Ein Familienporträt zeigt einen jungen Mann mit Trisomie 21, umgeben von seinen Großeltern. Die Großmutter sitzt links neben ihm und lächelt ihn liebevoll an, während der Großvater und die zweite Großmutter ihn von der rechten Seite umarmen und ebenfalls lächeln. Die Szene spielt sich in einem hellen, wohnlichen Raum ab.

Wird Willi denken, wir hätten ihn verlassen, wenn wir tot sind? Oder wird er durch den eines Tages bevorstehenden Abschied von seinen innigst geliebten Großeltern doch noch eine Vorstellung davon bekommen, was Sterben bedeutet?

Foto: © Birte Müller
aus Heft 3-4/2024 – Aus Elternsicht
Birte Müller

Was wird aus Willi, wenn wir nicht mehr da sind?

Sich mit dem Thema Sterben und Tod auseinanderzusetzen ist vermutlich für alle Menschen schwierig. Persönlich versuche ich, es nicht ständig zu verdrängen, aber mit meinen Eltern spreche ich zum Beispiel fast nie darüber, dabei sind sie beide schon über 80 Jahre alt.

Es überschreitet einfach meine Vorstellungskraft, dass meine Eltern – und auch ich selbst – eines Tages nicht mehr existieren werden. Neulich hatte Willis jüngere Schwester Olivia eine Diskussion mit Freunden, die die Behauptung aufstellten, ihr Bruder sei aufgrund seiner Behinderung ein glücklicherer Mensch als andere, weil er ja nicht begreifen könne, dass er einmal sterben werde.

Abgesehen davon, dass Willis Erkenntnisse von unserer Existenz sich von den meinen eigentlich nicht wesentlich unterscheiden, ist die Annahme, Menschen mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) seien grundsätzlich von Gedanken an den Tod weniger erschreckt, ein krasses Vorurteil.

Niemand wird einem Menschen mit Trisomie 21 die Fähigkeit zu fühlen absprechen – aber warum denken viele, Traurigkeit oder Wut gehöre nicht zu diesen Gefühlen? Es ist doch eine klare Diskriminierung, Willi nicht das Recht auf negative Gefühle und auf die Auseinandersetzung mit ihnen zuzusprechen. Darum halte ich es auch für falsch, das Thema Tod von Menschen mit kognitiven Einschränkungen fernzuhalten. Wenn eines unserer Kaninchen starb, habe ich Willi das Tier sogar immer noch einmal gezeigt, damit er verstehen lernen könnte, was mit ihm passiert war.

Tatsächlich scheint Willi jedoch bis heute tote Tiere eher für „kaputt“ zu halten. Er warf einmal eines über den Zaun zurück ins Gehege und versuchte es anzuschieben, damit es wieder loslaufe. Einmal brachte er seinem Vater eines, wohl in der Hoffnung, er möge es wieder aufladen, so wie sein Tablet, wenn es nicht mehr funktioniert. Willi zeigte keinerlei Anzeichen von Schrecken oder Trauer angesichts eines gestorbenen Kaninchens, ganz anders als seine kleine Schwester. Aus Rücksicht auf sie wurden die Beerdigungszeremonien ohne Willi abgehalten, denn die Gefahr einer umgehenden Exhumierung des Tieres durch Willi wäre zu groß gewesen.

Aber auch wenn Willi selbst das Konzept von Leben und Sterben nicht oder noch nicht verstanden hat, argumentierte Olivia in der Diskussion mit den anderen Jugendlichen darüber, ob ihr Bruder deswegen nun ein glücklicherer Mensch sei, vehement gegen diese Position.

Ihr Standpunkt war, dass Willi denselben Schmerz fühle wie jeder andere Mensch, nur eben in anderen Situationen. Sie sagte, Willi weine vielleicht nicht über das gestorbene Kaninchen, dafür aber, weil er kein viertes Würstchen essen dürfe oder am Sonntagmorgen bis 10 Uhr warten müsse, bis wir zu Oma und Opa fahren. Sie ließ nicht zu, dass sich ihre Gesprächspartner auf ihrem positiven Vorurteil des immer lachenden „Downies“ ausruhten. Mich beeindruckte das sehr.

