Thema der Ausgabe 1/2024:

Kinderarmut

„Kinderarmut ist ein moralischer und politischer Skandal, an den sich zu viele gewöhnt haben.“
(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Kinderarmut

In Österreich sind mehrere hunderttausend Kinder von Kinderarmut betroffen, in Deutschland fast drei Millionen. Beinahe jedes fünfte Kind lebt in Armut oder ist armutsgefährdet. Ein moralischer und politischer Skandal, der aber nicht von allen Menschen so empfunden wird, meint Gottfried Schweiger. Kinder haben einen ethischen Anspruch auf ausreichend gute Chancen in ihrer Entwicklung und ihrem weiteren Lebenslauf. Politik schuldet es diesen Kindern, sich für eine effektive Abschaffung ihrer Notlagen einzusetzen und dies in der Öffentlichkeit zu vertreten, denn soziale Gerechtigkeit ist eine politische Entscheidung.

Die nackten Zahlen sind erschreckend, aber was bedeuten sie für das Leben der Kinder? Margherita Zander fragt danach, wie Kinder Armut sehen und erleben. Patrick etwa geht morgens ohne Frühstück zur Schule, „weil er und seine Mutter früh losmüssen“. Am meisten leiden die Kinder unter verweigerter Anerkennung und Ablehnung durch andere. Resilienzförderung könnte eine wirksame Form sekundärer Armutsprävention sein. Die Forderung an die Politik, eine wirklich existenzsichernde Kindergrundsicherung einzuführen, muss davon aber unberührt bleiben und nachdrücklich erhoben werden.

Wer hört die Stimmen der Kinder? Das vermeintliche Schweigen über Armut nimmt Peter Rahn in den Blick. In den Stimmen der Kinder reproduzieren sich soziale Strukturen und Machtverhältnisse. Es kommt darauf an, nicht nur etwas für die Kinder zu tun, sondern diese auch miteinzubeziehen.

Martin Schenk konzentriert sich auf die Situation in Österreich, wo die Mindestsicherung durch eine schlechte Sozialhilfe ersetzt wurde. Viele Familien mit Kindern sind trotz Arbeit arm und Armut kann zu Krankheit führen. „Man kann einen Menschen mit einer feuchten Wohnung genauso töten wie mit einer Axt.“

Schule schreibt die Ungerechtigkeit der „natalen Lotterie“ fort, also den Zufall, in welche Familie ein Kind hineingeboren wird, so Stephan Ellinger und Lukas Kleinhenz. Die ausgrenzenden sozialen Mikroprozesse werden von der Schule durch das nur vordergründig faire Leistungsparadigma verdeckt. „Der Katalysator Schule reinigt die Gesellschaft vom moralisch belastenden Gift der Kinderarmut.“

Wie geht es denjenigen, die ihr soziales Milieu verlassen und sich neue Räume erobern? Dieser Frage geht Flora Petrik am Beispiel des „Straßenkehrerkindes“ an der Hochschule nach. Die biografische Selbstkonstruktion der Studentin ist von Momenten der Scham durchzogen.

Die affektiven Prozesse für von Armut Betroffene würden in der Pädagogik zu wenig gesehen, so Thomas Müller. Der Schule gelingt es nicht, eine Resonanz auf das kindliche Verhalten zu erzeugen. Selbst im Diskurs über Inklusion spielt Armutsforschung keine nennenswerte Rolle. „Wer Bildung zum Gut erklärt, das nach meritokratischen Prinzipien verteilt werden soll, lässt die Tatsache unberücksichtigt, dass Bildung zuvorderst immer ein subjektbezogener Prozess ist, in dem es nicht um die gerechte Verteilung von Chancen geht, sondern um das Sein und Werden individueller Kinder und Jugendlicher in den Gemeinschaften, Milieus und Lebenslagen, in denen sie eben aufwachsen.“

 

Endlich schreibt Birte Müller wieder! Direkt aus dem Leben gegriffen, offen die wunden Punkte ansprechend und immer mit kreativen Ideen: „Hätte ich einen großen Betrieb, ich würde jeden Angestellten täglich 30 Minuten mit Willi tanzen oder murmeln lassen. Ich bin sicher, keiner würde mehr ein Burnout bekommen.“

Wie stark Ärzt:innen an NS-Verbrechen beteiligt und warum sie so empfänglich für die NS-Ideologie waren, ist im jüngst erschienenen Bericht der Lancet-Kommission zu Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust umfangreich dargestellt. Mercedes Prodromou und Clemens Jobst haben daran mitgearbeitet. Man hatte eine Form der medizinischen Ethik geschaffen, die das „deutsche Volk“ in seiner Wertigkeit über alles stellte und es dem Gesundheitspersonal ermöglichte, ihre monströsen Taten zu rechtfertigen. Die Verbrechen der Medizin im Nationalsozialismus dürfen nicht vergessen werden, denn deren Reflexion schärft den Blick für die Dilemmata der Gegenwart.

Irina Volf geht der Frage nach, welche Spuren der Kinder- und Jugendarmut sich noch im jungen Erwachsenenalter feststellen lassen. Jedes dritte Kind, das im Alter von sechs Jahren in einer armen Familie lebte, lebte auch mit 25 Jahren in Armut, zwei Drittel ist es gelungen, aus der Armutslage herauszukommen. Eine weitere Studie befasste sich mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Lebenssituation von armutsbetroffenen behinderten Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Diese bekamen die Auswirkungen besonders stark zu spüren. „Eltern fühlten sich häufig überfordert und mit der Herausforderung, ihre behinderten Kinder gleichzeitig zu betreuen, zu pflegen und sonderpädagogisch zu fördern, alleingelassen.“

Die Volkshilfe hat sehr genaue Vorstellungen von einer einheitlichen finanziellen Grundförderung, die das Existenzminimum aller Kinder abdeckt. In einem Forschungsprojekt wurde den Effekten einer Kindergrundsicherung nachgegangen, davon berichtet Hanna Lichtenberger. Die Erfahrungen sind vielversprechend, dass der Weg einer Kindergrundsicherung zum Ende der Kinderarmut beitragen könnte.

Josef Fragner, Chefredakteur

 

 

Inhalt:

Artikel
"Ich finde das nicht normal, dass ich nichts kriege, das ist nicht in Ordnung."
Arbeit ist schön, macht aber viel Arbeit
Ethik und Politik der Kinderarmut
Die andere Seite - Über Empathie und ihre Spuren
Verbrechen der Medizin
Kinderwelten
Armut als zusätzliche Beeinträchtigung - Erkenntnisse der Kinderarmutsforschung
Wer hört wie die Stimme(n) der Kinder im Kinderarmutsdiskurs und wie?
Ein Sturm, viele Boote
Nachhaltig benachteiligt
"Das Straßenkehrerkind in der Hochschule" - Biografische Perspektiven auf Scham und soziale Herkunft
Kinderarmut trifft Pädagogik bei Verhaltensstörungen
Geschichte für alle
Kinder- und Jugendarmut
In Armut aufwachsen während Krisenzeiten
Ein Ende den Toastbrot-Zeiten
Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt
"Sind so kleine Hände"
Sport, Spiele, Sensationen
Große Kunst aus Frankfurt
Ein Dinosaurier für das Max-Planck-Institut
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