Einsamkeit
Anthropologische und pädagogische Perspektiven
Die Einsamkeit ist im 21. Jahrhundert zu einem globalen Massenphänomen und damit zu einem Problem ge-worden, dem ein „Platz auf dem Dringlichkeitsniveau klassischer sozialer Probleme wie Armut, Diskriminie-rung, Gewalt, Migration und Sucht“ (Stallberg 2021) zugestanden werden muss.
Erste Annäherung: Einsamkeit und Alleinsein
Betrachtet man die philosophische, religionswissenschaftliche, soziologische und psychologische Literatur zum Thema, kristallisieren sich schnell zwei sehr unterschiedliche Verwendungen der Bezeichnung „Einsamkeit“ heraus. Um diese kenntlich zu machen, werden wir nachfolgend von Einsamkeit und Alleinsein sprechen. Ein zentrales Verbindungsstück zwischen beiden Begriffen ist, dass es sich um negative Modi der Erfahrung des Sozialen handelt. Entscheidend ist, dass ohne das Mit-Sein mit anderen und Bedeutsam-Sein für andere – ohne Zugehörigkeit, ohne die Einbindung in sinnstiftende soziale Kontexte, ohne Freundschaft und ohne Liebe – die Rede von Einsamkeit und Alleinsein bedeutungslos bleiben muss. Demnach ist Einsamkeit ein zutiefst soziales Phänomen, das „sich auf vererbte Bedürfnisse, kulturelle Forderungen und erlernte handlungsleitende Erwartungen nach Austausch, Bindung und Zusammensein“ (Stallberg 2021, 13) gründet. Dabei ist Einsamkeit begrifflich von sozialer Isolation zu unterscheiden. Soziale Isolation beruht auf einem faktischen Mangel an sozialen Kontakten und Beziehungen, ohne dass dieser Mangel unbedingt als negativ empfunden werden muss. „Viele Menschen sind gerne alleine, ohne darunter zu leiden. Umgekehrt gibt es aber auch Menschen, die einsam sind, obwohl sie von außen betrachtet ein großes soziales Netzwerk haben“ (Luhmann & Bücker 2019, 4).
Das Erleben der Einsamkeit ist durch das subjektive Gefühl eines mehr oder weniger umfassenden Verlustes von sozialer Einbindung, Zugehörigkeit und Bedeutsamkeit für andere Menschen gekennzeichnet. Weil die in diesem Sinn verstandene Einsamkeit einen existenziellen Mangel bezeichnet, handelt es sich um „ein ganz und gar negatives Gefühl“ (Stallberg 2021, 9), das häufig mit anderen Emotionen bzw. Affekten einhergeht, etwa „Verlassenheit, Furcht und Angst, Traurigkeit, Ohnmacht, Scham, Ärger und Wut, Schuldgefühl und Wertlosigkeit, Sehnsucht und Neid“ (ebd., 11). Zugleich ist Einsamkeit ein sehr komplexes und vielgestaltiges Phänomen unterschiedlicher Intensitätsgrade (von einer eher flüchtigen Anmutung unangenehmen Alleinseins bis zu einem Gefühl vernichtender existenzieller Verlassenheit) und unterschiedlicher Dauer (von einer kurzen Phase über ein Grundgefühl eines Lebensabschnitts bis hin zu einem überdauernden Lebensgefühl).