Schon direkt nach Willis Geburt begegnete auch mir ständig das Vorurteil, „diese Kinder“ seien ja „solche Sonnenscheine“. Es sollte mich trösten. Allerdings empfand ich es als schmerzhaft, dass andere glaubten, mich wegen meines Kindes trösten zu müssen. Mir kam es unfair vor, dass Willi die Aufgabe haben sollte, seine Behinderung durch ständiges Lachen wieder auszugleichen, als sei sie ein Makel. Aber ich sagte das nie, weil mein Gegenüber es ja gut gemeint hatte. Bis heute nicke ich meist nur brav und lächele freundlich zur Sonnenscheinlegende, statt zu erklären, dass kein Mensch sich sein Existenzrecht und das Recht auf Liebe durch dauernde Fröhlichkeit verdienen müsse – auch nicht, wenn er eine Behinderung habe.

Andere Kommentare Außenstehender trafen mich weitaus mehr und machten mich erst recht sprachlos. Willi war nur wenige Wochen alt und wir hatten das Krankenhaus noch nicht einmal verlassen, da sprach mich eine fremde Krankenschwester im Vorübergehen auf dem Flur an. Sie blickte in das kleine Bettchen, das ich vor mir herschob, und sagte zu mir: „Es ist ein Mongölchen, oder? Da müssen Sie gut aufpassen, dass es Sie nicht überlebt.“ Dann ging sie weiter. Bis heute klingen mir diese furchtbaren Worte in den Ohren. Was hatte sich diese Frau dabei gedacht, der Mutter eines Säuglings so etwas Grausames zu sagen? Wie stellte sie sich das konkret vor, dass ich eines Tages erst mein Kind und dann mich selber töten sollte? Und wann hätte ich das ihrer Meinung nach wohl tun sollen? Und wem sollte damit gedient sein? Der Gesellschaft, der Willi dann nicht zur Last fallen würde, oder ihm selber, weil er dann nicht in einem Heim vernachlässigt würde? Warum dachte sie, dass kein anderer Mensch außer mir ihn jemals würde lieben können?

Ein Leben ohne uns

Heute, 17 Jahre später, denke ich tatsächlich öfter darüber nach, wie Willis späteres Leben wohl ohne uns aussehen wird. Das hängt mit seiner baldigen Volljährigkeit zusammen und damit, dass mein Mann und ich endlich unser Testament machen. Jahrelang haben wir das vor uns hergeschoben, obwohl wir wussten, wie wichtig die Regelung des Nachlasses gerade für Familien mit behindertem Kind ist. In diesem Zusammenhang mussten wir nun zwangsweise viel darüber sprechen, was im Falle unseres Todes passieren solle.

Ich versuche immer wieder mir vorzustellen, was aus Willi wird, wenn er alt wird und wir nicht mehr da sind. Wird er verstehen, warum wir ihn nicht mehr abholen oder besuchen? Oder gehen wir ihm ohnehin irgendwann auf die Nerven und er ist froh, wenn er an den Wochenenden in seiner Einrichtung herumhängen kann? Wird er denken, wir hätten ihn verlassen, wenn wir tot sind, oder wird er das nach einer Weile so gelassen annehmen, wie er viele Dinge im Leben annimmt? Oder wird er durch den eines Tages bevorstehenden Abschied von seinen innigst geliebten Großeltern doch noch eine genauere Vorstellung davon bekommen, was Sterben bedeutet?

Welche Rolle wird seine Schwester später in seinem Leben spielen? Mein großer Wunsch ist natürlich, dass Willi und Olivia ein gutes Verhältnis haben und sie ein Auge auf seine Belange hat. Aber ich möchte nicht, dass sie die ganze Verantwortung und mein schlechtes Gewissen für die Wochenenden erbt, an denen Willi nicht abgeholt wird. Das Wichtigste wäre, dass Willi in der Einrichtung, in der er lebt, Bezugspersonen hat, die ihn liebevoll begleiten.

Natürlich würde ich mein Kind lieber nicht alleine lassen, weil ich Angst habe, es könnte vielleicht jahrelang einsam vor sich hinvegetieren. Doch die Angst, es vor mir sterben zu sehen, ist viel, viel größer.

Früher, als Willi schwere gesundheitliche Probleme hatte, einen Luftröhrenschnitt bekam und täglich hunderte Krampfanfälle durchlitt, schien er oft kaum bei Bewusstsein zu sein. Damals kam mir der schreckliche Gedanke, er sei, wie ein „Zombie“, gar nicht wirklich am Leben. Er hatte sein Lächeln verloren, konnte uns nicht anschauen, reagierte weder auf Ansprache noch auf Berührung. Trotzdem kam mir nie der Gedanke, er habe kein lebenswertes Leben, denn wir liebten ihn und kümmerten uns um ihn umso inniger, je weniger er seine Bedürfnisse zeigen konnte.

