„Was wird aus unserem beeinträchtigten Kind, wenn wir mal nicht mehr sind?“
Aspekte lebensgeschichtlicher Bedeutungen des Zusammenlebens mit einem kognitiv beeinträchtigten Kind – neue Perspektiven auf „ältere Familien“ aus Elternsicht.
Diese Frage stellen sich viele Eltern beeinträchtigter Kinder, wenn sie über die eigene Zukunft und die ihrer Kinder nachdenken. Zwar gibt es mittlerweile unterschiedliche Angebote des Wohnens mit Unterstützung, aber der Übergang aus dem Elternhaus in ein Wohnen mit professioneller Unterstützung ist ein Schritt, der einigen Mut erfordert. Außerdem setzt er die Bereitschaft und die Fähigkeit aller Beteiligten voraus, sich auf eine ungewisse Zukunft unter veränderten Bedingungen einzulassen.
Schätzungsweise 50 % aller erwachsenen kognitiv beeinträchtigten Menschen leben mit ihren Angehörigen zusammen, meistens mit den Eltern bzw. einem Elternteil (vgl. Reich & Schäfers 2021, 100). Regionale Erhebungen bestätigen diese Schätzungen und verdeutlichen zudem, dass es sich dabei nicht nur um junge Erwachsene handelt, sondern dass viele kognitiv beeinträchtigte Menschen bis zum 40. Lebensjahr und darüber hinaus in der Herkunftsfamilie leben (vgl. Thimm, Rodekohr, Dieckmann & Haßler 2018; Lindmeier et al. 2018; Stamm 2009; Burtscher, Heyberger & Schmidt 2015).
Der demografische Wandel rückt diese sogenannten „älteren Familien“ stärker in den Fokus fachlicher Diskurse: Die Lebenserwartung beeinträchtigter Menschen steigt und nähert sich immer weiter an die der nicht lebenslang beeinträchtigten Bevölkerung an. Dazu kommt, dass, als Folge der NS-Vernichtungspolitik, in Deutschland erst seit einigen Jahren größere Kohorten kognitiv beeinträchtigter Menschen ein Alter von 60 und mehr Jahren erreichen Und so hat erst jetzt eine nennenswerte Anzahl von Familien überhaupt die Chance, gemeinsam alt zu werden.
Noch fehlen flächendeckende adäquate Angebote zur Anbahnung und Gestaltung für den Übergang vom gemeinsamen Wohnen zu einer anderen Wohnform, und so kündigen sich vielerorts Krisen an. Endet das Zusammenleben jedoch aufgrund einer akuten Notfallsituation, ist kaum Spielraum für eigene Entscheidungen und passgenaue Lösungen vorhanden (vgl. Lindmeier et al. 2018, 34 f.). Aufgrund dieser Erfahrungen geraten ältere Familien problemorientiert in den Fokus einer Diskussion, die dazu neigt, die Verantwortung für die Situation den Eltern zuzuschreiben und ihnen vorzuwerfen, die „Ablösung [von ihren Kindern] verpasst“ (Lindmeier 2011, 11) zu haben. Derartige Auffassungen sind mit normativen Vorstellungen von Familienentwicklung verbunden, suggerieren ein Ende der Zugehörigkeit zur Familie und individualisieren die Verantwortung sowohl für das Zusammenleben als auch für den „Übergang“. Hans Weiß (2002) spricht in diesem Zusammenhang vom „Ablösepostulat“, das – analog zum Annahmepostulat (vgl. auch Weiß 1993) – mit dem Vorwurf an alte Eltern verbunden ist, die Behinderung ihres Kindes nicht angenommen zu haben (vgl. Oermann 2023, 72 ff.). Der deutsche Diskurs über ältere Familien spielt sich immer noch mehr oder weniger deutlich vor dem Hintergrund dieses Postulats ab: So schreiben Irina Hennies und Eugen J. Kuhn etwa von den „drei Phasen der Ablösung“ (2004, 142), Ute Fischer stellt eine „gelungene Ablösung“ einer „nicht gelungenen Ablösung“ gegenüber (2008, 1 f.).
Neben dieser defizitorientierten Lesart stehen Forschungsergebnisse, die belegen, wie erfolgreich viele ältere Familien darin sind, ihren erwachsenen Kindern Teilhabe zu ermöglichen und im Zusammenleben eine hohe Lebensqualität zu garantieren (vgl. Wicki 2020; Lindmeier et al. 2018, Feurer & Lindmeier 2011).
Die Diskrepanz dieser beiden Betrachtungen ist zu einem Beweggrund für die Studie „Lebensgeschichten alter Eltern erwachsener kognitiv beeinträchtigter Kinder“ (vgl. Oermann 2023) geworden. Ein weiterer Motor war die bislang wenig beachtete Binnensicht von Familien, weshalb hier, in einer Annäherung an diese, aus der Elternperspektive nach der biografischen Bedeutung des Zusammenlebens gefragt wurde.1 Ein Ergebnis der Untersuchung ist, dass das Zusammenleben immer auch Ausdruck einer Handlungsstrategie im Umgang mit Krisen ist. Dieser Artikel fasst einige wesentliche Punkte dazu zusammen und leitet daraus Empfehlungen ab, die neue Ansätze für die Arbeit mit älteren Familien ermöglichen.
1. Ein veränderter Zugang zu älteren Familien
Das Ablösepostulat prägt in vielerlei Hinsicht den wissenschaftlichen Diskurs und die Forschung. Handlungsempfehlungen, die aus Untersuchungen mit diesen – häufig impliziten – Grundannahmen abgeleitet werden, bleiben in ihrem Erkenntnisgewinn an diese problemorientierten Perspektiven gebunden und reproduzieren so diese Einstellungen.
