Ein lächelnder, im Rollstuhl sitzender Mann mit umgehängter Kamera, umgeben von einer Gruppe bunt beschmierter Menschen beim indischen Holi-Fest, strahlt Freude und Gemeinschaft aus. Farbpulver in Rosa und Blau bedeckt ihre Gesichter und Kleidung, was eine ausgelassene Stimmung vermittelt.

Beim Holi-Fest in Indien

Foto: © Andreas Pröve
aus Heft 6/2023 – Anderswo
Andreas Pröve

Unvergessen bleibt die große Gastfreundschaft der einfachen Menschen

Seit 40 Jahren reist der Buchautor und Fotojournalist Andreas Pröve im Rollstuhl durch die Welt. Nun zieht er ein Resümee seines abenteuerlichen Lebens.

Jemand nahm mir den Helm ab. Ich lag hinter der Leitplanke auf dem Rücken und schaute in den blauen Himmel. „Das ist noch einmal gut gegangen, du lebst noch, keine Schmerzen, kein Blut, also noch mal Glück gehabt.“

Ich dachte zurück an diese perfekte Kurve, errichtet nach allen Regeln der Straßenbaukunst – als Zubringer zur Autobahn ohne Gegenverkehr, leicht ansteigend mit einer Überhöhung. Motorradfahrer lieben das. Gerade eben noch war ich fasziniert vom Wechselspiel der Geschwindigkeit, Fliehkräfte und dieser ungeheuren Schräglage, bei der ich mit dem Knie den Asphalt hätte berühren können. Ich war im Flow. Dann der Schock und die Gewissheit, die Kontrolle zu verlieren. Der Sturz war völlig undramatisch, die Trennung vom Motorrad eher ein Abgleiten. Wir beide rutschten auf die Leitplanke zu, es vorweg, ich hinterher. Den Aufprall der Maschine sah ich noch, mein Kontakt mit der Leitplanke fehlt in meinen Erinnerungen.

Ich wollte aufstehen, nach der Yamaha schauen, in der Hoffnung, dass nicht allzu viel kaputt wäre und ich die Fahrt fortsetzen könnte. Doch irgendetwas hinderte mich, es war so, als würde ich am Boden kleben. Ich konnte den Kopf und die Arme bewegen, aber der ganze Rest wollte mir nicht gehorchen. Ich tastete nach meinen Beinen, konnte sie mit den Händen spüren, aber es kam kein Reflex zurück. Es war so, als wären es nicht meine Beine. Da wusste ich, es war etwas passiert, das mein Leben ändern wird.

Der Notarzt schob sich in mein Blickfeld und löcherte mich mit Fragen zu meinem Befinden. Mit seiner riesigen Schere begann er sich an meiner Lederjacke zu schaffen zu machen. Meine Beschwerde, dass sie nagelneu sei, zweihundert Mark gekostet habe und er sie doch am Reißverschluss öffnen könne, beantwortete er mit dem Hinweis, dass er nicht wisse, welche Verletzungen ich hätte, und er deshalb die Jacke jetzt zerschneiden müsse.

Acht Monate des Jahres 1981 verbrachte ich auf der Querschnittstation des Evangelischen Stifts in Koblenz, acht Monate, in denen mir meine Freunde zu Hause ein rollstuhlgerechtes Häuschen errichteten, in das ich pünktlich zur Entlassung einziehen konnte. Acht Monate, in denen ich nur ein Ziel hatte: diese Klinik perfekt rehabilitiert zu verlassen. Nicht nur aus Eigeninteresse, auch als kleines Dankeschön an meine Freunde zu Hause, die alles taten, um mir meinen Start in ein Leben mit Rollstuhl zu erleichtern.

Nie zuvor und nie wieder danach habe ich so sorgfältig Tagebuch geschrieben, so intensiv über meine Zukunft gegrübelt und so viele Bücher gelesen. Eines stammte vom schottischen Schriftsteller Robert Louis Stevenson, der einen Gedanken niederschrieb, der mir die Motivation, das Selbstbewusstsein und die Kraft für meine Zukunft gab. Er schrieb: „Es kommt im Leben nicht darauf an, ein gutes Blatt auf der Hand zu haben, sondern mit schlechten Karten gut zu spielen.“ Dieser Satz war für mich eine einzige Herausforderung. Er führte dazu, dass ich diesen Schicksalsschlag als Chance wahrnahm.

