Auch über schlimme Themen muss man sprechen – Wie partizipativer Gewaltschutz für Menschen mit Behinderung gelingen kann
Einleitung
Obwohl Gewalt gegen hilfs- und pflegebedürftige Menschen auch in der gesellschaftlichen Realität unserer heutigen Zeit weit verbreitet ist, wird diese Tatsache sowohl in der Gesamtgesellschaft als auch von den betroffenen Institutionen noch immer tabuisiert (Freck, 2017, S. 185). Jedoch lässt sich insbesondere dieser allgegenwärtige Charakter des Problems als Grund dafür anführen, warum über Gewalt an Menschen mit Behinderungen und anderen Betroffenen gesprochen werden sollte. An dieser Stelle ist zu betonen, dass Gewalt gegen Menschen mit Behinderung als historisch zementiertes und globales Problem angesehen werden kann (World Health Organization, 2014). Dies zeigt sich nicht nur durch eine Auseinandersetzung mit den Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderungen in den USA (Marge, 2003) oder in Fällen institutioneller Gewalt in Kanada (Rossiter & Rinaldi, 2018) sondern auch in der Betrachtung der Lebensrealität von Menschen mit Behinderung in der deutschen Geschichte sowie durch jüngst aufgedeckte Gewalttaten. Mediale Aufmerksamkeit erhielt beispielsweise ein Fall aus einer Einrichtung im Kreis Böblingen bei Stuttgart, in dem ein Pfleger über Jahre hinweg mindestens acht Frauen und zwei Kinder mit Behinderung missbrauchte (AbilityWatch e. V., 2022)
Natürlich beschränkt sich die Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen dabei nicht nur auf Deutschland, die Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada. Auch in Ländern wie Schweden (Olofsson et al., 2015), Kroatien (Milic Babic et al., 2018), Österreich (Mayrhofer et al., 2019), der Schweiz (Tschan, 2015), England und Wales (Khalifeh et al., 2013, 5) sowie in Indien (Daruwalla et al., 2013) und in Südafrika (Neille & Penn, 2017) lassen sich vergleichbare Umstände feststellen. Selbst heutzutage ist Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen damit keine Seltenheit und sollte, insbesondere in der professionellen Sozialen Arbeit, nicht verschwiegen werden. Hierbei ist es nicht nur wichtig, über Gewalt zu sprechen, auch die Betroffenen sollten gehört, aus Fehlern der Vergangenheit gelernt und der Wiederholung dieser Fehler aktiv entgegengewirkt werden. Insbesondere die Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderung nimmt diesbezüglich eine wichtige Rolle im Aufgabenfeld und Selbstverständnis der Sozialen Arbeit als wissenschaftliche Disziplin und Profession ein.
Im Rahmen des folgenden Beitrags soll der aktuelle Forschungsstand zur Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen sowie zur Prävention eben dieser Gewalt dargestellt werden. Zudem soll am Beispiel einer qualitativen, leitfadengestützten Interviewstudie mit drei Menschen mit Mehrfachbehinderungen gezeigt werden, wie unverzichtbar Gespräche mit Betroffenen sind, um wichtige Informationen für die partizipative, einrichtungsspezifische Gestaltung eines Gewaltschutzkonzeptes zu gewinnen.
Menschen mit Behinderung und ihre besondere Vulnerabilität
Mit Blick auf die Frage nach der Vulnerabilität von Menschen mit Behinderungen, verdeutlicht eine Meta-Analyse von Becker (2001) die besondere Vulnerabilität der betroffenen Menschen und bestätigt, dass diese Personengruppe im Allgemeinen häufiger Opfer sexualisierter Gewalt wird als andere Personengruppen. Insbesondere Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sehen sich einem erhöhten Risiko ausgesetzt (Becker, 2001). Eine Studie von Basile et al. (2016) unterstreicht diese hohe Vulnerabilität von Menschen mit Behinderung in Bezug auf sexualisierte Gewalt. Die Forschenden fanden heraus, dass sowohl Männer als auch Frauen mit Behinderungen, verglichen mit Menschen ohne Behinderung, einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Während die meiste Fachliteratur zu dieser Thematik zurecht die besondere Vulnerabilität von Frauen mit Behinderungen betont (vgl. BMFSFJ, 2013), verdeutlichen Basile et al. (2016), dass auch Männer mit Behinderungen anfällig dafür sind, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Chenoweth (1996, S. 403–404) verweist zudem auf eine bestehende Verbindung zwischen Schutz und Vulnerabilität indem sie betont, dass die oftmals bestehende Überbehütung von Frauen mit Behinderung dazu führen kann, dass diese Gefahrensituationen selbst nicht erkennen und nicht damit umzugehen wissen, was wiederum, gegensätzlich zur eigentlichen Intention der Behütung, deren Vulnerabilität erhöht.