Es ist insofern also wichtig, im Vorfeld der Studie die theoretischen Grundannahmen, besonders in Bezug auf den Familienbegriff und das Zusammenleben, offenzulegen. Folgende Aspekte sind in diesem Kontext von Bedeutung:
Das Zusammenleben wird nicht als rein individuelle Entscheidung, sondern als soziales Phänomen gewertet. Als solches vollzieht sich das Zusammenleben in einem gesellschaftlichen und einem individuellen Kontext (vgl. Meuth 2018). Die Verantwortung für die Lebenssituation und die Veränderungen kann damit nicht einfach den Eltern übertragen werden, weshalb auch das Suggerieren von Schuld nicht zulässig ist. Das Zusammenleben als ein Element der gelebten Wirklichkeit wird in einer sehr komplexen Kopplung individueller Erfahrungen und Handlungen in Wechselwirkung mit strukturellen Umständen erzeugt, was dazu führt, dass „nicht jede Erfahrung jedem Menschen offen(steht)“ (Alheit 1993, 350). Menschen haben demnach „nicht alle denkbaren Chancen“, ihnen bieten sich aber innerhalb dieser Grenzen „beträchtliche Möglichkeitsräume“ (ebd., 400 f.). Gleiches gilt auch für die Gestaltung von Zukunftsperspektiven.
Diesem Gedanken folgt die biografietheoretische Grundlegung der Erhebung sowie ihre forschungstheoretische Umsetzung:
Im Phänomen „Biographie“ [sind] schon auf der Ebene der Sozialwelt jene beiden Aspekte von Struktur und Handeln, Subjekt und Objektperspektive, Gesellschaft und Individuum integriert […] und [müssen] nicht erst durch nachträgliche Theoretisierung zusammengebracht werden. (Alheit 2010, 226)
Dementsprechend wurden die untersuchten Lebensgeschichten mithilfe narrativer Interviews erhoben und mit der Methode der biografischen Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal (vgl. 2014) ausgewertet.
Statt des statischen Familienbegriffs, der die Forschung über ältere Familien bislang geprägt hat, wird der Studie eine praxeologische Definition gemäß dem „Doing Family“-Ansatz (vgl. Jurczyk, Lange und Thiessen 2014) zugrunde gelegt.
Familie ist ein (multilokales) Netzwerk besonderer Art, das zentriert ist um Care, d. h. um verantwortliche, emotionsgeleitete persönliche Sorge zwischen Generationen und Geschlechtern, die – teilweise existenziell – aufeinander angewiesen sind. (…) So verstanden meint Familie als Herstellungsleistung hier die Herstellung fürsorglicher persönlicher Beziehungen, die sich weder auf verheiratete Eltern und ihre Kinder noch auf das Zusammenleben in einem Haushalt beschränken. (Jurczyk 2014, 50).
Diese Definition ist zudem von drei Annahmen gekennzeichnet, die für die Forschung über ältere Familien vielversprechend erscheinen:
Möglichkeit der Multilokalität (vgl. Wagner 2008)
Bisher ging man in den Arbeiten über ältere Familien stark von einem gemeinsamen Haushalt als Bedingung für die Zuschreibung als Familie aus. Dies hatte negative Folgen für die Sichtbarkeit von Familien und die Entwicklung und Etablierung entsprechender Angebote nach einem Auszug des beeinträchtigten Kindes.
Familie ist nach der oben stehenden Definition hingegen nicht mehr an einen gemeinsamen Haushalt gebunden, sondern vollzieht sich in den gelebten Beziehungen zueinander, unabhängig von der räumlichen Situation der Akteur*innen.
Familienbiografie statt Familienzyklus (vgl. Lange 2011)
Familien entwickeln sich in ihrem eigenen Tempo. Einflussfaktoren sind dabei auch normierte Übergänge wie etwa der Beginn der Schulzeit oder der Übergang der erwachsenen Kinder ins Arbeitsleben. Ausgehend davon wurde Familienentwicklung einige Zeit lang in normierte Zyklen unterteilt.
Mittlerweile hat man sich von der Vorstellung einer zyklischen Entwicklung distanziert und greift dafür auf den Begriff der Familienbiografie zurück. Diese Korrektur scheint für Familien mit beeinträchtigten Kindern nicht hinreichend berücksichtigt worden zu sein.
Familie als Herstellungsleistung (vgl. Jurczyk, Lange und Thiessen 2014)
Familie ist kein statisches Konstrukt, sondern eine aktive Herstellungsleistung, zu der die Gestaltung der Interaktionsbeziehungen (Konstruktion von Gemeinsamkeit), die Organisation des Alltags (Balancemanagement) und die Präsentation als Familie nach außen (Displaying Family) gehört.
Dieses praxeologische Verständnis von Familien unterscheidet sich von konservativen Familienbildern, die Familie an vergleichsweise stabile Kriterien binden (z. B. einen gemeinsamen Haushalt) und mit deren Wegfall (etwa bei einem Auszug des beeinträchtigten Kindes) ein Ende der Familie suggerieren.
Diese Annahme, die unter anderem die Entwicklung bedarfsgerechter Angebote für ältere Familien hemmt, wird vom Doing-Family-Ansatz abgelöst, der Handlungsmöglichkeiten erweitert, statt sie zu beschneiden.
Eine auf diesen Annahmen beruhende Betrachtung von Lebensgeschichten alter Eltern kognitiv beeinträchtigter Kinder ist also in der Lage, eine Forschungslücke zu schließen, indem sie
die biografische Bedeutung des Zusammenlebens aus der Perspektive der Elternteile erhebt,
Familie nicht als stabiles Konstrukt, sondern als aktive Herstellungsleistung definiert,
das Zusammenleben als individuell und gesellschaftlich kontextualisiertes Phänomen wertet und
diese Annahmen sowohl erkenntnistheoretisch als auch forschungsmethodisch umsetzt.