Aufbruch

Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich zwei Jahre später mit der Eisenbahn ganz allein durch Indien reisen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Dass Behinderung im Kopf beginnt und sich dort festsetzt, je häufiger man von Fußgänger:innen seine Einschränkungen aufgezeigt bekommt und an scheinbar unüberwindliche Barrieren stößt, habe ich immer geahnt. Mit dieser ersten Reise nach Indien wollte ich allen Unkenrufer:innen und letztendlich auch mir selbst zeigen, dass die Grenzen des Machbaren für Rollstuhlfahrer:innen noch längst nicht erreicht sind.

Natürlich geht das nicht ohne fremde Hilfe. Ich kam nicht einmal allein aus dem Flugzeug heraus. An Bürgersteigen, Bahnhöfen und Busterminals musste ich fremde Hilfe in Anspruch nehmen. Hotels waren nur selten barrierefrei und ich wollte das Taj Mahal sehen mit hunderten Stufen davor. Alle Hemmungen, fremde Menschen anzusprechen und um Hilfe zu bitten, konnte ich getrost zu Hause lassen. Hat man das erst einmal geschafft, steht einem im Prinzip die ganze Welt offen. Jedenfalls der Teil, der überbevölkert ist. So ist es kein Wunder, dass ich in den letzten 40 Jahren überwiegend durch Asien und dort vor allem durch den indischen Subkontinent und China gereist bin. Denn, so meine Devise, bei 1,4 Milliarden Menschen wie in Indien wird sich doch wohl immer jemand finden, der mit anpackt. Ganz nebenbei habe ich festgestellt, dass meine Behinderung ein wunderbarer Türöffner zu den Menschen ist. Einfach durch die Notwendigkeit, sie immer wieder ansprechen zu müssen. Dieser Kontakt zur Bevölkerung, der Blick in ihr Leben, in ihre Religion und Kultur ist ja gerade die Motivation für meine Reisen. So haben sich in den Jahren Bekanntschaften und Freundschaften auf der ganzen Welt gebildet.

Heilige Ratten

Diese erste Reise durch Indien hat nicht nur mein Selbstbewusstsein vehement vorangetrieben, schließlich hatte ich etwas vollbracht, das selbst das Krankenhauspersonal für unmöglich hielt. Sie war auch Grundstein für die Sinngebung und Berufung meines Lebens im Rollstuhl. Fünfzig D-Mark wurden mir ausgehändigt, nachdem ich in einem kleinen Behindertenverein von dieser Reise mit einem Diaprojektor berichtet hatte. Das Potenzial, das darin steckte, meinen Lebensunterhalt und weitere Reisen zu bestreiten, erkannte ich sofort. Bis heute lebe ich von meiner Arbeit als Buchautor, Vortragsreferent, Motivationsredner und Fotojournalist.

Niemals sollte das Reisen für mich ein Selbstzweck sein. Getrieben vom Wunsch, Indien und den Hinduismus besser zu verstehen, reiste ich in den kleinen Ort Deshnok im Wüstenstaat Rajasthan. Es hieß, dort gebe es einen Tempel, in dem 20 000 heilige Ratten leben. Was treibt Menschen dazu, Ratten zu verehren? Obwohl der Tempel von Rattenkot übersät ist, würde mein Rollstuhl ihn verunreinigen. Daher musste ich Leute auf der Straße darum bitten, mich auf den Arm zu nehmen und mich in den Tempel zu tragen. Allerdings gab es im Tempel keinen Stuhl und weil die zwei Männer mich nicht so lange halten konnten, setzten sie mich auf dem Boden ab, inmitten der Ratten. Im Nu wurde ich von den mutigsten Nagern belagert. Flüchten konnte ich nicht, die Helfer waren verschwunden. Ratten krochen in die Fototasche, auf meine Schulter und ins Hosenbein und ich musste aufpassen, dass sie mich nicht anknabberten. Aber meine Angst war unbegründet, denn die Ratten waren besser ernährt als so mancher Mensch. Man glaubt, dass diese Ratten als heilige Männer wiedergeboren würden. Man teilt sein Essen mit ihnen und besucht sie auch auf der Hochzeitsreise.