Friedrich Stallberg nennt eine Reihe von Aspekten, die in soziologischer Hinsicht wichtig sind. Zunächst einmal gilt, dass sich Einsamkeit auf der Ebene konkreter sozialer Bindungen als unzureichend, brüchig oder zurückweisend erlebte soziale Interaktion ausbildet und artikuliert. Weil einsame Menschen oft als schwierig, schwer erreichbar, zurückgezogen, ungesellig, bindungsunfähig usw. gelten, ist Einsamkeit ein Stigma oder Makel. Aus diesem Grund versuchen Menschen häufig, ihre Einsamkeit zu verbergen und eine zumindest hinreichende „Sozialtauglichkeit“ und Einbindung vorzutäuschen. Des Weiteren ist die Erfahrung von Einsamkeit auch durch gesellschaftliche Strukturen bedingt, vor allem durch soziale Ungleichheitslagen, Marginalisierung und Exklusion, deprivierende Lebensumstände, Migration usw. Seit der Jahrtausendwende ist darüber hinaus die Digitalisierung zu einem erheblichen Faktor geworden. Diese geht einerseits zwar mit einer geradezu dramatischen Steigerung von Vernetzung und Konnektivität einher, hat aber andererseits mit ihrer Dynamik zu einer erheblichen Beschleunigung, Virtualisierung und Verflüchtigung sozialer Beziehungen geführt. Hinzu kommt, dass digitale soziale Netzwerke zwar Kontaktmaschinen mit erheblicher sozialer Reichweite sind, aber auch vielfältige Möglichkeiten bieten, die Darstellung der eigenen Person und Lebenswirklichkeit durch Auslassungen und nicht den Tatsachen entsprechende Hinzufügungen zu kontrollieren – also eine Art Management des eigenen sozialen Images zu betreiben, das von kleinen Korrekturen bis hin zu massiven Manipulationen reichen kann. Deshalb schließen sich hohe virtuelle Konnektivität und Einsamkeit keineswegs aus.
Eng verbunden mit der sozialen Dimension ist die politische: „Nicht gesehen und gehört zu werden, sich selbst und der Welt entfremdet zu sein, bedeutet auch, seine Interessen nicht nach außen artikulieren und vertreten zu können, in Entscheidungen gerade auch mit Auswirkungen auf die kontaktarme Lebensführung nur Objekt und Opfer zu sein, selbst ganz alltägliche Konflikte nicht aufzunehmen und zu bestehen, in jeder Hinsicht machtlos und in seiner Würde höchst verwundbar zu sein.“ (Ebd.)
Zu den gesellschaftlich relevanten Aspekten der Einsamkeit gehört auch, dass sie mit einem nicht unerheblichen Erkrankungsrisiko verbunden ist. So uneinheitlich die Forschungsergebnisse sein mögen, lässt sich doch eine Reihe von Gesundheitsrisiken nennen, die wahrscheinlich neben anderen Faktoren auch auf die Erfahrung von Einsamkeit zurückzuführen sind: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz und kognitive Störungen, Krebserkrankungen, gesundheitsschädigendes Verhalten (Rauchen, Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum), Depression, Suizidalität, Betroffenheit von Gewalt (vgl. ebd., 20 f.). Kurz: Chronisch einsame Menschen leben schlechter und sterben früher (vgl. Spitzer 2018; Spiewak 2019, 32).
Bisher haben wir einen der beiden Modi der Einsamkeit skizziert, dessen Hauptkennzeichen es ist, dass er unfreiwillig ist und ein eindeutig negatives Gefühl erzeugt. Der andere Modus der Einsamkeit, auf den wir im Zuge unserer kleinen anthropologischen Skizze zurückkommen werden, beruht hingegen auf Freiwilligkeit. Um der begrifflichen Klarheit willen werden wir diesen Modus nachfolgend „Alleinsein“ nennen.
Anthropologische und ethische Aspekte
Schon ein recht kurzer Blick auf viele anthropologische Modelle der Neuzeit zeigt, dass Alleinsein zur Ausstattung des modernen Menschen gehört. Überspitzt formuliert: Der Mensch erscheint als solitaire (Rousseau), als subjektiv vernünftiges (Kant), sich selbst setzendes Ich (Fichte), das, allein in diese Welt geworfen (Heidegger), einsam seinen Weg der Freiheit geht (Sartre), dabei die anderen prinzipiell als Konkurrenten erlebt (Hobbes) und daher ihnen gegenüber seinen Willen zur Macht zur Geltung bringen muss (Nietzsche). Kurzum: Wir finden häufig das starke und souveräne, das freie, machtvolle, vernünftige Subjekt, das vor allem eines ist, nämlich alleine.
