Skulptur eines Dinosauriers aus verschiedenen Materialien wie Kabel und Plastik in Schwarz, Weiß, Rot und Gelb. Die dynamische Haltung des Dinosauriers suggeriert Bewegung. Der neutrale Hintergrund betont die Details der komplexen Struktur.

Julia Krause-Harder, Struthiosaurus, 75 × 65 × 185 cm, verschiedene Materialien, 2014 s. S. 79

Foto: © courtesy Atelier Goldstein, Foto: Uwe Dettmarcourtesy Atelier Goldstein, Foto: Uwe DettmarFoto: Axel Schneider
aus Heft 1/2024 – Fachthema
Martin Schenk

Ein Sturm, viele Boote

Es sei wie ein „Hamsterrad im Kopf“, sagt Maria aus Wien, die mit ihren drei Kindern über zwei Jahre am Limit leben musste. Den ganzen Tag quälten sie die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, Heizkosten, Lebensmittel. Jetzt nur keinen Schulausflug, der was kostet! Und nichts, was kaputt wird! Und ja nicht krank werden! Und bitte nicht noch ein Problem im Betrieb! „Ich lebte von einem Tag zum anderen“, erzählt Maria. „Ich war ziemlich allein mit all den Gedanken, Sorgen und Befürchtungen.“ Armut setzt sich stets ins Verhältnis, egal wo. Sie zeigt sich in reichen Ländern anders als in Kalkutta. Menschen, die in Österreich von 700 Euro im Monat leben müssen, hilft das Wissen wenig, dass sie mit diesem Geld in Kalkutta gut auskommen würden. Die Miete ist schließlich hier zu zahlen, die Heizkosten sind hier zu begleichen und die Kinder gehen hier zur Schule.

353 000 Kinder und Jugendliche müssen in Österreich in Haushalten unter der Einkommensarmutsgrenze leben und sind somit von Ausgrenzung bedroht. Fast die Hälfte (47 %) von in Ein-Eltern-Haushalten lebenden Kindern und fast ein Drittel aller Kinder (30 %) in Familien mit mindestens drei Kindern ist armuts- oder ausgrenzungsgefährdet (vgl. Statistik Austria 2022). Neben einem geringen Einkommen im Haushalt, in dem die Kinder leben, treten oft schwierigste Lebensbedingungen auf wie: die Wohnung nicht warmhalten können, keine unerwarteten Ausgaben tätigen können, z. B. eine kaputte Waschmaschine oder einen Boiler zu ersetzen. Außerdem treten vermehrt Einsamkeit und gesundheitliche Probleme auf, auch schimmlige Wände sind keine Ausnahme. 213 000 Kinder leben in überbelegten Wohnungen. 206 000 Kinder müssen in feuchten oder schimmligen Räumen wohnen. Ihre Eltern sind erwerbslos, alleinerziehend, psychisch bzw. physisch beeinträchtigt oder haben Jobs, von denen sie nicht leben können. Nur die Hälfte der Kinder in Niedrigeinkommenshaushalten kann einmal pro Jahr auf Urlaub fahren. Die Gefahr des sozialen Ausschlusses zeigt sich auch in den verringerten Möglichkeiten, Freunde einzuladen, Feste zu feiern und an kostenpflichtigen Schulaktivitäten teilzunehmen. Diese sozialen Teilhabemöglichkeiten sind erst ab einem mittleren Einkommen für fast alle Kinder leistbar. Wir alle wünschen uns ausreichend Handlungsspielräume – damit wir aus unterschiedlichen Möglichkeiten selbstbestimmt wählen können. Nur wenn es diese Spielräume gibt, können wir uns die Freiheit nehmen zu verzichten. Armut ist keine Frage des Verzichts. Armut ist Hungern, nicht Fasten. Armut bewirkt eine Einengung bis hin zur dramatischen Situation, wo es keinen Handlungsspielraum mehr gibt, wo man aussichtslos in der Not gefangen ist. Maria weiß, wie sich das anfühlt: „Ich hab’ mich voll geniert, wir haben uns total zurückgezogen.“ Armut macht einsam. Maria und ihre Kinder verschwanden in dieser „beengten Welt“, sie rangen um den Gestaltungsraum, den sie zum Überleben brauchen. Jetzt geht es ihr und ihren drei Kindern wieder besser. Rückblickend sagt sie: „Am schlimmsten ist, dass einem die Kraft ausgeht. Hilfreich waren damals all jene, die uns stärkten.“