Sowohl Kinder als auch Erwachsene mit Behinderungen sehen sich außerdem einem erhöhten Gewaltrisiko ausgehend von Betreuungs- und Pflegepersonal sowie anderen Personen aus dem Bekanntenkreis der Betroffenen ausgesetzt. Natürlich besteht hierbei auch ein erhöhtes Risiko der Gewaltausübung durch unbekannte Personen, jedoch ist dies im Vergleich seltener der Fall. Besonders betroffen sind Menschen mit Behinderungen, bei denen die Art oder Schwere der Beeinträchtigung mit einer Beschränkung der Fähigkeiten zum Selbstschutz einhergeht. Als vier hierfür wichtige Fähigkeiten sind die Fähigkeit des Erkennens von Gefahren und Gefahrensituationen, die Fähigkeit eigenständig vor Täterinnen und Tätern oder aus der Gefahrensituation zu fliehen, die Fähigkeit zur Selbstverteidigung sowie die Fähigkeit die erlebte Gewalttat zu verbalisieren und anderen mitzuteilen, zu nennen. (Marge, 2003, S. 1)
Da der Diskurs über Behinderung und die besondere Vulnerabilität von Menschen mit Behinderungen oftmals vereinfacht dargestellt werden, sollte an dieser Stelle betont werden, dass Menschen mit Behinderung sehr individuelle und verschiedene Voraussetzungen und deshalb auch verschiedene Vulnerabilitäten mit sich bringen. Im Kontakt mit Menschen mit Behinderungen ist es deshalb unerlässlich die Diversität und Individualität der einzelnen Betroffenen zu achten und zu berücksichtigen. Im Sinne eines Sozialen Modells der Vulnerabilität (vgl. Brown, 2004) ist der Begriff der Vulnerabilität deshalb eben nicht als Eigenschaft einer Person oder Personengruppe, sondern als Wechselwirkung zwischen den Eigenschaften einer Person und der daraus resultierenden Behandlung durch andere Personen zu verstehen. Vulnerabilität entsteht dementsprechend nicht durch die Beeinträchtigung selbst, sondern durch die Reaktion anderer Personen auf diese Beeinträchtigung. Insofern lässt sich ein Soziales Model von Vulnerabilität auch mit dem Gedanken des Empowerments verbinden, ohne diesem konträr gegenüber zu stehen. (Brown, 2004, S. 10–11) Plakativ führt Brown diesbezüglich an, dass die Eigenschaften einer Person nicht für sich alleine stehend als Risikofaktoren verstanden werden können, da Betroffene nur im Angesicht potentieller Täterinnen und Täter oder im Angesicht strukturellen Missbrauchs einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind (Brown, 2004, S. 33). Es bleibt deshalb zu betonen, dass das Vorliegen einer Behinderung nicht direkt mit Vulnerabilität gleichgesetzt werden kann.