Beginnen wir mit denjenigen, die das Alleinsein suchen, um sich gegenüber der Verletzungsmächtigkeit der Welt in eine Nische der sozialen, ökonomischen oder spirituellen Resilienz zurückzuziehen. Die freiwillige Einsamkeit als Resilienzphänomen war schon in der Antike ein besonderes Gut (Epiktet et al. 1991, 64, 70, 72, 211, 247). Sie hilft die Seele beruhigen (Apathia) und diejenigen Leidenschaften mildern, die durch die Gesellschaft erzeugt werden (Ataraxia). Nur wer wirklich alleine sei, wer sich selbst genug sei und außer sich keinen Menschen nötig habe, könne auch gut sein. Denn im Alleinsein sei man vollkommen frei, keinerlei gesellschaftlichen und menschlichen Pflichten unterworfen. Und was wäre besser, als in absoluter Freiheit zu leben? Wer sich für das Alleinsein entscheidet, entscheidet sich dafür, nicht auf andere angewiesen zu sein. Michel de Montaigne (1989, 121) und Blaise Pascal (1997, 95) meinten jedenfalls, dass das ganze Unglück der Menschen daraus resultiere, dass der Mensch nicht alleine in seinem Zimmer bleiben könne.
Mit dem Alleinsein verbindet sich nicht nur die Idee einer asketisch-ethischen Reinheit, sondern auch die der Kontemplation und vertiefter Erkenntnismöglichkeiten. Die leitende Idee ist, dass sich grundlegende Einsichten erst in der Einsamkeit gewinnen lassen. Die Moral der im Sinne des Alleinseins verstandenen Einsamkeit kommt seit Augustinus auf dem Weg nach innen zustande, ein Weg, der einem das große Ganze erschließe. Denn der Sinn von Einsamkeit sei nicht die Zweisamkeit, sondern die Allsamkeit, was sich schon darin zeigt, dass die Einsamkeit ihre Wortbedeutung nicht vom Isolierten und Solitären, sondern von der deutschen Übersetzung der unio mystica, der Vereinigung mit Gott, erhält.
Einsiedler in der Wüste oder auf Steinen, Mönche und Nonnen hinter Klostermauern, Philosophen, die Elfenbeintürme oder Berghütten bewohnen – sie alle wissen oder behaupten, dass die Einsamkeit eine privilegierte Erkenntnissituation darstellt, in der die Idee der Ordnung des Selbst von Gott und der Welt sich endlich enthüllt (vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, 407). Dem Untergang im Chaos der Welt und dem Krieg jeder gegen jeden wird die kontemplative Beschaulichkeit eines Daseins gegenübergestellt, dem es nur um die wesentlichen Dinge im Leben geht. Die Wüste, der Berg oder das einsame Zimmer sind Orte der Verhinderung von Vulnerabilität (vgl. Sloterdijk 1993, 95).
Einsame Philosophen wandern deshalb gerne, vor allem auf Bergen. Denn aus der Sicht des einsamen Bergwanderers erscheint die Welt, so chaotisch, brutal und grausam es dort auch zugehen mag, lediglich als Miniatur des großen einsamen Geistes. Aus dem Blickwinkel der alles überblickenden Philosophie mutiert die vita activa zur vita contemplativa: Die Welt wird zum Theater und zur Bühne, dessen Treiben man auf dem einsamen Logenplatz wunderbar beobachten und kommentieren kann. Im Alleinsein kann sich der Mensch zum Urheber der Dinge aufschwingen und dem Zweck alles Sichtbaren sowie dem Ursprung aller Empfindungen nachspüren. Hier erst gelingt der Größenfantasie die Verschmelzung mit Gott und der Welt. Die Widersprüche der Gesellschaft werden auf einem immanenten Weg ausgetragen, der in seiner Immanenz zugleich transzendent ist.