Der stehende Guru

Heilige Männer, Gurus und Sadhus ziehen zum Teil als Wanderprediger durch das Land. Andere leben in Aschrams und werden von Gläubigen besucht, um von ihnen ihren Segen zu erhalten. Einem dieser außergewöhnlichen Menschen wollte ich auf dieser Reise einen Besuch abstatten. In dem Ort Ayodhya im Norden Indiens lebt Khadeshwari Baba. Seit 20 Jahren steht dieser Mann auf einem Bein, ohne sich je zu setzen oder sich hinzulegen. Seine große Spiritualität verleiht ihm die Kraft dazu. Für mich eine der eindrucksvollsten Begegnungen in Indien. Einige leben abgeschieden in den eisigen Höhen des Himalaja und trotzen Wind und Wetter, andere ernähren sich ausschließlich von der Milch heiliger Kühe und erfreuen sich bester Gesundheit.

Bergsteigen im Rollstuhl

Mit den Jahren wurden die Reisen aufwendiger, gefährlicher und überstiegen immer häufiger das, was mir physisch möglich war. So nahm ich mir 1998 vor, Indien in Handarbeit zu durchqueren. Der Plan klang verwegen und unmöglich, wenn nicht dieses Fünkchen Machbarkeit darin gesteckt hätte. Startpunkt sollte Kalkutta sein, das Ziel die Quelle des Ganges in 4 000 Metern Höhe im Himalaya. Mit einem Handbike vor dem Rollstuhl war ich nicht nur in der Lage, schneller voranzukommen, ich konnte auch mein gesamtes Gepäck am Bike unterbringen. Ein Loch im Rollstuhl als Toilette verlieh mir die Freiheit, praktisch überall zu übernachten. Endlich konnte ich reisen, wie ich es mir immer erträumt hatte. Ohne auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein, einfach losfahren. Ohne jegliche Buchung und somit ohne zu wissen, wo ich ein Dach über dem Kopf finden würde. Mit all meiner Verletzlichkeit tief in Indien einzutauchen und das Land auf mich wirken zu lassen. Ich konnte bei Bauern übernachten, an Raststätten an der Straße oder in Hotels, wenn es welche gab. Für mich ist dies die wahre Art des Reisens. Während die meisten Menschen ihre Reise bis ins Detail durchplanen, um Unvorhergesehenes zu vermeiden, lege ich es genau darauf an. Frei nach dem Motto: Eine Reise, auf der nichts passiert, ist sinnlos. Je weniger ich plane, umso größer ist die Authentizität des Abenteuers. Dabei geriet ich in das Holi-Fest und wurde mit Farbe überschüttet, streunende Hunde verfolgten mich und Lkw-Fahrer machten die Straße zu einem lebensgefährlichen Terrain. Unvergessen bleibt die große Gastfreundschaft der einfachen Menschen, die mir immer eine Bleibe zur Verfügung stellten. Wann immer ich am späten Nachmittag auf Bauernhöfen nach einem Bett fragte, wurde mir geholfen. Am Fuße des Himalajas konnte ich Zeuge des größten religiösen Festes der Welt werden. 15 Millionen Pilger:innen trafen sich in Haridwar zu einem gemeinsamen Bad im Ganges. Über der Stadt lag eine Wolke von Inbrunst und Spiritualität, die jeden Menschen erfasste. Als die von Astrolog:innen festgelegte Stunde kam, in der Mutter Ganga, der Ganges, seine ungeheuren Kräfte entwickelte, stürzten sich die Pilger:innen in seine Fluten. Von allen Sünden befreit, sammelten sich die Gläubigen in der Nacht, um ihrem heiligen Fluss zu huldigen. All das hat mich tief beeindruckt und prägt mein Bild von Indien bis heute.

Für mich begann das wahre Abenteuer aber erst hier. Sechs Sherpas halfen mir zu meinem Ziel, der Quelle des Ganges. Sie machten aus meinem Rollstuhl eine Sänfte, um mich tragen zu können, oder schnallten mich auf ihren Rücken. Mehr als einmal gähnte nur einen Schritt weiter rechts ein Abgrund von gut hundert Metern, wir überquerten steil abfallende Gletscher und übernachteten unter freiem Himmel. Immer wieder habe ich mich gefragt, was ich mir da antue. Welchen Wert hat es eigentlich noch, statt aus eigener Kraft zum Ziel zu kommen, sich dorthin tragen zu lassen. Aber schnell verwarf ich diese Gedanken wieder, denn bereits beim Abflug zu Hause musste ich mich ins Flugzeug tragen lassen. Ohne die Inanspruchnahme fremder Hilfe wäre keine meiner Reisen möglich gewesen.