Gefährdungsraum Einrichtung
In Anbetracht der großen Anzahl an in Einrichtungen lebenden Menschen mit Behinderungen (vgl. BAGüS, 2021) erscheint es wichtig, die besonderen Gefährdungsbedingungen innerhalb dieser Einrichtungen im Kontext der besonderen Vulnerabilität der Bewohnerinnen und Bewohner genauer zu betrachten. Kindler und Fegert (2015) resümieren diesbezüglich, dass Institutionen, die ein hohes Maß an Restriktivität aufweisen und Institutionen, deren Klientel aus körperlichen, psychischen oder intellektuellen Gründen häufig Einschränkungen bezogen auf die Kompetenzen zum Selbstschutz oder zur Mitteilungsfähigkeit aufweisen, einem strukturell bedingten und erhöhten Risiko für (sexuelle) Übergriffe ausgesetzt sind (Kindler & Fegert, 2015, S. 172). Als zentrale Ursache für (sexualisierte) Gewalt an Menschen mit Behinderungen in Institutionen der Behindertenhilfe lassen sich deshalb die dort bestehenden Strukturen nennen (Römisch, 2017, S. 105). Besonders geschlossene Systeme, zu denen sowohl räumliche als auch ideologisch geschlossene Einrichtungen gezählt werden, wirken sich dabei begünstigend auf das Gewaltrisiko aus (Römisch, 2017, S. 108). In der modernen Behindertenhilfe existieren hierbei immer noch viele Einrichtungen, die abgelegen von Gemeinden und Städten oder abgesondert in Stadtgebieten abseits des städtischen Alltagsgeschehens liegen und in denen Bewohnende rundum versorgt werden. Dies geht oftmals mit einem Mangel an Kontakten zu Personen außerhalb der Einrichtungen einher. (Mattke, 2018, S. 18)
In Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen herrschen zudem Lebens- und Wohnverhältnisse, die die eigene Privat- und Intimsphäre nur geringfügig schützen. Dies führt wiederum zu einer erhöhten Abhängigkeit vom Personal der Einrichtung. (BMFSFJ, 2014, S. 70) Die Abhängigkeit von Menschen mit Behinderungen beruht nach Dederich (2007) auf verschiedenen Faktoren. So lassen sich neben der behinderungsbedingten Abhängigkeit auch soziale und gesellschaftliche Wirkungsprozesse erkennen, die Abhängigkeit erzeugen. Diese sozial oder gesellschaftlich bedingte Abhängigkeit von Menschen mit Behinderungen beruht insbesondere auf mangelnder Verselbstständigung und Infantilisierung, auf paternalistischer Machtausübung und auf dem Vorenthalt von Rechten sowie einem Mangel an Kapital. (Dederich, 2007) In Bezug auf Menschen mit Behinderungen ist hier insbesondere ein Mangel an Geld und anderen materiellen Ressourcen sowie fehlende Bildung oder der Mangel an sozialen und kommunikativen Kompetenzen als fehlendes Kapital (vgl. Bourdieu, 1986) zu nennen. Die erwähnte Abhängigkeit von Menschen mit Behinderungen steigt mit steigender Schwere der Beeinträchtigung, was gleichsam mit der Gefahr des Machtmissbrauchs und der Gewaltausübung gegenüber den Betroffenen einhergeht (Dederich, 2007). Dieses Machtungleichgewicht wird von den Täterinnen und Tätern ausgenutzt. Die Tat hat dabei besonders bei Mitarbeitenden als Tatausübende einen „Surrogatcharakter“. Dies bedeutet, dass insbesondere sexualisierte Gewalt zuerst als Mittel zur Machtbefriedigung verstanden und an zweiter Stelle als sexuelle Befriedigung angesehen werden sollte. (Römisch, 2017, S. 107)
Ein weiterer Risikofaktor, der bezogen auf Menschen mit geistigen Behinderungen eine wichtige Rolle einnimmt, ist die oftmals fehlende Aufklärung zu den Themen (sexuelle) Gewalt und Sexualität und ein Mangel an Schulung bezüglich dieser Themen sowie der immer noch bestehende, tabuisierende Umgang mit Sexualität in Einrichtungen der Behindertenhilfe (Zemp et al., 1997). Bestätigt wird der bestehende Mangel an Personen mit denen Menschen mit Behinderungen über persönliche Themen, wie Sexualität, sprechen können, auch in einer Studie aus Österreich. Hierbei ist besonders zu betonen, dass sich das Fehlen von Bezugs- oder Vertrauenspersonen auch auf die Möglichkeit auswirkt, (sexualisierte) Gewalt zu thematisieren. (Mayrhofer & Fuchs, 2019, S. 21) Bei Mitarbeitenden führen die aufgezählten Faktoren zudem häufig zu Hilflosigkeit und Unsicherheit sowie unprofessionellem Handeln und Betroffenheit.