Diese Perspektive finden wir in der Neuzeit in den Träumereien eines einsamen Spaziergängers, die Jean-Jacques Rousseau 1765 auf einer Insel im Bieler See beschreibt: „Diese einsamen Stunden der Betrachtung sind die einzige Zeit des Tages, wo ich völlig ich selbst bin und mir ganz ohne Ablenkung, ohne Hindernis gehöre und wo ich die Wahrheit sagen kann, ich sei das, was die Natur aus mir machen wollte.“ (Rousseau 1988, 648) Im Alleinsein gelingt es ihm, über sich hinaus und im Ganzen aufzugehen: „Ich werde unaussprechlich entzückt, verliere mich ganz in Wonne, wenn ich mit dem System der Wesen sozusagen verschmelze, mit der ganzen Natur eins werde.“ (Ebd., 721).
Dieses Gefühl, das Rousseau beschreibt, teilt Henry David Thoreau, den es 1845 in die Wildnis von Walden zieht. Er spricht von der „grenzenlosen und unbegreiflichen Freundlichkeit“, mit der die Natur ihn in seiner Einsamkeit empfängt, sodass es ihm möglich wird, jede kleine Tannennadel in sein Herz zu schließen (Thoreau 2017, 131). Kurz, der Einsame ist nicht einsam, weil er die Natur als „angenehmste und argloseste Gesellschaft“ (ebd., 130) vorfindet; es wird ihm vielmehr die Gesellschaft zu viel: „Es herrscht ein Überangebot an geselligem Verkehr. Wir begegnen einander in allzu kurzen Abständen, ohne Zeit gehabt zu haben, für den anderen an Wert zu gewinnen.“ (Ebd., 135) Dem hektischen geselligen Verkehr setzt Thoreau das gelassene Sich-Einlassen auf die Natur entgegen: „Ich bin ebenso wenig allein, wie die Königskerze oder der Löwenzahn auf der Wiese, oder ein Bohnenblatt, oder der Sauerampfer, die Schmeißfliege, die Hummel.“ (Ebd., 136). Wer zur Hummel mutiert, hat die sozialen Vulnerabilitäten transzendiert.
Fast zur gleichen Zeit wie Thoreau hat Friedrich Nietzsche – häufig in der Natur und auf Bergen wandernd – die Einsamkeit völlig anders eingeschätzt. In seinen Texten klingt eine heroische Einsamkeit an, die der Welt durch eine Fülle an Leiden abgerungen werden muss: „,der soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, der Herr seiner Tugenden, der Überreiche des Willens‘“ (Nietzsche, KSA 5, 147, Herv. d. Verf.).
Nietzsches Ideal des Einsamen entspricht dem, was wir als Alleinsein fassen. In diesem Modus der Einsamkeit ist der Mensch sich selbst alles. Demgegenüber ist der Einsame ein Nichts, weil er seine Selbst- und Weltbezüge nur in Beziehung zu anderen Menschen entwickeln kann. Der Mangel an Bezogenheit erfüllt ihn, wie wir eingangs bereits erläutert haben, mit Unbehagen, Traurigkeit und Sehnsucht, einem tiefen sozialen Hungergefühl oder sozialen Schmerz (vgl. Svendsen 2016, 25).