Der Begriff „Armut“ ist für Kinder schwer fassbar, sie verwenden meist die Wendungen „arm dran“ und „arm drauf“ (vgl. Kromer & Horvat 2014). „Arm dran“ meint Armut auf der materiellen Ebene, auf der Ebene des Habens und Besitzens. „Arm drauf“ meint Armut auf der Ebene des Seins und des Gefühls. Kinder unterscheiden also zwischen der Lebenslage des Mangels und einem negativen Lebensgefühl. Und: Lebenslage und Lebensgefühl hängen für Kinder zusammen. Beides wird zu einer Einheit zusammengefügt, wie es beispielsweise in der Kinderaussage „Armut ist kein Geld und keine Familie“ zum Ausdruck kommt. Entsprechend heißt Armut für Kinder: „mutterseelenallein sein“, „ausgeliefert sein“, „anders sein“ und „verletzbar sein“. Fragt man Kinder, ob sie arme Kinder kennen, so zeigen ihre Antworten: Arm sind die anderen. Kinder sehen Armut weit weg von sich selbst. Kinder wollen nicht arm sein.

„Die Welt dreht sich halt weiter und ich komme irgendwie nicht nach.“ (Zit. in Dawid, 9) Das sagt ein junges Mädchen, das in einer Familie mit wenig Geld lebt. Eine Studie der Armutskonferenz (vgl. Dawid 2023, 2021) hat jetzt ihre Stimme und die Stimmen vieler anderer hörbar gemacht. Armutsbetroffene und Armutsgefährdete, Leiharbeiter:innen und Ich-AGs, prekäre Künstler:innen, Leute, die Sozialhilfe und Notstandshilfe beziehen, Alleinerziehende und sozial benachteiligte Jugendliche sprachen über ihr Leben in der Krise. Bei prekär Beschäftigten, den sogenannten „working poor“, zeigte sich ein besonders deutliches Muster: Die finanziellen Probleme wirken sich auch auf andere in der Familie aus und bringen diese, wie bei einer Kettenreaktion, ebenfalls in existenzielle Schwierigkeiten. „Ich habe den Haushalt angeschaut und gedacht: Schaffe ich nicht. Ich habe alles angeschaut. Ich sollte das machen – schaff ich nicht. Ich sollte dies machen – schaff ich auch nicht. Und dann noch Schlafstörungen dazu“, erzählt eine Mutter mit prekären Jobs (zit. in Dawid, 56). Ein Fünfzehnjähriger bot sogar an, sein Sparschwein zu opfern. Die Jugendlichen leiden unter den finanziellen Problemen ihrer Eltern psychisch mit und kämpfen mit Gefühlen der Ohnmacht. Diese Erhebung „von unten“ zeigt uns, wie wichtig ein existenzsicherndes und gutes Arbeitslosengeld ist, wie massiv sich beengtes Wohnen auf Bildung und Gesundheit der Kinder auswirkt, welche zerstörerische Folgen eine schlechte Sozialhilfe hat, wie stark Depressionen und Einsamkeit mit Existenzangst verbunden sind.

Armut und Gesundheit

Die Risiken beginnen mit der Geburt: Armutsgefährdete Kinder werden schon kleiner geboren. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gilt ein Geburtsgewicht von weniger als zweieinhalb Kilo als zu niedrig. Das niedrige Gewicht des Neugeborenen kann, aufgrund des Zusammenhangs zwischen dem Geburtsgewicht und dem sozioökonomischen Status der Eltern, ein Hinweis auf den gesellschaftlichen Status des Kindes im weiteren Verlauf des Lebens sein (vgl. Six 2019). Das hat auch mit dem Stress, dem die Mütter während der Schwangerschaft ausgeliefert sind, zu tun. Man denkt immer gleich an Drogen und Rauchen, nein – Distress in der Schwangerschaft ist einer der Hauptgründe dafür. Sozialer und emotionaler Stress gehören zu den wichtigsten Faktoren bei der Erklärung von niedrigem Geburtsgewicht. Schlechter und chronischer Stress schädigt besonders das Herz-Kreislauf-System, die Immunabwehr und die psychische Stabilität. In der Debatte und in den Erklärungen gesundheitlicher Ungleichheit werden die psychosozialen und sozial-strukturellen Faktoren oft vernachlässigt.

