Die Ungehörten
„Wir müssen den Ungehörten eine Stimme geben, sie an den Beginn unseres Nachdenkens und Handelns stellen.“
(Josef Fragner, Chefredakteur)
Intro:
Die Ungehörten
Klaus Dörner prägte das Motto „Mit den Schwächsten beginnen“, das uns bei der Planung dieses Heftes begleitete. Karl H. Beine erinnert an ihn, bei dem die Person immer an erster Stelle stand. Je mehr wir uns mit dem Thema beschäftigten, desto dringender wurde die Frage: Von wem genau ist die Rede, wenn wir von den Schwächsten sprechen? Sind die Schwächsten nicht die Schwachgemachten? Erbringen sie in ihren Situationen nicht Höchstleistungen? Eines haben alle gemeinsam, es sind die vielen, von denen niemand redet, von denen niemand hören will, die Ungehörten, die hinter der Zuschauer:innenrampe Vergessenen, während vorne auf der Bühne groß von Inklusion geredet wird. Wir müssen den Ungehörten eine Stimme geben, sie an den Beginn unseres Nachdenkens und Handelns stellen.
Es gibt viele davon. Familien, die nach der Schule von einem Tag auf den anderen ihre erwachsenen Söhne und Töchter rund um die Uhr zu Hause betreuen müssen, da es zu wenig Wohnplätze gibt. Florian Jaenicke und Birte Müller geben Einblicke in diese Situationen und in eine Zukunft, die ungewiss und voller Sorgen ist.
Sie ist viele. In N.s Körper leben mehrere Persönlichkeiten. N. hat eine dissoziative Identitätsstörung und damit mehrere Persönlichkeitsanteile. „Wir sind Menschen, die ihr nicht kennt und nicht versteht.“
Andreas Zieger lüftet den Schleier der schönen, empathischen Wörter, der sich über die vielen extremen Situationen legt, unter denen Menschen im Wachkoma in unmenschlicher Weise leben müssen.
Sven Jennessen und Kirstin Fellbaum fragen danach, welche Themen für Kinder und Jugendliche mit einer lebensverkürzenden oder lebensbedrohlichen Erkrankung wichtig sind. Sie schmieden trotz ihrer verkürzten Lebenszeit eigene Zukunftspläne.
„Wenn das, was eine Person durch nicht verbal ausgedrückte Tätigkeiten mitteilt, von uns nicht als ihre Stimme interpretiert, als ihre Frage übersetzt, als Sorge entziffert, als Nachhall von Beängstigung oder Kränkung gehört werden kann, befindet sich die Person in einer chronisch unerhörten Situation“, warnt Kristina Kraft eindringlich.
Palliative Situationen können bei entsprechenden Erkrankungen in der Schule auftreten. Helga Schlichting hat viel Erfahrung damit und skizziert wichtige Fragen einer „Palliativen Pädagogik“.
Psychische Leiden werden bei Menschen mit komplexen Behinderungen oftmals nicht erkannt bzw. als herausforderndes oder behinderungsbedingtes Verhalten missverstanden und fehlinterpretiert. Darauf weist Lena Grüter hin.
Maria Höfflin schildert eindringlich, wie sie mit Demut gegen Ohnmacht vorgeht. Das setzt voraus, dass die ihr begegnenden Menschen konsequent als Expert:innen für sich selbst betrachtet werden. „Wenn ich für ihre Handlungen keine Erklärung finde, die sie vernünftig erscheinen lassen, liegt es an mir, herauszufinden, welchen Sinn diese Handlungen für sie haben.“
Menschlichkeit ereignet sich dort, wo man sie vielleicht am wenigsten vermutet hätte: in der Verletzlichkeit, im Berührtwerden von anderen Menschen, gerade durch ihre Schwäche und ihre Sterblichkeit. Verletzlichkeit gehört – ausnahmslos – zum menschlichen Sein und ist nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt, so Hans Weiß. „Verwundbarkeit bei sich und anderen wahrzunehmen, Verletzlichkeit zu teilen erweist sich ‚als eine Quelle für Empathie und Fürsorge‘“ und ist die Grundlage für eine Ethik der wertschätzenden Sorge.
Nur weil Menschen verwundbar sind, ereignet sich das Wunder der Nähe. Das erlebt Jutta Czapski täglich in ihrer Arbeit im Kinderhospiz. Sie durfte auch Antonia Gramatté begleiten, die sich durch die Kunst langsam wieder aufrichtete. „Ich kann nicht mehr in die Schule gehen und keine Ausbildung machen, aber dafür bin ich jetzt Künstlerin“, sagt sie und sieht darin ihre neue Aufgabe und einen neuen Lebenssinn. „Bunt, wild und frei“ ist ihre Bilderwelt, von der wir einige als „Einstiegsbilder“ bringen dürfen.
Unzählige leiden noch immer unter den Folgen einer Corona-Infektion. Ihre begrenzten Energiereserven und einschneidenden Einschränkungen werden von vielen nicht wahrgenommen: „Jetzt muss es doch dann aber mal gut sein“, hören die Erkrankten oft und nicht selten findet eine Umdeutung und Zuschreibung ins Psychische statt, berichtet Eva-Maria Klinkisch im Gespräch mit Sophia Falkenstörfer. Die fehlende Anerkennung führt dazu, dass das Leiden der Betroffenen in der Gesellschaft unsichtbar wird.
Inhalt:
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Sorgenvoll in die Zukunft
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Es gibt uns!
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Was wird aus Willi, wenn wir nicht mehr da sind?
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Verletzlich bleiben - auch wenn's wehtut
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"Wachkoma" - Zur Dechiffrierung einer extremen Lebenssituation
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Die andere Seite - Über Empathie und ihre Spuren (Teil 3)
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Lebensthemen von jungen Menschen mit lebensverkürzender oder lebensbedrohlicher Erkrankung
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"Die Stimme der Ungehörten": 'Stereotypes Problemverhalten' entpathologisierend lesen
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Palliative Care an der Schule
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Psychische Störungen bei Menschen mit komplexen Behinderungen
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Mit Demut gegen Ohnmacht
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Die Macht der Ohnmacht. Leben bis zuletzt im Kinderhospiz
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John führt ein glückliches Leben mit Trisomie 21
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Siegfried Braun - unbekannter Pionier der Behindertenbewegung in Österreich
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"Es ist unendlich mühsam."
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Mit den Schwächsten beginnen
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Konkret: Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipation im Alltag von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf
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PINO-Studie
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Grenzverletzungen - Worte helfen mehr
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Von der Verletzbarkeit
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Dankbarkeit - höfliche Geste, Verpflichtungen oder wehleidige Eigenschaft?
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Die Kunstausstellung TROTZDEM von Antonia Gramatté
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Bücher
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