Ein alter Mann mit Halbglatze und weißem Haar ist am Foto zu erkennen. Er trägt eine rechteckige graue Brille. Er hat einen beige karierten Anzug an, wo ein roter Kragen eines Hemdes hervorschaut.

Foto: © privat
aus Heft 3/2023 – Im Gedenken an Otto Speck
Ferdinand Klein, Dieter Fischer

Begegnungen mit Otto Speck

1926 geboren, studierte Speck zunächst Lehramt und arbeitete als Lehrer in einer Heimschule in München für Kinder, die „schulbefreit“ waren, weil sie als „bildungsunfähig“ galten. Durch seine Dissertation zum Thema „Kinder erwerbstätiger Mütter“ lernte er die Situation der Eltern kennen und war Zeit seines Lebens solidarisch mit ihnen. An der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) war er von 1972 bis zu seiner Emeritierung 1991 Inhaber des von ihm begründeten Lehrstuhls für Sonderpädagogik. Er verfasste entscheidende Beiträge zur Sonder- und Heilpädagogik und prägte maßgeblich den Neuaufbau der Sonderpädagogik in der Nachkriegszeit. Sein gesellschaftliches Engagement war unerschöpflich, so etwa im Bereich der Frühförderung. Bis ins hohe Alter mischte er sich auch in kontroversielle Debatten ein.
Diejenigen, die ihn persönlich kennenlernen durften, sprechen von einem liebenswerten Menschen, der allen anderen Vertrauen und Zutrauen entgegenbrachte. Wir lassen im Folgenden zwei Menschen zu Wort kommen, die eng mit ihm zusammengearbeitet haben.

Ferdinand Klein

Die „Niemandskinder“ haben einen Namen

Otto Specks erste pädagogische Bewährungsprobe waren die sogenannten „Niemandskinder“, die nach Rainer Maria Rilke so genannt wurden, um ihre Verlassenheit zu charakterisieren. Ich erinnere mich an eine Vorlesung in der Münchener Hilfsschule an der Klenzestraße, bei der Otto Speck von Hansi sprach, einem 13-jährigen Schüler mit Trisomie 21, der erst seit Kurzem eine öffentliche Bildungseinrichtung besuchte. „Eines Tages gelang ihm das Wort ‚Lehrer‘. Dieser war über diesen Fortschritt hocherfreut. Der Schüler merkte dies, war seinerseits sichtlich beglückt, versuchte nun unentwegt dieses ‚Zauberwort‘, rief also immer wieder: ‚Lehrer‘, und erhielt jedes Mal die Antwort: ‚Ja, Hansi!‘. Die Blicke trafen sich jedes Mal, und jeder erlebte die Freude des anderen in diesen kurzen Augenblicken als seine Freude“ (Speck 2018, 295).

In diesem begegnenden Blick zwischen zwei Menschen erkannte Otto Speck ganz intuitiv die Ethik des anderen, die bedingungslose Verantwortung und Sorge für den Nächsten. Diese Ethik nach Auschwitz ist für Emmanuel Lévinas, dessen Familie die Nazis ermordet haben und dessen Philosophie die philosophische Reflexion der Gegenwart selbst verändert, ganz ursprünglich. Das Antlitz des anderen ruft uns in die Verantwortung, ohne zu erwarten, dass dieser andere Mensch sie auch für uns übernimmt. Der Ursprung dieser menschlichen Haltung liegt in einer Tiefenschicht, die der Reflexion und Sprache vorausgeht. Sie kommt uns aus dem Antlitz des anderen als das Unerschöpfliche und Unendliche, jenseits der Gegenständlichkeit einer Sache, entgegen. Sie nimmt uns in den Dienst für den hilfebedürftigen Menschen.

Bildungsrecht für „schulbefreite Kinder“

In Kooperation mit Eltern und der Heilpädagogin Mathilde Eller, die sich in der Bürgerbewegung „Lebenshilfe für geistig Behinderte“ im November 1958 in Marburg und 1960 in München zusammenschlossen, kämpfte er um das schulische Bildungsrecht sogenannter schulbefreiter Kinder.

Dieses Argument finden wir in Otto Specks Heilpädagogik der bedingungslosen Achtung jedes Menschen. Sie hat eine ihrer Wurzeln in seiner Biografie, die von christlichen Werten in Familie und Schule geprägt ist. Mit 17 Jahren widerstand er den Aufforderungen, der SS beizutreten. Er ging zur Kriegsmarine und erlebte schließlich den Verlust seiner oberschlesischen Heimat. Nach Gefangenschaft und einem einjährigen Abiturientenlehrgang war er bereits mit 21 Jahren Lehrer (Hilfslehrer), und ihm wurde eine eigene Klasse im Münchener Waisenhaus anvertraut.