Die sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten, die in der Kindheit auftreten, sind eine guter Indikator für die Morbidität im Erwachsenenalter. Die soziale Benachteiligung im Kindesalter wirkt sich auf das gesamte Leben gesundheitsschädigend aus. Diese Kinder sind auch als Erwachsene deutlich kränker als der Rest der Bevölkerung. Arme Kinder von heute sind die chronisch Kranken von morgen.

So werden Kinder auch in die Schule geschickt, wenn sie krank sind. Alleinerzieher:innen fürchten den Arbeitsplatzverlust bei häufigem Fehlen bzw. wiederholtem Bitten um Pflegeurlaub. „Obwohl rezeptgebührenbefreite Arbeiter deutlich höhere Arztbesuchshäufigkeiten aufwiesen als ihre rezeptpflichtigen Kollegen, sind sowohl die durchschnittliche Krankenstandsdauer als auch die Anzahl der Krankenstände fast identisch. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes scheint also höher zu sein als die Angst um die Gesundheit.“ (Habl 2009, 180)

Familien im unteren Einkommenssegment gehen erst bei extremer Not zu Ärzt:innen. Diese müssen die Krankheit möglichst rasch beseitigen, damit der Körper wieder funktioniert. Der Körper wird zur Arbeitsmaschine zur Bewältigung des stressbelasteten und prekären Alltags.

Personen in Haushalten mit niedrigem Einkommen verzichten häufiger auf eine zahn- oder sonstige medizinische Behandlung als Personen in Haushalten mit mittlerem und hohem Einkommen, auch wenn sie diese unbedingt benötigen. 12 % der Erwachsenen mit niedrigem Einkommen, die eine zahnärztliche Behandlung benötigt hätten, haben sie nicht beansprucht. In mehr als drei von vier Fällen werden dafür finanzielle Gründe ins Treffen geführt (vgl. Lamei et al. 2019).

Der gleiche Schmerz – in den gleichen Körperteilen – wurde von Personen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status als zwei- bis dreimal stärker empfunden als von Personen mit dem höchsten Status (vgl. Dorner et. al. 2011). Diese Erkenntnisse sind im Verständnis und in der Behandlung von Kindern, die in Armut leben, mehr als relevant.

Betrachtet man nicht nur die Armut, also die Kinder im untersten Segment, sondern die gesamte Gesellschaft, so zeigt sich eine Verschlechterung der gesundheitlichen Lebensbedingungen bei steigender sozialer Ungleichheit. Die Lebenserwartung und die Aufstiegschancen für Kinder sinken, während die Kindersterblichkeit und die Teenager Birth Rate zunehmen (vgl. Wilkinson & Pickett 2009). Ihre Chance, aus der Armut herauszukommen, steht in enger Wechselbeziehung zu gesellschaftlicher Ungleichheit insgesamt. Je sozial gespaltener eine Gesellschaft ist, desto mehr Dauerarmut existiert. Je mehr Dauerarmut existiert, desto stärker beeinträchtigt sind die Zukunftschancen sozial benachteiligter Kinder. Je früher, je schutzloser und je länger Kinder der Armutssituation ausgesetzt sind, desto stärker sind die Auswirkungen.

Maria hat drei Kinder, eines ist krank und braucht eine spezielle Therapie. Das gehe sich dann nicht aus, sagt sie. Kleinigkeiten? Nein, das sind wichtige Faktoren für die Entwicklung von Kindern: Gesundheit, Anerkennung, Förderung – keine Beschämung und keine Existenzangst. Die Streichungen bei der Wohnbeihilfe in England führten zu einem 10-prozentigen Anstieg von psychischen Problemen bei Personen aus Niedrigeinkommenshaushalten, wie Studien der Universität Oxford (vgl. Reeves et al. 2016) zeigen. Auffallend stark treten die psychosozialen Auswirkungen hervor. Armut kränkt die Seele. Menschen mit geringem sozioökonomischen Status weisen signifikant mehr Krankenhausaufenthalte aufgrund affektiver Störungen wie Depressionen auf. Bei arbeitslosen Personen beträgt das Risiko noch ein Vielfaches. Ähnliche Unterschiede lassen sich auch für Belastungsstörungen beobachten (vgl. Stadt Wien 2020).