Formen der Einsamkeit
An dieser Stelle wollen wir nun noch einmal einen differenzierenden und über die schematisierende Unterscheidung von Einsamkeit und Alleinsein hinausgehenden Blick auf verschiedene Formen der Einsamkeit werfen: Es gibt eine metaphysische Einsamkeit, die darauf abhebt, dass wir letztlich uns selbst überlassen sind, eine epistemische Einsamkeit, die daher rührt, dass wir den anderen nicht wirklich verstehen können, eine institutionalisierte Form der Einsamkeit im Sinne der Privatheit, und eine reaktive Form der Einsamkeit, die auf Überforderung basiert. Hinzu kommen eine sich überfallartig einstellende und bald wieder verflüchtigende Einsamkeit, eine situationsbedingte Einsamkeit, die durch Veränderungen in den Lebensumständen zustande kommt, schließlich eine chronische Einsamkeit als anhaltendes Leiden aufgrund unzureichender Bindungen. Die soziale Einsamkeit lässt sich als Mangel an Integration von einer emotionalen Einsamkeit als Fehlen einer wirklich nahen Beziehung unterscheiden. Wir können über die schlechte Einsamkeit sprechen und damit über die prekären Bedingungen, die uns einsam machen (Angst, Faulheit, Hass, Hypochondrie, Hybris), oder über das Alleinsein als gute Einsamkeit, die mit Freiheit, Unabhängigkeit, Kontemplation, Harmonie und Erkenntnis einhergeht. Und schließlich kann man auch eine spezifische Einsamkeit, die etwa mit einem Verlust zu tun hat, von einer vagen Einsamkeit unterscheiden, bei der man nicht genau benennen kann, was man vermisst. Wenn es auch soziale und kulturelle Situationen gibt, die Einsamkeit objektiv wahrscheinlicher machen (Verlassenwordensein, Isolation, Gefängnis, Quarantäne), muss Einsamkeit vom subjektiven Gefühl her verstanden werden. Dieses ist wohl nirgendwo markanter, als wenn sich jemand in Gesellschaft einsam fühlt. Die Erfahrung oder das Gefühl der Einsamkeit lässt sich am stärksten nicht in Abwesenheit, sondern in Anwesenheit von anderen empfinden, für die man selbst fremd bleibt – so etwa im Kreis falscher Freunde (vgl. Zirfas 2022).
Als besonders von Einsamkeit betroffen gelten neben Hochaltrigen und Jugendlichen Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Migrationsgeschichte und Sterbende. Wie lässt sich erklären, dass sich gegenwärtig immer mehr Menschen einsam fühlen? Mögliche Indikatoren sind die Zunahme der Singlehaushalte, die immer kleiner werdenden Familien, die Kinderlosigkeit (bei einem Fünftel der Frauen und Männer) und die bereits erwähnten modernen digitalen Kommunikationstechnologien mit ihren ambivalenten Effekten. Die Behauptung, dass die Einsamkeit ein Effekt des modernen Individualismus ist, ist umstritten (vgl. schon de Tocqueville 1994, 239 f.). Andere Erklärungsmuster reklamieren die Überforderung von modernen Gesellschaften mit ihren Beschleunigungen, Konkurrenzsituationen, Abstiegsängsten und Optimierungsansprüchen oder Phänomene der Vermassung, der Mobilität, der (Neo-)Liberalisierung und Technisierung. Personale Faktoren wie Narzissmus, Depressivität oder die Ablösung des innengeleiteten durch den außengeleiteten Menschen werden ebenfalls als Ursache von Einsamkeit angeführt (vgl. Marquard 1994; Fuchs et al. 2018). Auch der sogenannte postmoderne „Nicht-Ort“, der im Gegensatz zum natürlichen oder kulturellen Ort mit Identität und Geschichte „keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit“ (Augé 1994, 121) schafft, gehört in diesen Ursachenkatalog. Wie dem auch sei, wenn Einsamkeit kein selbst gewähltes Exil und auch keine existenzielle Eigentlichkeit, sondern unfreiwilliges Alleinsein meint, dann hat sie zentral mit einem vulnerablen Nicht-anerkannt-Sein zu tun.