Leben will leben

Damals sagte eine Freundin zu mir, sie würde mir wünschen, Willi möge sterben. Auch das war gut gemeint, bedeutete aber das Ende unserer Freundschaft. Später in der Schule hatte Willi einen Schulfreund, der sehr stark eingeschränkt war und an einer lebensverkürzenden Erkrankung litt. Er hieß Nick und Willi liebte ihn inbrünstig. Wann immer es ging, legte er sich zu Nick in den Rollstuhl, um ihn zu umarmen und für ihn Quatsch zu machen. Nick konnte nicht sehen, sprechen oder sich kontrolliert bewegen. Er schien Willis Liebe zu erwidern, denn er lachte, wenn Willi auf ihn kletterte. Wenn es ihm zu wild wurde, sah man auch das an seinem Gesicht und er machte einen Laut des Unmutes. Dann musste Willi wieder absteigen. Nicks Eltern lebten mit der ständigen Angst, er könnte sterben, und seine Mutter erzählte mir oft, wie dankbar sie sei, dass ihr Kind – ganz anders, als die Prognose gelautet hatte – so lange bei ihnen sein konnte. Auch sie verletze es zutiefst, wenn Verwandte und Freunde andeuteten, es wäre eine Erlösung für alle, wenn er bald sterben möge.

Wie wollen wir die Lebensqualität eines anderen Menschen beurteilen, besonders, wenn er sich uns nicht verbal mitteilen kann? Wieso wird oft von außen darüber geurteilt, was lebenswert ist und was nicht? Wir müssen doch unbedingt immer davon ausgehen, dass Leben leben will!

Als Nick starb, fragte Willi noch jahrelang nach ihm, obwohl wir ständig zu erklären versuchten, warum er nicht wiederkommen würde. Wir zeigten Willi auch oft die Worte „lebendig“ und „tot“ auf dem Talker, aber Willi benutzt sie von sich aus bis heute nicht. Willi hat Nick mit Sicherheit sehr vermisst, aber ich glaube nicht, dass sein Schmerz ein anderer gewesen wäre, wenn Nick einfach nur in ein anderes Land gezogen wäre. Er konnte nicht bei ihm sein und das gefiel ihm nicht. Faktisch hätte es für Willi keinen Unterscheid gemacht, ob Nick an einem anderen Ort weitergelebt hätte, denn seine eigene Wirklichkeit hatte er verlassen.

Nick verbrachte die letzten Wochen seines Lebens zusammen mit seiner Familie im Kinderhospiz. Seine Mutter erzählte mir später, dass sie deutlich gespürt habe, als er nicht mehr leben wollte. Er lehnte plötzlich die Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung ab und starb drei Tage später friedlich in ihren Armen. Und auch wenn man sich wohl kaum einen schöneren Abschied vorstellen kann, war die Trauer um Nick unfassbar groß und die Lücke, die durch seinen Tod entstanden ist, wird sich nie ganz schließen.

Was soll ich mir für Willi wünschen? Dass er vor mir stirbt, damit ich bei ihm sein kann? Nein, das kann ich mir nicht wünschen. Willi soll die Möglichkeit haben, alle Facetten des Lebens zu erfahren, auch den Verlust seiner Eltern und das eigene Altern.

Also wünsche ich mir für ihn, was ich jedem anderen geliebten Menschen auch wünsche: ein möglichst langes, gesundes und glückliches Leben – unter Menschen, die ihm das Recht auf die ganze Bandbreite der menschlichen Gefühle zugestehen und ihm Liebe, Halt und reichlich Schmerzmittel geben, wenn er diese Welt einmal verlassen muss. Aber wie gesagt: Wirklich vorstellen kann ich mir das nicht.

Autorin:

Birte Müller, geboren 1973 in Hamburg, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Seit sie Kinder hat (eins davon mit extra Chromosom), schreibt die ausgebildete Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Kolumnen – zurzeit für die taz über ihre „Schwer mehrfach normale Familie“. Sie erschienen auch in Buchform unter dem Titel „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“.

E-Mail: birte@illuland.de