2. Lebensgeschichtliche Bedeutungen des Zusammenlebens
Die Ergebnisse der Erhebung sind zu umfangreich, um sie in diesem Artikel zusammenfassen zu können. Stattdessen wird hier in einer stark abstrahierten und verkürzten Form die Frage nach der lebensgeschichtlichen Bedeutung des Zusammenlebens beantwortet. Dabei sind die hier dargestellten Ergebnisse keinesfalls ein einfaches Abbild der transkribierten Antworten der Eltern auf die Frage nach der lebensgeschichtlichen Bedeutung des Zusammenlebens. Es handelt sich um aufwendige Rekonstruktionen ihrer biografischen Erfahrungen, in denen das komplexe dialektische Zusammenspiel gesellschaftlicher Strukturen und individueller Handlungen sowie ihrer Handlungsmöglichkeiten innerhalb dieser Strukturen abgebildet wird. Auf die Vielschichtigkeit der biografischen Rekonstruktionen und das besondere Verhältnis zwischen dem erkenntnistheoretischen Hintergrund und der Forschungsmethode wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen.2
Aus lebensgeschichtlicher Perspektive betrachtet ist das Zusammenleben für die einzelnen Elternteile von ganz unterschiedlicher Bedeutung. Übereinstimmend lässt es sich aber als eine Handlungsstrategie zur Bewältigung von erlebten Krisen beschreiben.
Exkurs: Zum Begriff der Krise
Der Begriff Krise ist hier nicht umgangssprachlich gemeint, sondern er beschreibt den Ort, „an dem Ereignisse und Strukturen aufeinandertreffen und für Bewegung sorgen“ (Hildenbrand 2011, 93). Etwas konkreter heißt das: Menschen geraten in eine Situation, in der sie ihre bewährten Handlungsstrategien als unwirksam erleben. Dies bewirkt Unruhe, Aufregung und Aktivität („Bewegung“). Das Ziel in dieser Situation ist es, das Gefühl von Kontrolle und Einfluss zurückerobern und sich wieder als wirksam erleben zu wollen. Eine Krise zeichnet sich aber dadurch aus, dass das vorhandene, biografisch entwickelte Repertoire an Handlungsstrategien, das zur Bewältigung der Situation aufgebracht wird, nicht zum Erfolg führt. Das Ausmaß der Krise bemisst sich daran, wie viele Lebensbereiche von diesem Ohnmachtserleben betroffen sind.3 Die Bewältigung einer Krise erfordert veränderte oder neue Orientierungen und Handlungsstrategien. Diese reichen von einer unbewussten Angleichung über die Anpassung einzelner Handlungsorientierungen und -strategien bis hin zur Annahme eines neuen Sinnsystems (vgl. Rosenthal 1987).
Im Folgenden werden die Zusammenhänge zwischen der Krise und dem Zusammenleben an zwei Fallbeispielen näher erläutert.4
2.1 Herr Wellmann5: Zusammenleben als Verweis auf einen geleisteten Schwur
Herr Wellmann (75) ist zum Zeitpunkt des Interviews seit wenigen Wochen Witwer, seine Frau ist nach langjähriger Krankheit verstorben. Er hat zwei Kinder: Sein Sohn ist Akademiker und lebt etwa anderthalb Autostunden weit entfernt in einer größeren Stadt. Seine Tochter Nadja (45) ist nach dem Tod der Mutter auf eigenen Wunsch und mit Unterstützung ihres Vaters in eine besondere Wohnform gezogen, die fußläufig zu ihrem Elternhaus, in dem ihr Vater noch lebt, gelegen ist. Herr Wellmann lebt in einem Einfamilienhaus in der Stadt.
Die Krise, die Herr Wellmann erlebt, wird 1965 ausgelöst durch die Diagnose „Downsyndrom“ bei seiner zu diesem Zeitpunkt drei Monate alten Tochter. Seine Handlungsorientierung ist bis zu dieser Phase am Ideal der akademisch gebildeten Mittelschicht der frühen 1960er-Jahre ausgerichtet. Dies drückt sich aus in einer ausgeprägten Erfolgsorientierung, einem gepflegten Äußeren und einem kultivierten Auftreten sowie der Präsentation einer „intakten Familie“ im Sinne eines konservativen Familienbildes, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Kindern, mit klassischer Rollenverteilung (vgl. Oermann 2023, 161 ff.).
Die Beeinträchtigung seiner Tochter stellt seinen bis dato geltenden Lebensentwurf und sein biografisch entwickeltes Handlungsschema infrage und die Erfolgskurve wird unterbrochen: Dies betrifft seine Pläne in Bezug auf die berufliche Karriere, die Familie, die Bildung der Kinder, die Entwicklung als Vater bzw. als Eltern, der Traum von der zukünftigen Generativität als Großvater etc., und es gelingt ihm zunächst nicht, Perspektiven für die aktuellen Herausforderungen zu entwickeln.