Vulnerabilität und Pädagogik
Einsamkeit ist in diesem Sinne ein Indiz für Vulnerabilität, weil die nötige Anerkennung ausbleibt, die für den Einzelnen so bedeutsam ist (vgl. Dederich 2019). „Es könnte keine grausamere Strafe erfunden werden, wenn so etwas physisch möglich wäre, als in die Gesellschaft entlassen zu werden und von keinem Mitglied der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Wenn sich niemand umdrehte, wenn wir kämen, antwortete, wenn wir fragten oder sich darum kümmerte, was wir machten, wenn jede Person, der wir begegneten, uns als tot betrachten und uns behandeln würde, als würden wir nicht existieren, würde in uns eine Art Wut und impotente Verzweiflung hervorquellen, und die grausamste physische Folter wäre eine Erleichterung, denn sie würde uns dazu bringen zu fühlen, wie schlimm unsere Situation auch immer sein möge, dass wir noch nicht so tief gesunken sind, dass wir niemandes Aufmerksamkeit würdig sind.“ (James, zit. in Svendson 2016, 42)
Einsamkeit kann den Menschen vulnerabel machen, weil von der anthropologischen Basis eines fundamentalen Bedürfnisses an Selbstachtung auszugehen ist. Dabei sollte man berücksichtigen, dass nur die fehlende Anerkennung schmerzt, die sich auf denjenigen bezieht, den man auch selbst anerkennt (vgl. Burghardt & Zirfas 2016). Tzvetan Todorov hat dieses Bedürfnis in zwei Stufen beschrieben: „Von den anderen verlangen wir erstens, unsere Existenz anzuerkennen (die Anerkennung im engeren Sinn), und zweitens, unseren Wert zu bestätigen (diesen Teil des Prozesses bezeichnen wir als Bestätigung)“ (1996, 100). Dementsprechend gibt es zwei Formen der Nicht-Anerkennung: die versagte Anerkennung (Entwertung) und die verweigerte Bestätigung (Verwerfung). Anthropologisch wird hier vorausgesetzt, dass Menschen erstens anerkannt werden wollen, dass sie zweitens auch geschätzt werden wollen und dass drittens das anthropologisch-ethische Paar des „Geschätzt-werden-Wollens“ und „Schätzenswert-sein-Wollens“ sich auf die gesamte Person bezieht und diese in einer besonderen Weise betrifft.
In diesem Sinne ist Einsamkeit als unterstellter Ausschluss aus der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft nicht nur schmerzhaft, sondern auch peinlich. Die Einsamen sind nicht nur die Übersehenen, sie sind auch die Verlierer*innen. Anders formuliert macht Einsamkeit physisch, sozial und emotional vulnerabel. Diese Vulnerabilität ist der Effekt aus mehreren Dilemmata: Der Einsame leidet an sozialen Beziehungen, die für ihn einerseits bedrohlich sind und die er andererseits vermisst, er leidet an emotionalen Bindungen, die für ihn einerseits zu viel und andererseits zu wenig an Nähe darstellen, er sucht nach Zeichen der Ablehnung, die er natürlich auch findet, und will dennoch von anderen anders wahrgenommen werden. Insofern lässt sich nicht nur mit Martin Heidegger (1979, 188) sagen, dass die Angst einsam macht, sondern umgekehrt sollte es auch heißen, dass die Einsamkeit Angst zur Folge hat.
Versteht man Einsamkeit als Phänomen schmerzhaft ausbleibender Anerkennung, scheint es jedenfalls schwierig zu sein, sie auf politischem und pädagogischem Wege zu minimieren. Es wird abzuwarten sein, ob England, das 2018 ein Einsamkeitsministerium ins Leben gerufen hat, damit der Minister for Loneliness der chronischen Einsamkeit in der Gesellschaft Einhalt gebieten kann, hier Erfolge aufweisen kann. So stellt sich die Frage, ob etwa in der Verbesserung sozialer Fertigkeiten, in der Verstärkung sozialer oder psychologischer Unterstützung, in der Vergrößerung des Angebots an Möglichkeiten für sozialen Umgang, in der Veränderung ungünstiger sozialer Wahrnehmung oder der Verstärkung des Vertrauens in Institutionen (chronische) Einsamkeitsgefühle reduziert werden können (Svendson 2016, 223 ff.).
Den besten Schutz gegen Einsamkeit bieten unterschiedliche Formen von Beziehungen, wobei die Forschung herausgefunden hat, dass die vier Personen im jeweiligen sozialen Netzwerk, die einem am nächsten stehen, den entscheidenden Schutz liefern; andererseits steigt die Einsamkeit, wenn man weitaus mehr Freunde hat als die ideal empfundene Anzahl (vgl. ebd., 40). „Nur eine Person mit der Fähigkeit zu Freundschaft und Liebe kann Einsamkeit fühlen. Umgekehrt ist es ebenso berechtigt zu sagen, dass nur ein Wesen mit der Fähigkeit, Einsamkeit zu fühlen, lieben oder jemandes Freund sein kann.“ (Ebd., 123) Vor dem Hintergrund, dass chronisch einsame Menschen häufig sehr hohe, ja perfektionistische Erwartungen an sich und ihre Mitmenschen haben (vgl. Flett et al. 1996), würden auch Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz helfen. Generell sind hier auch Partner:innenbeziehungen, eine gute Gesundheit und eine gute Bildung von Bedeutung. Und nicht zuletzt lässt sich auch durch Einsamkeitserfahrungen in der Natur wieder aus der Einsamkeit heraus- und zu anderen Menschen finden (Spitzer 2018, 233).