Für Speck geht der unverfügbare Mensch in keinem System auf, das sich auf empirische Fakten und Deutungsversuche beruft. Der Mensch ist eben nicht auf bloße Kausalitäten reduzierbar und rational fassbar. „Was sich gegen die eigene rationale Reflexion sperrt, ist der Andere in seiner unvergleichbaren, unassimilierbaren, unreduzierbaren Andersheit, der meine Reflexion in Frage stellt. Die Resonanz in mir betrifft nicht nur meine Emotionalität und meine Rationalität, sondern sie ist auf eine Transformation meines Bewusstseins gerichtet, freilich nicht über irgendeine Technik des ‚Ich-denke‘; sie bewirkt vielmehr ein Sichöffnen für das Sprechen des Anderen, dem gegenüber ich mich ausgeliefert erlebe – und er sich mir. Was sich Auge in Auge ereignet, ist Transzendenz, ein ‚Denken für …‘, ein Denken über das hinaus, was ‚man denkt‘, das in ethische Verantwortung und Verpflichtung hineinreicht. Hier entsteht eine Abhängigkeit vom Anderen, durch die aber die eigene Autonomie keine Einbuße erleidet, sondern eine neue Qualität gewinnt. Das Menschsein ist vom anderen her begründet“ (Speck 2008, 24).

Nicht ein namenloses Niemandskind, sondern Hansi wird mit seinem Namen gerufen, in seinem Leben bejaht. Er spricht uns durch sein Antlitz an, wir begegnen einander. Hier nehmen wir eine menschliche Urleidenschaft wahr, die in der „Sphäre des Zwischen [...] als Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit“ (Buber 1982, 165) ihre Wurzeln hat. Dieses Zwischen ist keine „Hilfskonstruktion, sondern wirklicher Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens“ (ebd.). Hansi ruft uns in die Verantwortung zum unbedingten Handeln und er ruft uns dazu auf, für ihn Gutes zu tun. Die Resonanz in uns ist hier auf die Transformation unseres Bewusstseins gerichtet, Auge in Auge ereignet sich Transzendenz, und ein im Leiblichen verankertes Gefühl eines tiefen gemeinsamen Daseinswillens wird soziale Wirklichkeit.

Wir nehmen in der heute so verunsichernden Zeit einen Gegenentwurf zu allen selektionsorientierten Bewertungskriterien über den unverfügbaren anderen wahr und erkennen: Das eigentliche pädagogische Verhältnis ist das ethische Verhältnis zwischen den Menschen mit Behinderung mit ihren Erzieher:innen, das jedem Denken vorausgeht und sich in der konkreten Ausprägung immer wieder neu verwirklicht.

Bedingungslose Verantwortlichkeit für den Nächsten

Otto Specks tiefenhermeneutisches Erkenntnisparadigma ist im Epochenumbruch der Wissenschaft und Praxis (auf-)gegeben. Wissenschaft darf kein einsames Denken im Elfenbeinturm sein und keinen Selbstzweck haben. Forschung muss sich als elementares Denken aus der Lebenspraxis heraus legitimieren. Sie gründet in einer globalen Ethik, die über den nationalen Rahmen hinausreicht und der Menschheit dient. Diese Lebensethik macht uns die Einmaligkeit und Gleichwertigkeit aller Lebensformen bewusst. Es geht hier nicht um Maßnahmen und Regeln, sondern um Sinnerschließung, die das spirituelle Erkenntnisparadigma als Perspektive, die gerade durch ihre Besinnung auf die Vergangenheit zukunftsweisend ist, ans Herz legt.

Otto Speck hat die geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätze mit empirischer Forschung verbunden und wissenschaftliches Bemühen mit der Kraft des gütigen Herzens betrieben. Das Herz als Materialisation der Güte verstand er als eine tiefe und umfassende Menschlichkeit. Er fühlte sich mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit ihrem Schicksal und mit den Zeitverhältnissen positiv verbunden. Je stärker er dieses Verbundensein erlebte, desto deutlicher wurde das Sinnerleben für die eigene Existenz. Ihm wuchsen im Auseinandersetzen mit belastenden Faktoren, Ärgernissen und Frustrationen Kräfte zu, die aus dem tragenden Sinngrund des Seins hervorgingen. Er fand sich nie mit untätigem Erleiden ab, sondern verarbeitete das seelisch Schmerzhafte, indem er diesem einen Sinn stiftete.