Die Ergebnisse in Bezug auf den Einfluss von Armut und sozialem Status auf die Gesundheit in Österreich entsprechen den Forschungsergebnissen, die international vorliegen. Das Bild ist überall das gleiche: Mit sinkendem sozialen Status nehmen die Krankheiten zu, die untersten sozialen Schichten weisen die schwersten Krankheiten und gleichzeitig die geringste Lebenserwartung auf. Es lässt sich eine soziale Stufenleiter nachweisen, ein sozialer Gradient, der mit jeder vorrückenden Einkommensstufe die Gesundheit und das Sterbedatum anhebt.

Wir sitzen alle im selben Sturm, aber die Boote sind sehr unterschiedlich

Die Wohnkosten steigen seit Jahren massiv an, besonders in den größeren Städten. Je geringer die Haushaltseinkommen, desto höher der Anteil von Wohn-, Energie- und Lebensmittelkosten am Haushaltsbudget. Genau diese drei Posten sind von der Inflation aber am stärksten betroffen. „Wir sitzen alle im selben Boot“, heißt es jetzt angesichts der Teuerung. Nein. Wir sitzen alle im selben Sturm, aber die Boote sind sehr unterschiedlich: Da gibt es robuste Schiffe, kleine Nussschalen, starke Yachten, schmale Ruderboote. Die Mindestsicherung wurde abgeschafft, die schlechte Sozialhilfe in Österreich eingeführt. Frauen, Männer und Kinder haben zu wenig zum Wohnen, zu wenig zum Leben. Um ihre Miete zu zahlen, müssen die Betroffenen das für den Lebensunterhalt Notwendigste aufbrauchen. Hungern für die Miete. Die Teuerung zeigt uns jetzt, wie wichtig eine gute Mindestsicherung für die Gesundheit wäre statt einer schlechten Sozialhilfe, die Menschen in Existenznöten und Notsituationen nicht trägt.  Dies zeigen die Daten der Statistik Austria (2020) über Lebensbedingungen von Frauen, Männern und Kindern in der untersten Stufe des sozialen Netzes. Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen der Lebenssituation und gesundheitlichen Einschränkungen, chronischer Krankheit und Behinderung. Die Wohnsituation ist dabei ein entscheidender Faktor. Der Alltag am „Limit“ hat aber vor allem auf die Gesundheit, Chancen und Teilhabe von Kindern massiv negative Auswirkungen. Und viele Familien mit Kindern sind trotz Erwerbsarbeit arm. Alle Daten stammen aus der Zeit knapp vor den Kürzungen und Einschnitten der neuen „Sozialhilfe“. Eine große Gruppe ist gesundheitlich angeschlagen und verletzlich. 23 % der Mindestsicherungs-Bezieher:innen weisen einen sehr schlechten Gesundheitszustand auf, 22 % sind durch eine Behinderung stark beeinträchtigt und 55 % sind chronisch krank (vgl. Statistik Austria 2020). Desolates Wohnen wirkt sich besonders hemmend auf die Bildungschancen und die Gesundheit der Kinder aus: 20 % der Kinder müssen in feuchten Wohnungen leben, 56 % der Wohnungen sind überbelegt, in 25 % gibt es Lärmbelästigung. Diese Zahlen sagen einiges. Sie machen die schwierige Lage für die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung deutlich. Und sie leuchten die Richtung aus, in die notwendige Maßnahmen zur Verbesserung gehen müssen.

