Eine Person in einem Rollstuhl, bekleidet mit einer grünen Jacke und einer gelben Mütze, befindet sich auf einem sandigen Weg in einer ländlichen Umgebung. Die Person blickt nachdenklich zur Seite, während die linke Hand neben dem Rollstuhl hinunterhängt. Im Hintergrund sind offene Felder und einige Häuser unter einem klaren Himmel zu sehen.

Das Halstuch um Friedrichs Hals gehörte einst Lotti, einem kürzlich verstorbenen Mädchen aus seiner Förderschule, in das er vermutlich verliebt war. Noch immer zaubert das nach Lavendel duftende Halstuch ein Lächeln auf sein Gesicht.

Foto: © Florian Jaenicke
aus Heft 3-4/2024 – Wir sind viele
Florian Jaenicke

Sorgenvoll in die Zukunft

Unsere Leser:innen lernten Friedrich Jaenicke und seinen Vater Florian in Heft 2/20 kennen. Die Leser:innen des ZEIT-Magazins kannten ihn schon durch die wöchentliche Kolumne „Wer bist Du?“. Derzeit erscheint im ZEIT-Magazin unregelmäßig eine neue Kolumne „Friedrich und das Leben“. Zuletzt haben wir in Heft 6/22 nachgefragt, wie es Friedrich geht? Hier berichtet sein Vater darüber, wie Friedrich erwachsen wird und seine Sorgen immer größer werden. Florian Jaenicke lebt mit seiner Familie in Deutschland.

Seit 2020 hat sich unser Leben grundlegend geändert, nicht nur wegen der Pandemie, die unser aller Leben verkomplizierte und noch beschwerlicher machte. Die größte Veränderung für uns brachte Friedrichs Dasein als Jugendlicher, oder besser junger Erwachsener. Wir wussten, dass vieles schwerer wird, aber dass die Veränderungen so gravierend sein würden, hat uns doch überrascht.

Die Gesellschaft, in der wir leben, bringt Familien wie uns zwar Mitgefühl entgegen, Empathie allein reicht aber nicht, um ein würdevolles Zusammenleben mit erwachsenen Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Seit vergangenem Sommer bin ich ehrenamtlich – wie sollte es anders sein, denn der Dienst an der Gesellschaft wird fast nie vergütet – im Vorstand des Vereins Helfende Hände in München aktiv und bekomme so etwas mehr Einblick in die Strukturen, denen die sozialen Einrichtungen in Deutschland unterworfen sind. Anders als bei minderjährigen Menschen mit Behinderungen ist der Staat nicht mehr in der Pflicht, eine Versorgung für diese Menschen bereitzustellen. Da das Recht auf Bildung mit dem 18. Geburtstag endet und weil Menschen mit komplexer Behinderung abgesprochen wird, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen zu können, wird ihnen das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben nicht zuerkannt. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen nehmen sie deshalb nicht auf. Auf einen Förderstättenplatz, wo behinderte Menschen unter der Woche tagsüber betreut und gefördert werden, besteht kein Rechtsanspruch. Und Wohnheimplätze werden seit Jahrzehnten nicht in ausreichender Zahl gebaut. So müssen viele Familien von einem Tag auf den anderen ihre erwachsenen Kinder rund um die Uhr zu Hause betreuen, was nur geht, wenn ein Familienmitglied seinen Beruf aufgibt. All das in einem der reichsten Länder der Erde. Deshalb wächst bei mir ein Groll, der ungesund ist und den ich gar nicht haben will. Es ärgert mich, wenn einerseits z. B. Landwirt:innen Straßen und Autobahnen blockieren und große Solidarität erfahren und es andererseits hingenommen wird, dass Familien unter größter Belastung nicht ausreichend unterstützt werden. Aber Jammern hilft nichts, es bedeutet nur, dass wir noch mehr gefordert sind, auf uns aufmerksam zu machen.