Gewaltprävention und Schutzkonzepte
Für die wirkungsvolle Umsetzung von Gewaltschutzkonzepten fordert das Deutsche Institut für Menschenrechte (2022) die Leistungserbringer der freien Wohlfahrtspflege und die privaten Träger dazu auf, fortlaufende Organisationsentwicklungsprozesse unter wirksamer Beteiligung der Bewohner, Bewohnerinnen und Beschäftigten der Einrichtungen anzustoßen, die der Erkennung und Verhinderung jeder Form von Gewalt dienen. Die Gewaltprävention soll diesbezüglich die zentrale Rolle einnehmen. Gewaltschutzkonzepte sollten neben einer partizipativen Entwicklung auch Leitbilder, Verhaltenskodizes, Präventionstrainings für Bewohnende und Fortbildungsangebote für Fachkräfte sowie klare Vorgaben zu Ansprechpersonen und Verfahrensabläufe für das Vorkommen von Gewalt und bei Verdachtsfällen inkludieren. Des Weiteren wird die Schaffung von niederschwelligen und barrierefreien Zugängen zu internen wie zu unabhängigen externen Beschwerdestellen gefordert. (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2022, S. 8) Die vom BMFSFJ (2014, S. 171–176) aufgelisteten Maßnahmenvorschläge zur Verbesserung der Gewaltprävention in Einrichtungen umfassen die Entwicklung von zielgruppenspezifischen und altersgruppenspezifischen Unterstützungs- und Präventionskonzepten, welche auf unterschiedliche Gewaltkontexte zugeschnitten sind, und die Umsetzung eines von Respekt und Achtung vor Grenzen und Selbstbestimmung geprägten einrichtungsinternen Klimas und Umgangs mit Menschen mit Behinderungen. Als potenzielle Maßnahmen beziehen sich Iten und Haltiner (2012) auf das Setzen von Standards bezüglich heikler Situationen, auf geregelte Interventionsverfahren, auf das Etablieren eines Beschwerdemanagements sowie agogische, also anleitende, Präventionskonzepte und klare, partizipative Führungsstrukturen. Besonders wird an dieser Stelle die dafür unerlässliche institutionsübergreifende Haltung betont. (Iten & Haltiner, 2012, S. 32) Des Weiteren nennt das BMFSFJ (2014) die Notwendigkeit von sexueller Aufklärung und die Förderung der sexuellen Selbstbestimmung der Betroffenen und fordert die Etablierung von Leitlinien und Rahmenkonzepten zur Gewaltprävention und deren Verankerung im Qualitätsmanagement der Einrichtung. Als weiterer Aspekte wird der Auf- und Ausbau interner und externer Anlaufstellen und Beratungsmöglichkeiten und die multiprofessionelle Vernetzung und Kooperation mit anderen Einrichtungen, Institutionen und Berufsgruppen genannt. (BMFSFJ, 2014, S. 171–176)
Als Basis und Voraussetzung für einrichtungsinterne Schutzkonzepte betont Mattke (2018) die Notwendigkeit von Risiko- oder Gefährdungsanalysen. Als Risikoanalyse wird hierbei die kritische Beleuchtung aller Bereiche und Abläufe einer Institution, bezogen auf die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen, bezeichnet. Die Beteiligung aller Mitarbeitenden sowie des pädagogischen und therapeutischen Personals, des Haus- und Verwaltungspersonals, der Fahrdienste, der Aushilfskräfte und Ehrenamtlichen und insbesondere der Klientinnen und Klienten und ihrer Angehörigen wird hierbei zwar als unerlässlich angesehen, jedoch ist diese allumfassende Beteiligung auch in der modernen Behindertenhilfe noch nicht selbstverständlich. Weiterhin betont Mattke (2018) die Notwendigkeit der Aufarbeitung des Zustandekommens von konkreten Fällen sexualisierter Gewalt in der Vergangenheit der Institution, da diese Erkenntnisse und Hinweise über institutionelle Schwachstellen ermöglichen. (Mattke, 2018, S. 22)
Partizipative Schutzkonzeptentwicklung
Nahezu alle Empfehlungen zur Gestaltung und Umsetzung von Gewaltschutzkonzepten betonen demnach die Notwendigkeit einer partizipativen Herangehensweise (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte, 2022; Mattke, 2018). Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, mit welchen Methoden Betroffene in ihrer Rolle als Expertinnen und Experten für ihr eigenes Leben in den Prozess der Erstellung eines Schutzkonzeptes involviert werden können?