Denn die Verschärfung sozialer Unterschiede hat konkrete lebensweltliche Auswirkungen. Kein Geld zu haben, macht ja nicht krank, sondern die Alltagssituationen, die mit dem sozialen Status und mit allen damit einhergehenden Prozessen verbunden sind: die Bedrohung des eigenen Ansehens, Demütigungen, Stigmatisierungen, die Verweigerung von Anerkennung, soziale Disqualifikation. Für Kinder und ihr gesundes Aufwachsen bedeutet das: Lerne ich den Geschmack vom zukünftigen Leben als Konkurrenz, Misstrauen, Verlassensein, Gewalt, oder habe ich die Erfahrung qualitätsvoller Beziehungen, Vertrauen und Empathie gemacht? Werde ich schlechtgemacht und beschämt oder geschätzt und bekomme Anerkennung? Ist mein Leben von großer Unsicherheit, Angst und Stress oder von Vertrauen und Planbarkeit geprägt? Je ungleicher Gesellschaften sind, desto defizitärer sind die psychosozialen Ressourcen. Es gibt weniger Inklusion, das heißt häufiger das Gefühl ausgeschlossen zu sein. Es gibt weniger Partizipation, also häufiger das Gefühl, nicht eingreifen zu können. Es gibt weniger Reziprozität, also häufiger das Gefühl, sich nicht auf Gegenseitigkeit verlassen zu können. Es sind nicht nur die Belastungen ungleich verteilt, sondern auch die Ressourcen sie zu bewältigen.

Die Gründe für das hohe Erkrankungsrisiko Ärmerer sind also vielschichtig: Leben am Limit macht Stress. Leben am Limit schwächt die Abwehrkräfte und das Immunsystem. Leben am Limit macht verletzlich. Finanzielle Not, Arbeitslosigkeit oder schlechte Wohnverhältnisse machen krank. Man kann einen Menschen mit einer feuchten Wohnung genauso töten wie mit einer Axt. Arzt und Gesundheitswissenschafter Michael Marmot: „Wir untersuchten alle Risikofaktoren, die mit dem Lebensstil zu tun haben: das Rauchen, den Cholesterinspiegel, der mit einer fettigen Ernährung zusammenhängt, die sitzende Lebensweise mit wenig Bewegung. Sie alle zusammengenommen erklären zwischen einem Viertel und einem Drittel des Unterschieds in der Lebenserwartung. Nicht mehr.“

Für die Verbesserung der Kindergesundheit

Wenn wir davon ausgehen, dass nicht nur Krankheit in die Armut führen kann, sondern auch Armut in die Krankheit – wofür es eine lange Reihe empirischer Evidenz gibt –, muss es sich für die Gesundheitsförderung lohnen, die sozialen Felder in den Blick zu nehmen, in denen prekäre Lebenslagen und Prozesse sozialer Disqualifikation zu finden sind. Wer die Situation von Mindestsicherungs-Bezieher:innen weiter verschlechtert, Arbeitslose statt Arbeitslosigkeit bekämpft, die Chancen im Bildungssystem blockiert oder prekäre Niedriglohnjobs fördert, der verschlechtert die Gesundheitssituation im Land. Die Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen (schimmlige Wohnung, belastende Arbeit, Prekarität, Luft- und Lärmbelastung, Stress) wie auch die Unterschiede in den Bewältigungsressourcen (Handlungsspielräume, Anerkennung, soziale Netzwerke, Bildung) wiegen schwerer als die Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung (Krankenversicherung, Selbstbehalte, Wartezeiten, Fachärzte) und sind mit den Unterschieden im Gesundheits-/Krankheitsverhalten (Ernährung, Bewegung) tief verwoben. Gesundheitsförderung ohne die Berücksichtigung des sozialen Feldes ist genauso wirkungslos wie sozialer Ausgleich ohne den Blick auf das Handeln von Personen. Gesundheitsförderndes Verhalten ist am besten in gesundheitsfördernden Verhältnissen erreichbar. Wenn jedoch Vorschläge zur Gesundheitsförderung gemacht werden, dann betreffen sie meist nur den Lebensstil. Man sollte eine Regel einführen: Jedem Vorschlag in Bezug auf den Lebensstil sollte je einer zur Reduzierung schlechter Wohnungen und krank machender Arbeit, einer zum Abbau von Barrieren im Gesundheitssystem und einer zur Stärkung der persönlichen Ressourcen gegenübergestellt werden. Wer die Gesundheit von Kindern verbessern will, sorgt sich um schimmelfreie Wohnungen, gute Schulen, Erholungsmöglichkeiten und eine Auflösung der belastenden Existenzangst. Die Gesundheitsdienste müssen den Zugang, die Inanspruchnahme und die Qualität von Gesundheitsleistungen unabhängig von Einkommen und Herkunft sicherstellen. Die Kinder und Eltern müssen in ihren Selbsthilfepotenzialen und Ressourcen gestärkt werden. Wir können sozialer Polarisierung entgegentreten. Die Daten sprechen für sich: Sozialer Ausgleich ist eine gute Medizin.

