Diskurs ADHS
„Der herkömmliche Diskurs sucht die Ursachen für ADHS im Körper und die Vernunft soll den Körper beherrschen lernen“(Josef Fragner, Chefredakteur)
Intro:
Diskurs ADHS
In so manchem Alltagsgespräch fällt die Bemerkung: „Ein typischer ADHSler“.Wenn die Ausbuchstabierung des Akronyms auch schwerfiele,der Mensch ist plötzlich die Diagnose und die Vorstellungen kommen noch aus den Kinderbüchern.Wer kennt nicht den Zappelphilipp im Struwwelpeter.
Nach Marius Cramer, der dem „Geburtsmythus des Zappelphilipps“ nachspürt, strahlt die abgekürzte Bezeichnung ADHS einen „eigentümlichen Denkzauber“ aus, sie wird beinahe zum Archetypus fast aller Verhaltensstörungen erhoben. Die Ursachen liegen laut diesem Diskurs im eigenen Körper und die Vernunft soll diesen beherrschen lernen.
Auf die Sprachverwirrung, die zu immer mehr widersprüchlichen Positionen führt, weisen auch Manfred Gerspach und Hans von Lüpke in ihrem Beitrag „ADHS als Thema von Körper und Sprache“ hin. Vielen Sprachfiguren kommt keine wechselseitige kommunikative Rolle zu, sie werden nicht von Empathie begleitet. Bei der Einnahme von „Ritalin“ kommen zwei Studien zu völlig gegenteiligen Einschätzungen. Die beiden Autoren betonen, dass das Konstrukt ADHS einem Trend zur Biologisierung der menschlichen Kultur entspringt.
Matthias Wenke schildert den zehnjährigen Derek, der hochaufmerksam Schach spielen konnte, intelligent und empfänglich für Zuwendung war, regelmäßig Ritalin bekam und von sich dachte: „Ohne Tabletten bin ich ein Monster.“ Nach Wenke gibt es keinen einzigen spezifischen neurobiologischen Indikator für ADHS. Wenke orientiert sich an der Individualpsychologie Alfred Adlers, die danach fragt: „Wie würde ich mich fühlen, wenn ich in seiner Haut steckte, mich an seiner Stelle befände?“ Es geht in einer körperorientierten Beratung und Therapie um die Einfühlung in die Emotionen, den Körper und den Energiezustand, nicht um die Inhalte einer Geschichte.
Philipp Abelein, der den Themateil dieses Heftes kuratiert hat, zeigt in seinem Beitrag, dass sich Struktur von Schule und Unterricht konträr zu den Bedürfnissen von Kindern mit ADHS verhalten. Primäres Ziel ist es dabei, die Kernsymptome von ADHS zu verringern und schulisch erwünschte Verhaltensweisen aufzubauen. Im Gegensatz dazu könnte man fragen, ob ein auffälliges Verhalten eine wichtige innere Funktion erfüllt, um eigene Ansprüche durchzusetzen, den Selbstwert zu steigern oder fehlende Aufmerksamkeit auszugleichen.
Bernhard Rauh zeigt die vielfältigen Barrieren auf, mit denen Studierende mit ADHS konfrontiert sind. Diese passen nicht in die Konstruktion vom durchschnittlichen Studierenden und ihre Erschwernisse sind nicht sofort sichtbar. Es geht nicht nur um Chancengleichheit, sondern um Chancengerechtigkeit durch die Berücksichtigung von Nachteilen und deren Ausgleich. Eine Vision wäre, dass die Studien- und Prüfungssituation so gestaltet wird, dass den Bedarfen möglichst vieler Studierender entsprochen wird.
Unser Magazinteil ist wieder eine Fundgrube:
Anne Engelmann schildert ihr verflixtes Kurzzeitgedächtnis, das jedes Geräusch, jede Bewegung registriert. Gedankenlärm, in dem sich jeder Gedanke gleich wichtig macht, aber auch sprühende Fantasie und unbändige Begeisterung für neue Projekte sind ihre ständigen Begleiter.
Beatrice Gnaegi legt den Fokus auf die Sichtweise der betroffenen Familien. Eltern fühlen sich oft missverstanden, nicht ernst genommen und allein gelassen. Nicht selten werden sie mit starken Vorwürfen konfrontiert.
„Hilft oder schadet die Diagnose?“, fragt Anna Bischoff. Die Einordnung in die diagnostische Kategorie liefert keine wirkliche Erklärung. Die medikamentöse Unterdrückung der Symptome unterbindet eine vertiefende Suche nach dem Sinngehalt hinter den Symptomen. Nach dem Motto, wer stört, müsse eine Störung haben, geht es verstärkt darum, das Kind an das System und nicht das System an das Kind anzupassen.
Die erste Begegnung mit Sofie brachten wir 2019, nun sind vier Jahre vergangen. Snezhana von Büdingen-Dyba, die eine langjährige Freundschaft mit Sofie verbindet, zeigt uns in eindrucksvollen Bildern deren Alltag. Sie lebt nach wie vor auf dem Bauernhof mit ihren Eltern und hofft, bald ihre große Liebe zu finden.
Die Republik Österreich hat vor 15 Jahren die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet. Im August fand die zweite Staatenprüfung statt. Christine Steger und Petra Flieger waren dabei und berichten, dass Österreich in Genf keine gute Figur gemacht hat.
Josef Fragner, Chefredakteur
Inhalt:
Artikel | |
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Das verflixte Kurzzeitgedächtnis
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Die Diagnose war für mich eine Erleichterung
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Das tut Kind und Eltern weh
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Das ADHS-Dilemma: Hilft oder schadet die Diagnose?
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Edward
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Die Geschichte von Edwards Fröschebuch
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Zauber des Lebens
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ADHS als Thema von Körper und Sprache
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Der Geburtsmythos des Zappelphilipps
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"ADHS" - Geronnene Gewohnheiten
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Prinzipien für den Unterricht bei Schüler:innen mit ADHS - eine Analyse
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Fantasievolle Werke ohne Namen
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Mit ADHS studieren - hochschulische Strategien, Barrieren und angemessene Vorkehrungen für Teilhabe
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Bildungsprojekt in Armenien
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Ans Meer
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Der Mensch mir gegenüber
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Österreich auf dem Prüfstand des UN-Fachausschusses
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Besorgte Mahnungen und dringende Empfehlungen
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"Der Wind bläst auch ins Glück"
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50 Jahre Steirische Vereinigung
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Der Populismusvorwurf als Feigenblatt
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20 Jahre Kunsthaus Graz: Gelebte Barrierefreiheit?
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Erfolge für Barrierefreiheit
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Theater Rampe in Stuttgart
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Eine Frage der Gerechtigkeit
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Freaks als Geschäftsmodell
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Momo - künstlerische Neuinterpretation einer zeitlosen Geschichte
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Der basale Garten von Althea
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Bücher
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