Otto Speck hat in vielen Publikationen und Vorträgen eine heilpädagogische Ethik begründet und ausformuliert, die sich in der Praxis als bedingungslose Verantwortlichkeit und Sorge für den Nächsten erweisen muss. Eltern und Erzieher:innen (Pädagog:innen, Heil- und Sonderpädagog:innen), aber auch Menschen in Politik und Verwaltung sind gut beraten, wenn sie sich im sich radikal verändernden gesellschaftlichen System mit ihren individuellen und kollektiven Egoismen und Reduktionismen an den für Otto Speck unverzichtbaren Werten orientieren. Menschen, die ihr Handeln auf ihre sozial- und heilpädagogische Fachautonomie gründen, können in der Gegenwart zusammen mit anderen die Zukunft gewinnen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Verwirklichung des ethischen Prinzips der unbedingten Zugehörigkeit des anderen zur menschlichen Gemeinschaft.

Literatur

Buber, M. (1982): Das Problem des Menschen. Heidelberg: Lambert.

Klein, F. (2022): Mit Janusz Korczak die Heilpädagogik gestalten. Berlin: BHP.

Speck, O. (1956): Kinder erwerbstätiger Mütter. Stuttgart: Kohlhammer.

Speck, O. (2008): System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. München/Basel: Reinhardt.

Speck, O. (2018): Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung. München/Basel: Reinhardt.

Dieter Fischer

„Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“

Lehrer:innen hat man viele in seinem Leben – innerhalb und außerhalb der Schule. Bevor ein Mensch einem anderen zum:zur Lehrer:in wird, gehen viele bedeutsame Begegnungen voraus – auch wenn sich nicht immer alle Überzeugungen decken. So erinnere ich mich gut an den Beginn meines Sonderpädagogik-Studiums in München 1972. Ich war mit einem völlig anderen Denken dort angetreten und tat mir schwer, mich von neukantianischer Pädagogik (PH Nürnberg) zu verabschieden und mich auf ein Denken nach Paul Moor einzulassen. Prof. Speck nahm mir das am Ende nicht übel, sondern überraschte mich einige Zeit später mit einem handgeschriebenen versöhnlich-ermutigenden Brief. Völlig verblüfft war ich, als er eines Tages in „meiner“ Schule auftauchte (damals noch Pflegeanstalt Bruckberg – ca. 200 km von München entfernt) –, was er dann sogar dreimal tat, um vor Ort meine Arbeit als junger Schulleiter mit zum Teil extrem schwierigen, völlig schulungewohnten, geistig und mehrfach behinderten Schüler:innen mitzuerleben. Sie war die erste Sonderschule für diesen Personenkreis im Rahmen der Diakonie in Bayern. Umso mehr überraschte mich dann seine Einladung, nach München an die Uni zu kommen, um sein erster Assistent zu werden. Sechs Jahre arbeitete ich dort und durfte trotz zuarbeitender Tätigkeiten meinen eigenen Stil entwickeln. Selbst wenn mich dann mein Weg über das Seminar „Geistige Behinderung“ in Oberbayern an die Uni Würzburg führte, riss der Kontakt zu ihm nie ab – jeder Brief und jedes Lebenszeichen von ihm waren für mich Momente großer Kostbarkeit und Freude.

In der Dankesrede anlässlich seines 90. Geburtstags – ausgerichtet von der Universität München – zitierte Prof. Speck das „Lied des Türmers“ aus „Faust II“. „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“ meint nichts anderes, als einen Blick in die Welt zu wagen. Das Auge bleibt wichtiges Medium für denjenigen, der die Menschen sucht, der beobachtet und sich die Welt wissenschaftlich erschließen will. Sehen war für Goethe höchst bedeutsam, ihm, der nicht von der Idee, sondern von den Phänomenen ausging, um von dort aus zur Idee zu gelangen. Licht galt ihm als wesenhaft, um Zugang zur Wahrheit zu gelangen. Selbst noch im letzten Augenblick seines Lebens, an der Schwelle des Todes angekommen, bat er um „mehr Licht“. Licht war für ihn Leben und das Elixier seiner Existenz. Der Blick „nach unten“ zum behinderten Menschen zeichnet die Heil- und Sonderpädagogik Specks aus. Der Blick „nach oben“, nicht nur zur Wissenschaft, bereichert und erhellt diese. Beides miteinander zu verknüpfen, lernte ich dankbar von Prof. Dr. Speck und ich übe mich darin nach wie vor. Was für eine Bilanz eines so langen, produktiven, keineswegs nur wissenschaftlichen Lebens – verbunden mit einem wertschätzenden, aufrichtigen und tiefen Dank!

Lied des Türmers

Zum Sehen geboren,

Zum Schauen bestellt,

Dem Turme geschworen

Gefällt mir die Welt.

Ich blick’ in die Ferne,

Ich seh’ in der Näh’

Den Mond und die Sterne,

Den Wald und das Reh.

So seh‘ ich in allen

Die ewige Zier,

Und wie mir’s gefallen,

Gefall’ ich auch mir.

Ihr glücklichen Augen,

Was je ihr gesehn,

Es sei, wie es wolle,

Es war doch so schön!

Joh. W. v. GOETHE