweilige Gegenüber in seinem Antwortverhalten versagt, bestätigt die eigene, geringe Erwartung an die Kompetenzen der Austauschpartner.

Herr Müller hat einen Modus entwickelt, um sich mit „Ja“ und „Nein“ zu äußern. Dazu benutzt er ein System mit einer roten und einer grünen Karte, die ihm präsentiert werden, und er wählt durch einen Blick die gewünschte Karte aus.

Dieses System wird der Wohngruppe erläutert – doch bereits am nächsten Tag kommt eine Betreuungskraft auf mich zu und sagt, sie sei überzeugt, dass Herr Müller nicht in der Lage sei, dieses System zu verstehen. Er wähle immer die Karte aus, die ihm links angeboten werde.

Die Betreuungskraft hatte beim Frühstück – im Wissen, dass Herr Müller Käse liebt – gefragt, ob Herr Müller Käse auf sein Brot haben möchte. Die Antwort war „Nein“.

Das konnte ja nicht stimmen! Sie fragte also erneut – diesmal war die Antwort „Ja“. Gleichstand! Sicherheitshalber fragte sie ein weiteres Mal und vertauschte dabei die Karten. Dann stellte sie die Frage anders, mit einer Verneinung. Im Ergebnis wurde Herr Müller sehr oft immer dasselbe gefragt, dabei wurden Worte und Karten getauscht, bis Herr Müller nur noch die linke Karte auswählte. Dieser Vorgang hat die Betreuungskraft in ihrer Vorstellung bekräftigt, dass Herr Müller kognitiv nicht in der Lage sei, mit diesem Antwortsystem zu arbeiten.

Was könnte Herr Müller bei der Frage nach dem Käse gedacht haben? Wenn er mit „Ja“ antwortet, bekommt er ein Käsebrot – allerdings ohne zu wissen, ob er das Käsebrot aus Gewohnheit bekommt, weil die Betreuungskraft weiß, dass er Käse mag, oder weil er mit „Ja“ geantwortet hat.

Wenn Herr Müller aber wissen will, ob die vor ihm sitzende Betreuungskraft das System mit den Karten verstanden hat, muss er mit „Nein“ antworten. Der oben geschilderte Vorgang hat Herrn Müller überzeugt, dass die Betreuungskraft nicht mit dem Antwortsystem arbeiten kann. Als ich Herrn Müller übrigens danach frage, ob die Betreuungskraft das System beherrscht, antwortet er sofort mit „Nein“.

In einem anderen Fall wurde Herrn Müller insgesamt eine unklare Kommunikationslage zum Verhängnis:

Es sollte neue Kleidung für ihn gekauft werden und Herr Müller sollte die Auswahl, ganz im Sinne der Autonomie, selbst treffen. Ein Katalog wurde ihm präsentiert.

„Herr Müller überschaut das nicht – er möchte jedes zweite Kleidungsstück kaufen!“, hieß es. Ich fragte zurück, wie denn die Aufforderung gelautet hätten. Solle er zeigen, was ihm gefalle, oder zeigen, was er jetzt kaufen wolle. Damit kehrte die Kollegin zu Herrn Müller zurück und fragte präzise nach dem aktuellen Kaufwunsch. Darauf sagte sie: „Er wählt jetzt weniger aus, für sein Budget ist es aber immer noch zu viel! Er kann seine Geldmittel nicht einschätzen.“

Als ich nach der genauen wirtschaftlichen Situation fragte, erfuhr ich, dass Herr Müller vor der Erkrankung Eigentümer eines Hauses gewesen sei und gut verdient habe. Mittlerweile seien seine Vermögenswerte jedoch in die Pflege und Betreuung geflossen und er lebe jetzt vom Sozialhilfesatz. Es stellte sich heraus, dass Herr Müller über seine veränderten Vermögensverhältnisse nicht informiert war. Ohne immer wieder zu überlegen, vor welchem Hintergrund seine Antworten sinnvoll sein könnten, wäre auch hier als Erfahrung stehen geblieben: Herr Müller hat kognitive Einbußen, die Teilhabe und Autonomie deutlich beeinträchtigen.

Die Häufigkeit von Gelegenheiten, in denen keine gegenseitige Erreichbarkeit gegeben ist, macht Herrn Müller immer wieder zur Projektionsfläche für Vorstellungen und Wünsche seiner Umgebung.

Ich war mir sicher, Herr Müller müsse großes Interesse daran haben, eigene Kleidung anstatt der Klinikhemden zu tragen, die liegende Position aufzugeben und stattdessen das Sitzen so lange zu üben, bis er im Rollstuhl das Zimmer verlassen könne, um seine Umgebung im neu bezogenen Pflegeheim zu entdecken und Kontakte zu knüpfen.

Herr Müller hat mich in meinem Aktionismus immer wieder gebremst – ich brauchte jeweils mehrere Tage, um zu bemerken, dass ich den Kontakt zu ihm verloren hatte. Er ist kurze Zeit nach dem Einzug ins Pflegeheim verstorben. Vom Ende her betrachtet waren seine Ziele viel sinnvoller als meine.