Väter erleben die Behinderung als Gefährdung ihres Selbstbilds, das sich vor allem an gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen orientiert. Die „Mängel“ des behinderten Kindes bedrohen ihre gesellschaftliche Anerkennung, sie haben Angst vor Diskriminierung. Häufig fällt es ihnen anfangs schwer, sich mit dem behinderten Kind in der Öffentlichkeit zu zeigen. (Seifert 2003, 47)6
Seine Strategie im Umgang mit dem krisenauslösenden Ereignis besteht zunächst darin, sich stark auf sein Berufsleben zurückzuziehen und seiner Frau die Entscheidungen und die Verantwortung für die Therapien und Fördermaßnahmen der Tochter – ganz im Sinne der klassischen Rollenverteilung – zu überlassen. Dieses Handlungsmuster erlaubt es ihm, die erlebte Bedrohung seines Lebensentwurfs zu verdrängen, sodass sich der Beginn einer biografischen Diskontinuität abzeichnet. Er hält weiter an seiner Handlungsorientierung fest, und er schafft es in den ersten Lebensjahren seiner Tochter nicht, sich öffentlich als Vater einer beeinträchtigten Tochter zu präsentieren: „Wenn Sie so wollen, habe ich das [den Rückzug in das Berufsleben] so als Entschuldigung genommen, dass ich mich in den ersten Jahren nicht so ein bisschen engagiert habe.“7
Seine fragile Bewältigungsstrategie wird auf die Probe gestellt, als seine Frau und er Anfang der 1970er-Jahre in eine Ehekrise geraten. Diese entwickelt sich in einer Phase mehrerer Umbrüche: Die Wellmanns erleben, wie sich zwei andere Elternpaare von Kindern mit Downsyndrom trennen. Herr Wellmann vermutet, dass die Beeinträchtigung ihres Kindes ursächlich für die Trennungen war: „In dem einen Fall war es die Mutter, die mit der Situation nicht fertigwurde, im anderen Fall war es der Mann. Der ganz einfach der weglief, sag ich mal.“ Die Familie ist, bedingt durch die Karriere von Herrn Wellmann, gerade ein drittes Mal umgezogen und Frau Wellmann hat, zeitgleich mit der Einschulung der Tochter, eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen. Damit setzt sie sich über das nach außen hin präsentierte Ideal ihres Mannes hinweg, das für sie die versorgende Rolle für Kinder und Haushalt vorsieht, während er für das Einkommen der Familie verantwortlich ist.
Ernsthaft besorgt um den Fortgang der eigenen Ehe geben sich Herr Wellmann und seine Frau gegenseitig ein Versprechen, das er als „Schwur“ bezeichnet und das ihm eine Veränderung seiner Handlungsorientierung ermöglicht:
Wir haben da so eine Trotzhaltung und haben uns geschworen, das darf uns nie passieren. Das war … ja, das war eigentlich das, was uns am stärksten bewegt hat, dieser Schwur, sage ich mal. Das hat auch die ganzen Jahre danach immer wieder geholfen.“
Diesem Versprechen, zusammenzubleiben, ordnet er fortan sein Handeln unter. Es gelingt ihm etwa mit dieser Orientierung auch, sich in der Öffentlichkeit als Vater einer beeinträchtigten Tochter zu präsentieren: Er habe eine „Trotzhaltung gegenüber der Öffentlichkeit“ an den Tag gelegt und sei „jeden Samstag mit ihr auf den Markt gegangen, um sie zu zeigen“.
Als seine Frau dann lebensverkürzend erkrankt und sie – entgegen vorheriger gemeinsamer Absichten – am Zusammenleben mit der beeinträchtigten Tochter festhalten möchte, folgt Herr Wellmann ihrem Wunsch. Er weiß, dass er mit einem Beharren auf dem Auszug den Schwur schon dadurch brechen würde, dass er ihn auf die Probe stellt:
… dann war meine Frau emotional so an die Nadja gebunden. Was ich auch von anderen Müttern dann gehört habe, das hat meine Frau dann auch schon mal gesagt: „Ich wünschte, Nadja ginge vor mir.“ Dann konnten wir dieses Thema Wohnheim eigentlich nicht mehr so ganz ausdiskutieren. Und ja, dann hab ich auch nicht mehr drauf gedrungen, dass Nadja nun ins Wohnheim kommt, muss ich auch gestehen. Vielleicht mit mehr Nachdruck oder so, weiterer Diskussion, wäre es doch gegangen, aber nein, für meine Frau war das dann eigentlich nicht mehr das Thema, sie sie wollte Nadja bei sich haben. War einfach so.
Das lange Zusammenleben kann folglich als eine Bewältigungsstrategie im Umgang mit einer Krise gewertet werden. Die Bedrohung, die von der Krise ausging, hing mit biografisch entwickelten Handlungsorientierungen zusammen, in denen ein Anderssein negativ bewertet wurde. Es ist Herrn Wellmann mithilfe seiner Bewältigungsstrategie gelungen, seine ursprüngliche Handlungsorientierung weiterzuentwickeln und damit seine biografische Kontinuität zu sichern (vgl. Oermann 2023, 292 f.).
2.2 Herr Köhne: Zusammenleben als Ausdruck des Durchhaltens
Herr Köhne (73) lebt zum Zeitpunkt des Interviews mit seinem jüngsten Kind Christian (46) zusammen in einem Einfamilienhaus in einer kleinen Ortschaft. Seine Ehefrau lebt zum Zeitpunkt des Interviews aufgrund der Folgen einer demenziellen Erkrankung seit knapp einem Jahr in einem Pflegeheim. Herr Köhnes erstgeborene Tochter wohnt etwa eine Autostunde weit entfernt. Das mittlere Kind der Eheleute Köhne verstarb einen Tag nach seiner Geburt.
Herr Köhne präsentiert sich durch das Zusammenleben mit seinem Sohn als ein Mann, der herausfordernde Umstände aushält. Dieses Aushalten hat sich biografisch als große Stärke im Umgang mit Krisen erwiesen und später als unreflektierte Handlungsorientierung etabliert.