Als Spion im Iran

Dass meine Reisen immer außerhalb unserer Komfortzonen stattfanden und sie viel Leidenschaft voraussetzten, verstand sich von selbst. Schließlich impliziert der Begriff Leidenschaft eine Hingabe, für die Leid in Kauf genommen wird. Meine Reisen durch den Iran, durch Syrien und Jordanien waren höchst ambivalent und erforderten das Äußerste an Leidenschaft. Dass man kein Volk mit seinen Herrschern gleichsetzen sollte, trifft sicher auf alle Welt zu. Aber in kaum einem Land ist die Unzufriedenheit des Volkes mit seinen Machthaber:innen so groß wie im Iran. Geahnt hatte ich es schon. Aber dass ich dort mit einer solch überbordenden Gastfreundschaft empfangen wurde, hat mich hingerissen. Es war mir auf diesen Reisen kaum möglich, in einem Hotel zu übernachten, weil ich ständig Einladungen von Familien bekam. Wollte ich weiterreisen, wurde ich zur Verwandtschaft in der nächsten Stadt vermittelt. Immer dauerte der Familienanschluss mehrere Tage, in denen man sich rührend um mich kümmerte. Sobald die Türen geschlossen waren und man sich sicher fühlte, wurde alles getan, was im Iran verboten ist. Und immer gehörte ein Zuprosten mit Alkohol an die Mullahs dazu.

Aber ich bekam auch die Gegenseite zu spüren. Ich befand mich auf einer Anhöhe im zentralen Hochland des Iran und machte ein Foto vom unermesslich weiten Tal zu meinen Füßen. Keine zehn Minuten später schaute ich in die Läufe von fünf Maschinengewehren. Ich hatte mit dem Foto versehentlich das nukleare Forschungszentrum von Natanz aufgenommen, das Geheimste, was die Mullahs zu bieten haben. Damit war ich in den Augen der Behörden ein israelischer Spion und wurde festgenommen. Als man in meinem Gepäck nicht nur ein Tonaufnahmegerät mit Mikro, sondern auch eine Videokamera fand, waren sich alle einig, einen dicken Fisch an der Angel zu haben. Erst nach stundenlangen Beteuerungen, nur ein harmloser Tourist zu sein, und dem Hinweis, dass Israel ganz sicher keinen behinderten Menschen im Rollstuhl zum Spionieren hierherschicken würde, sahen auch die Aufseher ein, dass diese Idee reichlich abwegig war. Trotz meiner Proteste wurden alle Bilder auf meiner Kamera gelöscht.

Ähnliche Situationen gab es auch in Syrien, Indien und China. Immer ging es glimpflich aus. Ich wurde nie ausgeraubt, mich befielen keine schlimmen Krankheiten und, was mich bis heute wundert, die größten Gefahren im Straßenverkehr habe ich auch überlebt. Lag es an meinen Schutzengeln, die über die letzten 40 Jahre Schwerstarbeit geleistet haben? Oder ist es das Glück des Optimisten, dessen Glas immer halb voll statt halb leer ist? Vielleicht trifft alles zu.

Andreas Pröve „40 Jahre auf Achse“

6. Jänner 2024, 17:00–18:30 Musik- und Singschule Kirchstraße 2, D-69115 Heidelberg

20. Jänner 2024, 19:30–21:30 Festhalle Gillersheim

4. Februar 2024, 14:30–16:00 Konzerthaus Freiburg Konrad-Adenauer-Platz 1, 79098 Freiburg im Breisgau

10. Februar, 10. 19:00–21:00 4G-Park, Kantallee, 29339 Wathlingen

18. Februar 2024, 16.30 Uhr Altes AKH, Spitalgasse 2 Wien

Weitere Infos: www.proeve.com/termine

Autor:

Andreas Pröve Seit einem Verkehrsunfall im Jahre 1981 mit der Diagnose Querschnittslähmung ist sein Leben von Abenteuern geprägt. Auf unzähligen Reisen durch alle Erdteile lotet er die Grenzen des Machbaren aus. Sein Motor ist dabei der Drang, Neues zu entdecken und sich einem Land vollkommen auszusetzen. Dabei macht er sich in „Handarbeit“ auf den Weg, denn nur diese Art des Reisens garantiert ihm einen Blick hinter die Kulissen.