Für die Bekämpfung von Kinderarmut

Kinder, die in Armutsverhältnissen leben, haben arme Eltern. Jede Strategie gegen Kinderarmut muss deshalb auch eine Strategie für ein existenzsicherndes Einkommen der Eltern sein. Kinder, die in Armutsverhältnissen aufwachsen, sind geschwächt. Jede Strategie gegen Kinderarmut muss deshalb auch Kinder stärken und in ihre Ressourcen investieren. Kinder, die in Armutsverhältnissen aufwachsen, haben ein hohes Risiko, als Erwachsene wieder arm zu werden. Jede Strategie gegen Kinderarmut muss deshalb diesen Kreislauf durchbrechen; z. B. Bildungs- wie Lebensbedingungen zur Verfügung stellen, die integrieren, nicht selektieren. Damit es für sozial benachteiligte Kinder Zukunft gibt – trotz Herkunft.

Literatur:

Dawid, E. (Die Armutskonferenz) (2023): Die Teuerung und das untere Einkommensdrittel: Wirkungen und Strategien. Eine Erhebung zur sozialen Lage aus Sicht von Betroffenen. Online verfügbar unter: https://www.armutskonferenz.at/media/armutskonferenz_2023_teuerungen_unteres_einkommensdrittel.pdf

Dawid, E. (Die Armutskonferenz) (2021): Armutsbetroffene und die Corona-Krise 2.0. Eine zweite Erhebung zur sozialen Lage aus der Sicht von Betroffenen. Online verfügbar unter: https://www.armutskonferenz.at/media/armutskonferenz_erhebung_armutsbetroffene_corona-krise_2_2021.pdf

Dorner, T. E. et.al. (2011): The impact of socio-economic status on pain and the perception of disability due to pain. European Journal of Pain, 15(1), 103 ff.

Habl, C. (2009): Gesundheit und soziale Ungleichheit. In: Dimmel, N., Heitzmann, K., Schenk, M. (Hrsg): Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck: Studien Verlag, 172–183.

Kromer, I., Horvat, G. (2014): Wie erfahren Kinder in Österreich Armut? In: Dimmel, N., Schenk, M., Stelzer-Orthofer, C. (Hrsg): Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck: Studien Verlag, 425–434.

Lamei, N., Psihoda, S., Skina-Tabue, M. (2019): Gesundheit und Einkommen. Analyse von Daten des EU-SILC-Moduls 2017 zu Gesundheit und Kindergesundheit, Statistische Nachrichten 3/2019, 185–197.

Marmot, M. (2015): The Health Gap. Improving Health in an unequal World. New York: Bloomsbury.

Reeves, A., Clair, A., McKee, M. & Stuckler, D. (2016): Reductions in the United Kingdom’s Government Housing Benefit and Symptoms of Depression in Low-Income Households. American Journal for Epidemiology, 184(6), 421–429.

Schenk, M. (2021): Gesichtsverlust. Barrieren in der Gesundheitsversorgung für Armutsbetroffene, Kurswechsel (Beigewum), 1/2021, 20–30.

Six, E. (2019): Soziale Mobilität und Gesundheit bei der Geburt, Forschungsinstitut INEQ, Wirtschaftsuniversität Wien.

Stadt Wien (2020): Sozialer Status und chronische Erkrankungen in Wien, Gesundheitsberichterstattung MA24.

Statistik Austria (2022): Einkommen, Armut und Lebensbedingungen, EU SILC 2021.

Statistik Austria (2020): Sonderauswertung zu Lebensbedingungen von Mindestsicherungsbeziehenden und ihren Haushalten. Tabellenband.

Wilkinson, R., Pickett, K. (2009): The Spirit Level. Why More Equal Societies Almost Always Do Better. London: Allen Lane.

Autor:

Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie www.diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz www.armut.at, Psychologe.

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