Herr Köhne flüchtet im Januar 1945 im Alter von neun Jahren zusammen mit seiner Mutter, seiner Großmutter und seiner einjährigen Schwester aus Ostpreußen vor der sowjetischen Armee. Die Familie kommt schließlich in einem landwirtschaftlich geprägten Dorf im Westen Deutschlands an, einer Gegend, die mit 32 % „die höchsten Zuwandereranteile (Vertriebene und Flüchtlinge) im Verhältnis zur Wohnbevölkerung“ (Meier 1999, 67) aufweist. Unterbringung und Versorgung stellen zu dieser Zeit, in der die Mittel ohnehin knapp sind, große Herausforderungen dar, die die Solidarität der Gesellschaft strapazieren. Herr Köhne deutet dies, entsprechend seiner Handlungsorientierung, aber nur sehr zurückhaltend an:
… zu unserer Jugendzeit: wo Flüchtlinge waren, das wurde so ein bisschen abgeschoben. Das war so früher.
Diese Flucht- und Fremdheitserfahrungen am Ende des Zweiten Weltkriegs verkörpern für Herrn Köhne einen krisenauslösenden Prozess. In dieser Zeit entwickelt er eine Strategie des Durchhaltens, die davon geprägt ist, den Ausgang von Entwicklungen passiv abzuwarten, statt aktiv zu gestalten, sowie Herausforderungen beherrscht auszuhalten, statt Verbesserungen anzustreben. Seine Verhaltensmuster sind dabei von einer hohen Leistungs- und Anpassungsbereitschaft geprägt, Verhaltensweisen, die später auch als „ich-syntone Verhaltensweisen der sogenannten ‚Kriegskinder‘“ (Radebold 2008, 49) bezeichnet werden.
Es gelingt ihm, sich dank dieser Orientierung an die erlebten Veränderungen anzupassen, allerdings ist er sich seines eigenen Handelns in diesem Zusammenhang nicht bewusst. Zwar führt er seine beruflichen Erfolge, wie etwa die bestandene Lehre, durchaus auf seine Bereitschaft zurück, Härten zu ertragen (vgl. Oermann 2023, 189 f.), aber er erkennt dies nicht als die Bewältigung der eigentlichen Krise (die Identifikation als Fremder). Diese bleibt daher als Bedrohung diffus erhalten, wodurch auch seine Handlungsstrategien zum Bewältigen dieser Bedrohung dauerhaft aktiviert bleiben (ebd., 205 ff.).
Insofern kann das lange Zusammenleben einerseits als konkrete Folge seiner Handlungsorientierung des „Aushaltens“ verstanden werden: Es ist Teil seines Selbstverständnisses, auch schwierige Situationen klaglos zu ertragen. Genauso äußert er sich auch auf die Frage nach Zukunftsperspektiven:
Ja, aber so lange es noch so geht, werden wir es wohl durchhalten. Nützt ja alles nix.
Diese Blitzlichter auf die Beispiele von Herrn Wellmann und Herrn Köhne unterstreichen, dass das lange Zusammenleben als Familie mit beeinträchtigtem Kind keinesfalls Ausdruck einer verpassten Ablösung ist. Es verkörpert vielmehr eine individuell höchst unterschiedlich begründete und entwickelte, aktive Handlungsorientierung, die sich im Kontext der Bewältigung biografischer – und damit individuell und gesellschaftlich kontextualisierter! – Krisen entwickelt hat. In diesem Sinne ist das Zusammenleben lebensgeschichtlich bedeutsam. Diese Erkenntnis ist mit erheblichen Konsequenzen für die individuelle Bereitschaft und das situative Vermögen von Familien zur Übergangsgestaltung verbunden, die in bisherigen Ansätzen aber noch zu wenig beachtet wurden.8 Entsprechend gilt es, diese Erkenntnisse bei der Entwicklung von Empfehlungen stärker zu berücksichtigen.
3. Empfehlungen
Grundlage für die folgenden Empfehlungen ist, neben den oben beschriebenen Erkenntnissen, die Anerkennung des langen familiären Zusammenlebens als einer Möglichkeit des Wohnens, die gleichberechtigt neben anderen Optionen steht. Erst aus dieser Haltung heraus wird es für alle beteiligten Familienmitglieder möglich, Alternativen dazu abzuwägen und sich frei zu entscheiden, ohne dabei befürchten zu müssen, auf die Sichtbarkeit und Autorität als Familie verzichten zu müssen.
Die Empfehlungen verfolgen das Ziel,
die Sichtbarkeit älterer Familien zu erhöhen,
den Respekt gegenüber alten Eltern und ihren Lebensleistungen zu stärken und
die Chancen aller Familienmitglieder für eine selbstbestimmte Lebensplanung und -gestaltung zu verbessern.
Einfache und schematische Ansätze, die nur auf das Ziel des Auszugs fokussiert sind und ausschließlich das beeinträchtigte Familienmitglied adressieren, ignorieren die komplexen Hintergründe der jeweiligen Lebenssituation. Die hier formulierten Empfehlungen nehmen die Familie in den Blick, setzen an den Haltungen der Mitarbeiter*innen der Eingliederungshilfe an und verweisen auf strukturelle gesellschaftliche Veränderungen zur Verwirklichung von Inklusion.
Eltern als Subjekte mit eigener Biografie wahrnehmen
Das gemeinsame Schicksal, ein behindertes Kind zu haben, macht uns noch lange nicht zu einer homogenen Gruppe; im Gegenteil, Familien mit behinderten Kindern repräsentieren die gesamte Gesellschaft mit ihren Strömungen und Problemen. (Müller-Zurek 2002, 30)
Dieses Zitat bringt die Ergebnisse der Studie auf den Punkt. Es gibt wichtige Hinweise auf die Bedeutung personbezogener Angebote, die nicht allein von der Gemeinsamkeit der langen Sorgearbeit als Elternteil eines beeinträchtigten Kindes ausgehen, sondern – basierend auf Erwachsenenbildung, Altenbildung und auch Altenhilfe – dies nur als eine, wenn auch durchaus bedeutungsvolle Facette unter vielen verstehen. Die eines Tages unumgängliche Gestaltung eines familiären Übergangs erfordert nicht nur von den erwachsenen beeinträchtigten Kindern ein hohes Maß an Entwicklung, um sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Auch die Eltern bzw. Elternteile sind gefordert, die veränderte Wirklichkeit zu bewältigen. Hier sind Angebote denkbar, die sie nicht nur in dieser Rolle ansprechen, sondern die gerade bei der Unterstützung von Bewältigungsstrategien an ihren biografischen Erfahrungen anschließen und Gestaltungsräume aufzeigen, statt auf ihr hohes Alter und das Ende ihrer elterlichen Verpflichtungen zu verweisen.