Der Ministerpräsident gratuliert Friedrich zu seiner Volljährigkeit. In seinem Brief an Friedrich spricht er von dessen Plänen, einer eigenen Wohnung oder einem Studium, das er vielleicht in Erwägung zieht. Vor langer Zeit erhofften wir uns auch einmal, dass Friedrich diese Möglichkeiten hätte. Bayern sei ein großartiges Land, heißt es weiter, und der Landesvater möchte Friedrich bei seinem Start ins Leben helfen, damit dieser gut gelinge. Das ist schön, denn uns fällt einiges ein, was ihm helfen würde. Ein Platz in einem Wohnheim mit Förderstätte zum Beispiel. Die Einrichtungen, die ich bisher kontaktierte, haben keine Plätze und lange Wartelisten und so ist es gut möglich, dass wir im kommenden Jahr, wenn die Förderschulzeit zu Ende geht, ihn rund um die Uhr betreuen müssen. Friedrich bekommt von diesen Sorgen an seinem Ehrentag nichts mit, aber er ahnt, dass etwas anders ist als sonst: Wir wecken ihn mit „Happy Birthday“ von Stevie Wonder, meine Frau buk seinen Lieblingskuchen, Luftschlangen und Luftballons schmücken das Zimmer, die Kerzen bläst er mithilfe eines Tasters, der an einen Fön angeschlossen ist, aus. Wir singen ihm ein Ständchen und verdrücken heimlich eine Träne.

Im vorletzten Sommer machte ich ein Foto von Friedrich und Lotti, dem Mädchen aus Friedrichs Förderschule, in das er ein wenig verliebt zu sein schien. Denn immer wenn sie in seiner Nähe war, neigte er seinen Kopf und lächelte verlegen. An jenem heißen Tag spielten wir während der Aufnahmen Musik auf dem Handy, die sie mochten. Wir hofften so, den Zauber zwischen den beiden zu entfachen, um ihn auf die Fotos zu bannen. Auf diesem Bild hier – es entstand im vergangenen April am selben Ort – ist nur noch Lottis Halstuch zu sehen. Friedrich trägt es, damit er etwas von ihr hat, was ihn an sie erinnert, denn sie war wenige Wochen zuvor gestorben. Die Nachricht von ihrem Tod mit 17 Jahren hat uns bestürzt, doch nach einiger Zeit wich die Trauer der Dankbarkeit darüber, dass es Lotti gab und Friedrich sie kennenlernen durfte. Noch immer duftet das Halstuch ein wenig nach Lavendel und damit nach ihr. Dieser Geruch zaubert immer noch ein Lächeln bei ihm hervor.

Die Sommerferien sind fast zu Ende. Die meiste Zeit haben wir Friedrich in der Ferienzeit rund um die Uhr bei uns zu Hause. Weit weg zu fahren ist heute komplizierter als früher, als er noch klein war, denn wir müssen für ihn, seine Hilfsmittel und uns größere Unterkünfte buchen. Friedrich liebt Wasser. Wenn es heiß ist, kühlen wir ihn meistens in unserem Planschbecken ab. Manchmal fahren wir aber auch an einen See. Hier ist es so flach, dass ich Friedrich ins Wasser tragen kann. In diesem Sommer ist die Stimmung anders als sonst, denn wir sind nur zu dritt; unser jüngerer Sohn August ist das erste Mal alleine in den Ferien. Mit seinen vierzehn Jahren entdeckt er die Welt mehr und mehr auf eigene Faust und wir Eltern bleiben mit Friedrich zurück.

Wieder ist ein Jahr vorbei. Es begann voller Hoffnung, um dann immer ernüchternder zu werden. Besonders die letzten Wochen setzten uns zu, denn es geht nicht nur um ferne Kriege, die für sich genommen schlimm genug sind, sondern auch um Menschen mitten unter uns, denen Hass entgegengebracht wird, nur weil sie zur jüdischen Minderheit gehören. Bevor man in Deutschland die Jüd:innen vernichtete, tötete man in der sogenannten T4-Aktion Menschen mit Behinderungen. Wäre Friedrich vor 80 Jahren geboren worden, man hätte ihn uns weggenommen und umgebracht. Nie hätte ich gedacht, dass in Deutschland Jüd:innen wieder Angst um sich und ihre Kinder haben müssen. Das war naiv. Wenn dieser Hass auf Jüd:innen wieder entstehen kann, wer sagt, dass nicht auch Menschen wie Friedrich eines Tages wieder als lebensunwert gelten? Werden wir den Satz „Solche Kinder muss man doch heute nicht mehr haben“ bald häufiger hören? Auch nach einem knappen Jahr Suche haben wir immer noch keine Lösung für Friedrichs Zeit nach dem kommenden Sommer gefunden. Es ist beängstigend. Wie gut es dann tut, in Friedrichs Gesicht zu schauen, der von all der Trübsal unberührt, glücklich und voller Liebe ist.