Neben der Strategie, Einsamkeit zu minimieren, gibt es die andere, die darauf abzielt, Einsamkeitsfähigkeiten zu kultivieren. Dabei sollte man Montaignes (1989, 123) Warnung eingedenk sein, dass die Kunst, „sich selbst zu gehören“, eine sehr schwierige sei. Und er weiß auch, wieso: „Gewöhnlich nehmen wir unsere Fesseln mit. Ganz frei sind wir dann nicht; wir sehen noch auf das zurück, was wir aufgegeben haben; wir denken immer wieder daran […]“ (Ebd., 121) Und so muss man sich wohl auf seinen Rat verlassen: „[M]an muß sich von dem Gemeinen in uns losmachen; von sich selbst muß man sich absperren und dadurch zu sich selber kommen. [...] Unser Leid sitzt in der Seele [...] so muß man sie auf ihr Wesentliches zurückführen und darin zur Ruhe kommen lassen: das ist die wahre Einsamkeit […]“ (Ebd., 120 f.)
Doch ist nicht die Fähigkeit zum Alleinsein „eins der wichtigsten Zeichen der Reife in der emotionalen Entwicklung“ (Winnicott 1993, 36), Ausdruck von Mündigkeit und Selbstständigkeit? Haben wir die „gute“ Einsamkeit verloren, weil wir uns aus Langeweile, Unruhe und Unsicherheit ständig mit irgendetwas beschäftigen (oder beschäftigt werden), ständig in Kontakt mit anderen stehen (deren anerkennende Likes wir erwarten), uns ständig verbessern und weiterbilden wollen (denn auch der andere schläft nicht)? Haben wir also ein Einsamkeitsproblem, weil wir zu sozial sind, weil wir ständig vernetzt, kooperativ und teamarbeitend sind? Und sollte man daher nicht die „Einsamkeitsfähigkeit“ wieder einüben und lernen (vgl. Marquard 1994)?
Schon bei Nietzsche können wir lesen: „Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: niemand lernt, niemand strebt darnach, niemand lehrt – die Einsamkeit ertragen“ (Nietzsche, KSA 3, 270). Wovon ist die Fähigkeit abhängig, mit sich selbst alleine sein zu können? Wie kann man sie einüben? Odo Marquard gibt ein paar Hinweise, die mit Humor, Bildung und Religion zu tun haben, wobei der Bildung als „Lebenskunst, auch alleine nicht allein zu sein“ (1994, 120 ff.), eine ganz besondere Bedeutung zukommt: „Bildung – das ist eine ihrer Zentraldefinitionen –, Bildung ist die Sicherung der Einsamkeitsfähigkeit.“ (Ebd., 121) Dass man sich bei dieser Sicherung wiederum an den alten Griechen orientieren kann, soll zumindest noch erwähnt werden.
Literatur
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Epiktet, Teles, Musonius (1991): Wege zum Glück. Hrsg. v. R. Nickel. München: dtv.
Fuchs, Th., Iwer, L., & Micali, S. (Hrsg.) (2018): Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
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Autoren:
Markus Dederich, Prof. Dr.
Professor für Allgemeine Heilpädagogik, Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation am Department Heilpädagogik und Rehabiltation, Universität zu Köln.
Frangenheimstraße 4
50931 Köln
Tel. +49 221-470 1965
mdederic@uni-koeln.de
Jörg Zirfas, Dr. phil.
Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie am Department für Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Universität zu Köln.
joerg.zirfas@uni-koeln.de