Erwachsenenstatus beeinträchtigter Kinder stärken
Ein weiterer Faktor zur Erhöhung der Sichtbarkeit älterer Familien, ihrer Lebensleistungen und selbstbestimmten Zukunftsplanung ist die Stärkung der beeinträchtigten Kinder in ihrem Erwachsenenstatus.
Die Interviews illustrieren, wie schwer es befragten Eltern mitunter fällt, ihre Kinder als erwachsene Menschen anzuerkennen (vgl. Oermann 2023, 296 ff.). Dies ist jedoch – wie auch das Zusammenleben – in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu reflektieren: Erwachsene kognitiv beeinträchtigte Menschen sind in Deutschland gesellschaftlich kaum sichtbar. Die überwiegende Mehrheit arbeitet in sogenannten Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), einem Leistungsanbieter der Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Arbeitsleben, dessen Aufgabe es unter anderem ist, auf den Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten (vgl. § 219 SGB IX). Die Übergangsquote liegt derzeit bei unter 1 % (vgl. Behrend 2021) und daher scheinen sie eher den Status als „behinderter Mensch“ denn als teilhabeberechtigter Erwachsener zu zementieren. Hinzu kommt das geringe Einkommen, das beeinträchtigte Menschen hier erwerben: Sie gelten als voll „erwerbsgemindert“ und haben als beschäftigte Mitarbeiter*innen in WfbM einen arbeitnehmerähnlichen Status, daher also keinen Anspruch auf den gesetzlich verankerten Mindestlohn.9
Es sind also vor allem Strukturen wie diese, die den Erwachsenenstatus kognitiv beeinträchtigter Menschen beschneiden:
Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungsleistungen (etwa der Grundsicherung) ohne Chance auf Vermögensbildung
stark institutionalisiertes System der Eingliederungshilfe mit noch zu wenig ausgebauten und etablierten Alternativen
Diese werden aber nur selten diskutiert, weil kognitiv beeinträchtigte Menschen aufgrund der gesellschaftlichen Ausgrenzung geradezu im Verborgenen bleiben. Einerseits wird damit die Rolle von Eltern als engagierte „Lobbyisten für ihre Kinder“ (Eckert 2007, 59) weiter befeuert. Andererseits wird Eltern damit geradezu ans Herz gelegt, ihren im familiären und nachbarschaftlichen Umfeld etablierten Status als Erwachsene zu sichern. Und dies scheint unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen nur möglich, indem sie sich mit der Perspektive arrangieren, lange als Familie zusammenzuhalten, und so die privat etablierten inklusiven Strukturen in Familie, Nachbarschaft, Freundeskreisen und örtlicher Gemeinschaft aufrechterhalten.
Schaffen inklusiver Lebensbedingungen
Wie schon erwähnt, scheinen kognitiv beeinträchtigte Menschen heute noch in den Sonderwelten der Eingliederungshilfe zu verschwinden. Spezialisierte Angebote erfüllen ihre Versprechen auf Inklusion kaum. Dies ist jedoch nicht ausschließlich den einzelnen Dienstleistern anzulasten, sondern zuvorderst den wenig inklusiven gesellschaftlichen Strukturen.
Die Interviews unterstreichen aber eindrücklich, was auch andere Untersuchungen schon gezeigt haben: „Personen, die bis ins höhere Erwachsenenalter bei ihren Eltern leben, [haben] größere soziale Netzwerke als Personen, die schon früh in eine Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen gezogen sind.“ (Wicki 2020, 398)
Der gesellschaftliche Raum muss sich folglich für inklusive Strukturen öffnen, dieses Ziel also im Sinne eines Mainstreamings in jeder Quartiersentwicklung mitdenken. Dies gilt auch, aber nicht nur für Anbieter der Eingliederungshilfe, die „einen klaren Auftrag sowie zeitliche Ressourcen für den Ausbau / das Aufrechterhalten der sozialen Netzwerke“ (ebd.) brauchen. Dies muss mit den Leistungsträgern verhandelt werden. Hierbei ist eine Vernetzung mit anderen Akteur*innen im Sozialraum unumgänglich, um dies nicht wieder zu einer ausschließlichen und damit ausgrenzenden Aufgabe der Eingliederungshilfe zu machen.
Im Hinblick auf die soziale Teilhabe ihrer erwachsenen Kinder erscheinen die Zukunftssorgen der Eltern unter diesen strukturellen Bedingungen durchaus nachvollziehbar.