Am Beispiel einer durch den Autor dieses Beitrages durchgeführten qualitativen Interview Studie mit in einer Wohneinrichtung der Behindertenhilfe lebenden Menschen mit Mehrfachbehinderungen zeigt sich dabei, wie wertvoll Gespräche mit Betroffenen für die Informationsgewinnung im Rahmen der Entwicklung eines Gewaltschutzkonzeptes sind und welche vorher verborgenen Perspektiven durch die Partizipation von Betroffenen ersichtlich werden.
Die durchgeführten Interviews verdeutlichen, dass alle Befragten sowohl an ihrem Arbeitsplatz in der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen als auch in ihren jeweiligen Wohngruppen von psychischer Gewalt betroffen waren. Besonders am Arbeitsplatz manifestierte sich dies in Drohungen und Beleidigungen durch die Kolleginnen und Kollegen der Befragten. Jedoch kam es auch in der Wohneinrichtung zu psychischer Gewalt, durch die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner der Befragten, aber auch durch das Personal und die Strukturen der Einrichtung selbst. So berichtete einer der Befragten von Vernachlässigungen seiner Bedürfnisse, fehlender Zeit für seine Belange und Vereinsamung sowie Frustration aufgrund mangelnder Befähigung zur Freizeitgestaltung außerhalb der Einrichtung. Ein anderer Befragter berichtete zudem von behinderungsspezifischen Anfeindungen und Beleidigungen durch unbekannte Personen außerhalb der Einrichtung. Alle Befragten berichteten außerdem von psychischer Gewalt und Belastung ausgelöst durch Lärm aufgrund plötzlich losschreiender Arbeitskolleginnen und Kollegen mit Behinderung in der Werkstatt sowie Mitbewohnerinnen und Mitbewohner mit Behinderung in den Wohneinrichtungen. Die Befragten bewerteten diese erlebte psychische Gewalt negativ. Sie sprachen im Hinblick auf die dabei empfundenen Emotionen von Trauer, Zorn und Angst. In Bezug auf physische Gewalterfahrungen wird innerhalb der durchgeführten leitfadengestützten Interviews deutlich, dass zwei der Befragten vereinzelte Fälle physischer Gewalt, in der Wohneinrichtung und am Arbeitsplatz in der Werkstatt, erlebten. Als tatausübende Personen wurden hierbei andere Personen mit Behinderung genannt. Einer der Befragten berichtete jedoch auch von einem Fall physischer Gewalt durch eine Fachkraft und mehreren Fällen körperlicher Gewalt in der Kindheit. Eine weitere Befragte berichtete im Hinblick auf ihre Herkunftsfamilie von psychischer Gewalt durch ihren Vater. Die Befragte berichtete zudem ausführlich von einem Fall sexualisierter Gewalt in der Wohneinrichtung und betonte diesbezüglich die dadurch erlebte psychische Gewalt durch die Fachkräfte der Wohneinrichtung, da diese ihrer Erfahrung keinen Glauben schenkten, die Bedürfnisse und Gefühle der Befragten nicht berücksichtigten und ihre Gewalterfahrung als Traum deklarierten. Die dargestellten Gewalterfahrungen schließen somit an die in der Literatur aufgezeigte Gewaltprävalenz im Leben von Menschen mit Behinderungen an (vgl. Mayrhofer & Fuchs, 2019; BMAS, 2014; BMFSFJ, 2013). Anhand der Interviews mit den drei Befragten verdeutlichte sich außerdem das von Römisch (2017) betonte, in der Einrichtung bestehende Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Personal der Einrichtung und den befragten Menschen mit Behinderungen, das zu struktureller Gewalt und Ohnmachtsgefühlen auf Seite der Befragten führte. Als Quellen dieser strukturellen Gewalt nannten die Befragten die Wohnform und Gruppenzusammensetzung, die alternativlos wirkenden Strukturen in der Einrichtung und die Abhängigkeit vom Personal der Einrichtung, die sich in einem konkreten Beispiel daran zeigte, dass einer der Befragten sich von einer Fachkraft nach einem Streit mit ihr duschen lassen musste, obwohl er dies nicht wollte. Auch die erlebte strukturelle Gewalt und Abhängigkeit wurde von den Befragten mit Zorn, Ärger