Das medizinische Umfeld lernt Herrn Müller kennen, nachdem er bereits alle Einschränkungen erworben hat, die jetzt seine Teilhabe behindern. Von da aus betrachtet, ist jeder Fortschritt ein Erfolg – Herr Müller muss doch großes Interesse an allen möglichen Therapien haben?

Sein familiäres Umfeld wünscht sich möglicherweise sehnlich, dass die Phase der Krankheit ein Ende nimmt und alle Beteiligten zu ihrem früheren Leben zurückkehren können. Das muss Herr Müller doch genauso gehen? Er wird doch alles in die Waagschale werfen, um sein bisheriges Leben schnell wieder aufnehmen zu können?

Herr Müller ist es, der am eigenen Leib erlebt, dass er Extremes leisten muss, um kleinste Veränderungen zu bewirken. Was seine Physio- und Ergotherapeut:innen begeistern mag, ist im Vergleich mit seinen Möglichkeiten vor der Hirnverletzung winzig. Vor allem, wenn die Kompetenz nicht genutzt wird, die Teilhabemöglichkeiten direkt zu erweitern. Und wenn der Erfolg nicht genossen werden kann, weil flugs das nächste Ziel in den Blick genommen wird und wieder Anstrengung und Ausdauer gefordert sind – wozu?

Herr Müller gewinnt den Eindruck, dass er nie genügen kann. Alle Ausdauer, alle Energie, die er aufwendet, sind umsonst. Wie er ist, scheint er nicht in Ordnung zu sein, er wird den hohen Ansprüchen an ihn nie gerecht werden können. Folgerichtig wird er sich immer weniger engagieren und schließlich die Mitarbeit einstellen.

Als Heilpädagog:innen sind wir gefragt, Herrn Müller erleben zu lassen, dass er richtig ist, genau wie er ist. Dass er sich weder verändern noch entwickeln muss, damit wir den Austausch mit ihm schätzen – dass nicht wir bestimmen, sondern er selbst, ob wir uns treffen und was dann passiert.

Das bedeutet beispielsweise, jede Woche zur gleichen Zeit zu kommen. Zu fragen, ob ich bleiben dürfe. Ob ich etwas erledigen könne – ob an der Beleuchtung, der Musik, dem Raumklima etwas zu tun sei? Nach wenigen Minuten – zwischen zwei und fünfzehn Minuten – gebeten zu werden zu gehen und nur noch zu fragen, ob ich wiederkommen dürfe. Und es bedeutet, am Ende einer über ein Jahr langen Begleitung damit zufrieden zu sein, dass Herr Müller entschieden hat, seine Bemühungen einzustellen. Er entschied sich dafür, mit den erreichten Teilhabemöglichkeiten zufrieden zu sein und jede Form von medizinischer Therapie und heilpädagogischer Begleitung zu beenden.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Herr Müller und sein Umfeld gefährdet sind, in eine Spirale von Erfahrungen und Deutungen zu geraten, die einem defizitären Blick aufeinander sowie Therapiemüdigkeit, Perspektivenverlust auf beiden Seiten und der Frage nach dem Sinn Vorschub leisten.

Heilpädagogische Erfahrungen

Das wesentliche Arbeitsmittel in der heilpädagogischen Arbeit mit Klient:innen wie Herrn Müller ist Zeit.

Jeden neuen Kontakt beginne ich mit drei Stunden reiner Beobachtung. Dabei interessieren mich seine Wahrnehmungsmöglichkeiten. Welche Angebote sind im Raum zu sehen (und im Sichtfeld der Klient:innen), was kann man hören und riechen, welche Möglichkeiten haben die Klient:innen, etwas zu spüren. Auf welche Angebote kann ich eine Reaktion entdecken? Welche Veränderungen an den Klient:innen kann ich wahrnehmen – wie sind sie sichtbar und hörbar? Wie erlebe ich Interaktionssituationen? Ist eine Beteiligung der Klient:innen für mich erkennbar? Erfährt diese eine Resonanz?

Zunächst geht es nur darum, Möglichkeiten zu erfassen, noch nicht um Absicht oder Gelingen von Verständigung.

Manchmal aber zeigen sich gleich Barrieren der Verständigung, die leicht überwunden werden können. Herr Müller wurde mir als vollkommen reaktionslos beschrieben. Als sich die Physiotherapeutin von ihm verabschiedete, dauerte es drei Minuten (180 Sekunden!), bis er den Kopf wendete und ihr nachblickte. Sie hatte den Raum schon längst verlassen. Diese lange Reaktionszeit konnte ich im Beobachtungszeitraum mehrfach feststellen. Es genügte, dem Umfeld die Länge der Reaktionszeit zu schildern, um ihnen einen Austausch zu ermöglichen.