Wohnangebote stärker individualisiert und familienorientiert ausrichten
Nicht nur die Quartiersentwicklung, auch die Wohnangebote selbst müssen sich anders ausrichten. Erforderlich ist eine stärkere Orientierung an der Person und ihrer Biografie. Es gilt, diese personzentriert fortzusetzen und Menschen bei der individuellen Aneignung eines neuen oder veränderten Sozialraums zu unterstützen, statt sie ausschließlich mit den etablierten (Sonder-)Angeboten vor Ort bekannt zu machen oder ihre Kontakte auf die Wohngruppe zu reduzieren.10
Außerdem sind Anbieter aus dem Bereich Wohnen dringend dazu aufgefordert, sich familienorientierter aufzustellen und neben der personzentrierten Begleitung des Übergangs auch die Fortsetzung bzw. Weiterentwicklung des familiären Gefüges im Blick zu behalten. Hier geht es darum, Familien bei der Entwicklung veränderter, angepasster und gegebenenfalls neuer Strategien zur Herstellung von Familie zu entwickeln. Dies ist in institutionalisierten Wohnangeboten, in denen der Raum für familiäre Intimsphäre knapp ist, nicht einfach herzustellen: Natürlich sind theoretisch auch Treffen im Haus der Herkunftsfamilie möglich, aber im Sinne der Weiterentwicklung des familiären Selbstverständnisses ist es von großer Bedeutung, auch andere Orte zum „Familie-Sein“ zu nutzen. Dazu gehört dann eben auch das neue Zuhause des beeinträchtigten Kindes. Allerdings sind hier die Bedingungen von einer erheblichen Störanfälligkeit durch andere Bewohner*innen geprägt, von organisatorischen Abläufen, die nicht einfach geändert werden können, und, wie schon angedeutet, auch von verhältnismäßig kleinen Zimmern, die in Summe oft wenig bis keine Gelegenheit zum ungestörten Verwirklichen familialer Herstellungsleistungen bieten. Anbieter sollten Strategien entwickeln, wie sie Familien mehr sichere Räume für Privatsphäre anbieten können. Dabei müssen in den Teams und Leitungen Haltungen etabliert werden, die offen für einen modernen Familienbegriff sind und nicht länger an normativen Ansätzen zur Gestaltung des Übergangs festhalten. Das „primäre Netzwerk ‚Familie‘ [sollte] wieder stärker in seiner Funktion als soziale Ressource, die sich nicht nur hemmend, sondern auch förderlich auf eine eigenständige Entwicklung von Erwachsenen mit Behinderung auswirken kann“, anerkannt und wertgeschätzt werden (Faßbender & Iskenius-Emmler 2012, 345).
Zukunft als gestaltbar erlebbar machen
Spätestens mit dem Übergang in den Arbeitsbereich der WfbM setzt für viele Familien mit beeinträchtigten Kindern eine Phase relativer Ruhe ein (vgl. Lindmeier et al. 2018, 11), in der die nächsten Übergänge und die damit verbundenen Herausforderungen noch in weiter Ferne liegen. Der eigene Wechsel in den Ruhestand wird dabei von den Eltern eher als Gewinn gewertet, der das familiäre Balancemanagement erleichtert und der ihnen erstmalig seit der Geburt ihrer Kinder regelmäßige und große Räume zur selbstbestimmten Zeitgestaltung einräumt.
Gleichzeitig schwinden mit diesem Übergang auch die Hoffnungen auf weitere Entwicklungsschritte: Waren diese häufig noch eng an den Schulbesuch und später möglicherweise auch noch an den Übergang in den Berufsbildungsbereich (früher: Arbeitstrainingsbereich) gekoppelt, suggeriert der Werkstattbereich – trotz aller Hilfeplanung bzw. Bedarfsermittlung – eine gewisse Stabilität und ein Erhalten und Nutzen der bislang erworbenen Fähigkeiten. Auch die geringen Chancen auf den Wechsel in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis unterstreichen dies. Die Zukunft wird in dieser Lebensphase immer weniger als gestaltbar erlebt, und die Impulse, sie beeinflussen zu wollen, nehmen ab. Stattdessen überwiegt – zumindest auf elterlicher Seite – das Genießen einer ausgeglichenen familiären Balance.
Ohne entsprechende Angebote gibt es kaum Anlass für die Familienmitglieder, das Thema „Zukunft“ in den Blick zu nehmen, und so landet die Verantwortung dafür wieder bei den Eltern, die nicht nur den oben beschriebenen schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen für eine Veränderung ausgesetzt sind, sondern auch mit der Belastung konfrontiert sind, mit der Zukunft „über sich hinaus“ zu denken: Sie stehen unter dem Druck, möglichst eine Versorgungssituation zu schaffen, die so gut ist, dass sie über den eigenen Tod hinaus Bestand haben kann und dazu eine hohe Lebensqualität des Sohnes oder der Tochter garantiert.
Benötigt werden also Angebote für Familien, die die selbstbestimmte und ergebnisoffene Gestaltbarkeit von Zukunft in den Mittelpunkt stellen. Die Schaffung der sogenannten Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen (EUTB) durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) 2017 ist dabei ein ganz wichtiger Schritt. Diese sind nicht nur für die konkrete Antragsberatung zuständig, sondern können auch längere Prozesse der Entscheidungsfindung begleiten, als unabhängige Beratungsstelle unterschiedliche Möglichkeiten des Wohnens aufzeigen und zu personzentrierten Lösungen beraten.
Ein weiteres Beispiel für eine niedrigschwellige, familienzentrierte und selbstbestimmte Annäherung an Zukunftsperspektiven ist das Projekt „Mein Leben: Biografiearbeit mit einem Lebensbuch“ (vgl. Lindmeier et al. 2018). Es wendet sich mithilfe von WfbM gezielt an ältere Familien und hat in erster Linie die Würdigung der Lebensleistung und die Sicherung des Status quo im Blick. Der biografische Fokus führt den Erwachsenenstatus der beeinträchtigten Menschen vor Augen. Zudem führt eine lebensgeschichtliche Herangehensweise intuitiv zu einer Annäherung an die Zukunft.