und Gefühlen von Machtlosigkeit in Verbindung gebracht. Im Hinblick auf die Gewaltprävention durch die Einrichtung wurde im Rahmen der durchgeführten Interviews deutlich, dass Befragten lediglich zwei konkrete Präventionsmaßnahmen, einen Selbstverteidigungskurs und einen Selbstverteidigungskurs speziell für Frauen, benennen konnten. Es wurde zudem deutlich, dass die Befragte, die in der Werkstatt die Rolle der Frauenbeauftragten einnahm, diese beiden Angebote selbst nicht kannte. Zwar finden neben den von den Befragten aufgeführten Präventions- und Aufklärungsangeboten, in der Werkstatt regelmäßige Gruppengespräche zum Thema Liebe, Partnerschaft und Sexualität statt, jedoch fand dieses Angebot keine Erwähnung durch die Befragten im Rahmen der qualitativen Interviews. Somit ist anzunehmen, dass die Befragten eine Parallele zwischen diesem Angebote und dem Thema Gewalt nicht selbstständig herstellten. Die leitfadengestützten Interviews verdeutlichten zudem, wie mit der erlebten Gewalt umgegangen wurde und mit wem die Befragten über Erlebtes sprachen. Es zeigte sich aber auch, wie mit dem Erlebten nicht umgegangen wurde und welche Kommunikations- und Beschwerdemöglichkeiten den Befragten nicht bekannt waren. Alle Befragten gaben an, einige Ansprechpersonen innerhalb der Einrichtung zu besitzen und zu kennen. Außerdem waren die internen Beschwerdemöglichkeiten und Kommunikationswege allen Befragten bekannt. Obgleich die Befragten die internen Beschwerdestellen und Kommunikationswege kannten, zeigte sich jedoch, dass nur eine der Befragten eine externe Beschwerdestelle, unabhängig von privaten Ansprechpersonen, benennen konnte. Es ist anzunehmen, dass dieser Umstand die Vulnerabilität der Befragten sowie der anderen Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtung in Bezug auf Gewalt durch das Personal erhöht (vgl. Mattke, 2018). Es ist deshalb festzuhalten, dass die durchgeführten leitfadengestützten Interviews mit von Gewalt betroffenen Menschen mit Sehbehinderungen einige Lücken und Risiken im Gewaltschutz der Einrichtung, in der die Befragten arbeiteten und lebten, aufdecken und aufzeigen konnten.
Ein Schutzkonzept für Menschen mit Behinderungen sollte, ausgehend von den Einblicken die im Rahmen der Interviews gewonnen werden konnten, deshalb auch auftretenden, andauernden oder wiederkehrenden Lärm und den Umgang damit thematisieren. Lärmbelastungen zu verringern oder zu verhindern, würde dabei nicht nur die in den Einrichtungen lebenden Menschen mit Behinderung entlasten, sondern zusätzlich die psychische, lärmbedingte Belastung für in der Einrichtung arbeitende Fachkräfte verringern. Außerdem zeigen die Interviews, dass nicht angenommen werden kann, dass geleistete Aufklärungsarbeit zu verwandten Themen, wie beispielsweise sexuelle Aufklärungsarbeit, von den Betroffenen mit dem Thema Gewalt in Verbindung gebracht wird. Stattdessen muss auch im Rahmen der Aufklärungs- und Präventionsarbeit direkt und offen mit Betroffenen über das Thema Gewalt und den Umgang damit gesprochen werden. Gleichsam ist es wichtig einen Zugang zu externen, von der jeweiligen Einrichtung unabhängigen, Beschwerdestellen zu gewährleisten und den betroffenen Menschen mit Behinderung einen niederschwelligen Zugang zu diesen Beschwerdestellen zu ermöglichen. Auch sollte in Schutzkonzepten das Recht auf Selbstbestimmung der in den Einrichtungen lebenden oder arbeitenden Menschen mit Behinderung betont und mit expliziten Beispielen operationalisiert werden. So sollte ein einrichtungsspezifisches Schutzkonzept auch Prinzipen enthalten, die beschreiben, wie mit Konflikten zwischen Fachkräften und Menschen mit Behinderung innerhalb der Einrichtung umgegangen wird, wie diese Konflikte thematisiert werden und welche Handlungen im Falle eines Konfliktes seitens der Fachkraft zu vermeiden sind.