Eine gute Hilfe, um in die achtsame Ruhe zu finden, die dazu nötig ist, findet sich in der Struktur des körpernahen Dialogaufbaus von Andreas Zieger1. Von fünf Schritten des Dialoges widmen sich drei der Annäherung und Begrüßung – von der Besinnung auf den vor mir liegenden Kontakt bereits vor Betreten des Zimmers über ein langsames Sich-hörbar-Machen und Annähern bis zur tatsächlichen Begrüßung im Sinne einer Berührung und Grußformel.

Das zweite wichtige Arbeitsmittel ist die Haltung der Demut. Von der Wortherkunft betrachtet ist es die „Gesinnung eines Dienenden“2 – ich betrachte mich gern als Erfüllungsgehilfin.

Das setzt voraus, dass ich die Herren Müller, die mir begegnen, konsequent als Experten für sich selbst betrachte. Wenn ich für ihre Handlungen keine Erklärung finde, die sie vernünftig erscheinen lassen, liegt es an mir, herauszufinden, welchen Sinn diese Handlungen für die Herren Müller haben.

Es bedeutet, immer zu vermitteln, dass ich Herrn Müller als Auftraggeber sehe; konsequent nachzufragen, ob meine und die Vorschläge aus dem Umfeld seinem Willen entsprechen.

Das geht bereits, bevor es sichere Kommunikationskanäle gibt, indem das, was von Herrn Müller spürbar ist, mit Bedeutung versehen wird. Ein Schließen der Augen, eine vertikale Stirnfalte, Veränderungen im Atemrhythmus oder im Muskeltonus und vieles mehr.

Häufig werde ich von der Familie gebeten, doch „Du“ und „Jan“ zu sagen – das machten alle, das möge er so. Ich bleibe aber so lange beim „Sie“, bis eine tragfähige Kommunikation etabliert ist und Herr Müller mir mitteilen kann, wie ich ihn ansprechen solle. Viele Jan Müllers, die in ihrem Alltag von allen geduzt werden, haben dann gewählt, per Sie angesprochen zu werden.

Das bedeutet auch, die eigenen Einschätzungen mit Nachfragen abzusichern, zum Beispiel eine als unbequem erachtete Position nicht einfach zu verändern, sondern zu fragen, ob der Wunsch dazu besteht, oder auszuhalten, dass manche Fragen nicht beantwortet werden. Es gibt viele Gründe, Fragen nicht zu beantworten, wenn das Antworten mühsam ist.

Dieses Vorgehen begrenzt die Ohnmacht auf beiden Seiten.

Herr Müller kann spüren, dass er selbst, seine Meinung und seine Äußerungen Gewicht haben und er damit Einfluss nehmen kann. Und ich als Gegenüber erhalte Antwort auf meine Angebote.

Literatur:

Bienstein, Ch. & Fröhlich, A. (Hrsg) (1994): Bewußtlos. Eine Herausforderung für Angehörige, Pflegende und Ärzte. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.

Seligman, M. E. P. (1999): Erlernte Hilflosigkeit. Weinheim: Beltz Verlag.

Aronson, E., Wilson, T. & Akert, R. (2014): Sozialpsychologie. München: Pearson Deutschland.

Ammann, P. (2012): Reaching out to People in Comatose State. Contact and Communication. Norderstedt: Books on Demand.

Tavalaro, J. & Tayson, R. (1998): Bis auf den Grund des Ozeans. Freiburg: Herder.

Gernlach, Z. (2000): War ich nicht tot genug? Norderstedt: Books on Demand.

Pistorius, M. (2012): Als ich unsichtbar war. Köln: Bastei Lübbe.

Gustorff, D. & Hannich, H.-J. (2000): Jenseits des Wortes. Musiktherapie mit komatösen Patienten auf der Intensivstation. Bern: Hans Huber.

Steinbach, A. & Donis, J. (2011): Langzeitbetreuung Wachkoma. Eine Herausforderung für Betreuende und Angehörige. Heidelberg: Springer Verlag.

Fußnoten:

1 https://www.a-zieger.de/Dateien/Vortraege/FolienUniGreifswald2005.pdf, aufgerufen am 15.10.2023

2 https://www.duden.de/rechtschreibung/Demut, aufgerufen am 15.10.2023

Autorin:

Maria Höfflin, Dipl. Heilpädagogin (FH)

Ausbildung zur staatlich geprüften Krankenschwester 1989–1992.

Berufserfahrung in der Krankenpflege in den Bereichen Innere Medizin, Intensivmedizin und Neurologie. Praxisbegleiterin für Basale Stimulation® in der Pflege. Studium der Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule Freiburg 2004–2008. Berufserfahrung in der Heilpädagogik in den Bereichen Frühförderung, Internat und Offene Hilfen. Langjährige Lehrbeauftragte an der Katholischen Hochschule Freiburg.

Schwerpunkt des Interesses und der Arbeit sind und waren Bedürfnisse von Menschen mit schweren Einschränkungen in den Bereichen allgemeine Entwicklung, Kommunikation und Teilhabe.

https://www.sesamoeffnedich.com/maria-höfflin/

hoefflin@sesamoeffnedich.com