Das lange Zusammenleben mit den Eltern wird vermutlich auch weiterhin ein von Familien mit beeinträchtigten Kindern bevorzugtes Lebensmodell bleiben. Die Empfehlungen sollen dazu beitragen, dass sich dieses Lebensmodell nicht mehr, wie aktuell noch, dem Vorwurf der Rückständigkeit, Überbehütung und Fremdbestimmung ausgesetzt sieht. Ein differenzierter Blick auf die Lebensgeschichten der Angehörigen zeigt, dass das Zusammenleben ein Ergebnis einer individuellen, aktiven und herausfordernden Auseinandersetzung mit äußeren Strukturen ist und sich nicht mithilfe einfacher Zuschreibungen erklären lässt. Ansätze zur Unterstützung von Familien „im Übergang“ müssen diesen anspruchsvollen Wirklichkeiten gerecht werden, damit Familien rückblickend ein Fazit ziehen können, das sich so positiv liest wie das von Herrn Wellmann: „Im Grunde genommen, ja, ist es in unserer Familie sehr gut gelaufen.“
Literatur:
Alheit, P. (1993): Transitorische Bildungsprozesse: Das „biographische Paradigma“ in der Weiterbildung. In: Mader, W. (Hrsg.): Weiterbildung und Gesellschaft. Grundlagen wissenschaftlicher und beruflicher Praxis in der Bundesrepublik Deutschland. Universität Bremen, 343–417.
Alheit, P. (2010): Identität oder „Biographizität“? Beiträge der neueren sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu einem Konzept der Identitätsentwicklung. In: Griese, B. (Hrsg.): Subjekt – Identität –Person? Reflexionen zur Biographieforschung. Wiesbaden: VS, 219–249.
Behrend, S. (2021): Die Schattenseite der Inklusionspreisträger. Online verfügbar unter: https://dieneuenorm.de/arbeit/inklusionspreistraeger-werkstaetten-behinderung/ (zuletzt aufgerufen am 20.05.2021).
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2023): Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Online unter: https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Forschungsberichte/fb626-entgeltsystem-wfbm.html (zuletzt aufgerufen am 21.02.2024).
Burtscher, R., Heyberger, D. & Schmidt, T. (2015): Die „unerhörten“ Eltern. Marburg: Lebenshilfe Verlag.
Eckert, A. (2007): Auszug ohne Abschied – Zur Bedeutung von Ablösungsprozessen im „Zusammenleben mit“ und dem „Sich-Trennen“ von Heranwachsenden mit einer Behinderung. In: Behinderte Menschen 1, 54 –64.
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Details:
Die Studie untersucht aus der Elternperspektive die lebensgeschichtliche Bedeutung des Zusammenlebens mit einem erwachsenen beeinträchtigten Kind. Ziel ist es, mehr Verständnis für die familiären Lebenswirklichkeiten zu entwickeln, sie bedarfsgerecht bei der Entwicklung von Zukunftsperspektiven zu unterstützen und so zu einer veränderten Haltung gegenüber sogenannten „älteren Familien“ beizutragen.
Fußzeilen:
1 Die Arbeit nimmt ausdrücklich nicht für sich in Anspruch, eine familiäre Binnensicht abzubilden.
2 Für einen ausführlichen Einblick in die Interviews und die erkenntnistheoretischen wie forschungsmethodischen Hintergründe siehe: Oermann 2023.
3 Während der Begriff Krise im normalen Sprachgebrauch als etwas Negatives, Belastendes und Bedrohliches wahrgenommen wird, ist er innerhalb der Biografieforschung nicht zwingend so konnotiert, sondern beinhaltet grundsätzlich auch die Möglichkeit einer überraschend positiven Entwicklung, die neues Handeln im Sinne von Hildenbrand (2011) erfordert (vgl. hierzu auch Schütze 1983, 90 ff.).
4 Ein weiteres Fallbeispiel ist in gekürzter Form nachzulesen bei Oermann & Lindmeier 2023.
5 Alle Namen geändert.
6 Dieses Zitat ist aus dem Jahr 2003, also mehr als 20 Jahre alt. Es ist zu hoffen, dass die Situation für Eltern bzw. für Väter heute eine andere ist. Sie beschreibt aber sehr treffend die Situation von Herrn Wellmann im Jahr 1965 (vgl. Oermann 2023, 163 ff.).
7 Alle Zitate aus den Transkripten wurden zur besseren Lesbarkeit geglättet.
8 Vielversprechende Ausnahmen sind nachzulesen bei Feurer & Lindmeier sowie bei Lindmeier et al. (2018).
9 Der Durchschnittslohn lag 2020 bei 226 € (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2023, 54). Näheres zur Entgelt- und Einkommenssituation beeinträchtigter Mitarbeiter*innen in WfbM unter: https://www.bagwfbm.de/page/entgelte_und_einkommen
10 Personzentrierung heißt, vom Subjekt auszugehen, nach Wünschen und Vorlieben im Bereich der Freizeit im Sozialraum zu fragen und bei der Verwirklichung zu unterstützen. Wenn spezifische Angebote für kognitiv beeinträchtigte Menschen gewünscht sind oder wenn es der Kontakt in der Wohngruppe ist, der gesucht wird, dann dokumentiert sich auch darin personzentriertes Arbeiten. Voraussetzung ist aber eine ergebnisoffene Herangehensweise.
Autorin:
Lisa Oermann, Dr. phil., Jahrgang 1980, ist selbstständige Referentin im Themenbereich der Eingliederungshilfe. Nach ihrem Studium der Erwachsenenbildung arbeitete sie in Forschungs- und Praxisprojekten u. a. zu den Themen „Biografiearbeit mit älteren Familien“, „Alter(n) und kognitive Beeinträchtigung“ sowie „Teilhabe am Arbeitsleben“. Bis 2022 war sie Beraterin in einer EUTB.
post@lisa-oermann.de
www.lisa-oermann.de