Fazit
In Bezug auf die Präventionsarbeit in Einrichtungen der Behindertenhilfe können die in diesem Beitrag zitierten Quellen als Orientierung zur Entwicklung eines einrichtungsspezifischen und behinderungsspezifischen Schutzkonzeptes dienen. Jedoch ist es hierfür, nach Meinung des Verfassers dieses Beitrags, zudem unerlässlich, die Klientinnen und Klienten der jeweiligen Einrichtung selbst zu Wort kommen zu lassen und deren individuelles Gewalterleben mit in das zu erstellende Schutzkonzept zu integrieren. Ein Ansatz hierfür könnte die Durchführung von qualitativen Interviews mit Betroffen sein. Ziel der Sozialen Arbeit als Verbund einer praktisch ausgerichteten Profession und einer wissenschaftlichen Disziplin sollte es deshalb sein, vergleichbare Interviews mit größeren, aussagekräftigeren Stichproben durchzuführen und daraus einrichtungs- und behinderungsspezifische Präventionskonzepte zu entwickeln. Natürlich sollte auf diese Entwicklung immer die Evaluation der entwickelten Schutzkonzepte folgen. Hierbei sollten nicht nur die Risikofaktoren, sondern auch die tatsächlich ausgeübte Gewalt an Menschen mit Behinderungen gemessen und anhand dieser Messung die Schutzkonzepte evaluiert werden (vgl. Mikton et al., 2014). Wie bereits einleitend erwähnt wurde, ist Gewalt gegen hilfs- und pflegebedürftige Menschen auch in der gesellschaftlichen Realität unserer heutigen Zeit weit verbreitet. Diese Tatsache kann und darf sowohl in der Gesamtgesellschaft als auch von den betroffenen Institutionen nicht weiter tabuisiert werden. Es ist deshalb insbesondere eine Aufgabe der Sozialen Arbeit, diese Tabuisierung durch offenen Diskurs und Aufklärungsarbeit aufzuweichen und den betroffenen Menschen, auch unter Rücksicht auf deren besondere Vulnerabilität, eine Stimme zu verleihen und sie selbst dazu zu befähigen, ihre Stimme für sich zu erheben. Natürlich sind sowohl Gewalterfahrungen als auch Vulnerabilitäten individuell und der von einer Behinderung betroffene Personenkreis sehr heterogen. Gerade deshalb sollte es jedoch gängige Praxis sein, die betroffenen Menschen mit Behinderungen selbst zu Wort kommen und partizipieren zu lassen, um von ihrem speziellen Expertenwissen zu profitieren und zu lernen. Sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch in der alltäglichen Praxis der Sozialen Arbeit sollte es deshalb ein stetiges Ziel sein, die Abhängigkeit von Menschen mit Behinderungen zu verringern und sie dazu zu befähigen, selbst Partei für sich zu ergreifen. Eine funktionierende und umfassende Präventionsarbeit kann nur durch die Zusammenarbeit aller beteiligten Menschen, Professionen, Institutionen und Ebenen, durch den Verbund multipler Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis, gewährleistet werden.
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Autor:
Lukas Niederwieser
Staatlich anerkannter Sozialarbeiter (B.A.), Masterstudent der Sozialen Arbeit an der THWS Würzburg, seit sieben Jahren in der Behindertenhilfe tätig
E-Mail: lukas-niwi@outlook.de