Erfolge für Inklusion einfach aufgeben?
In Deutschland sind unlängst Entwürfe für die Aktualisierung der DIN-Normen für das barrierefreie Bauen veröffentlicht worden. Für öffentlich zugängliche Gebäude gibt es die E DIN 18040-1 und für das Wohnen die E DIN 18040-2. Doch in diesen Entwürfen vom Februar 2023 ist Erstaunliches zu lesen. Ein bundesweiter Erfolg für Inklusion aus dem Jahr 2013, den die Fachzeitschrift „Menschen.“ und die Autorin ermöglicht haben, soll mit technisch überholten ausgrenzenden Bestimmungen plötzlich wieder zunichte gemacht werden.
Im Sommer 2013 habe ich mit einer längst überfälligen Frage an die Pressestelle des Deutschen Instituts für Normung (DIN) e. V. eine längst überfällige Antwort erhalten, die einen längst überflüssigen Eiertanz im Bereich von Türschwellen und Türanschlägen beendete und endlich Klarheit schaffte. In einem Kooperationsprojekt mit der Fachzeitschrift „Behinderte Menschen“, heute „Menschen.“, wurde diese bundesweit bedeutende Antwort des DIN als Nullschwellen-Stellungnahme in der Ausgabe 3–4/2013 öffentlich gemacht. Diese Nullschwellen-Stellungnahme war der erste große Durchbruch für eine inklusive, universell designte und sturzpräventive Architektur – barrierefreie Nullschwellen an Außentüren. Seitdem müssen in ganz Deutschland alle Eingangs-, Terrassen- und Balkontüren, die nach den DIN-Normen für barrierefreies Bauen ausgeführt werden, mit barrierefreien Nullschwellen ausgestattet werden – insbesondere in allen Neubauten. Barrierefreie Nullschwellen ohne hinderliche Türanschlagdichtung können von allen Menschen mit allen Behinderungsbildern genutzt werden. Türanschlagdichtungen und Schwellen hingegen, egal ob 1 cm oder 15 cm hoch, stellen in der Architektur oftmals eine fest eingemeißelte Exklusion dar.
Ausbildungsstätten und Interessensvertretungen wären gefordert
Doch nach zehn Jahren Klarheit – dank der Nullschwellen-Stellungnahme – im Bereich barrierefreier Nullschwellen schlagen die Normen-Entwürfe u. a. wieder Türanschläge vor, die echte Barrieren darstellen. Dabei sind solche „ausgrenzenden“ Türanschläge bereits seit der Erfindung der Magnet-Nullschwelle 1996, also schon seit über 27 Jahren, an keiner Hauseingangs-, Terrassen- oder Balkontür mehr erforderlich. Bewegliche Dichtungen ersetzen seither hinderliche und unflexible Türanschlagdichtungen. Wie kann es bei einer längst in Kraft gesetzten UN-Behindertenrechtskonvention und beständigen Bestrebungen nach Inklusion zu derartigen Exklusions-Entwürfen kommen?
Aus meiner interdisziplinären Perspektive, die von Sachverstand in den Bereichen Heilpädagogik, Pflege und Architektur geprägt ist, frage ich mich, weshalb soziale und pflegerische Ausbildungsstätten sich bisher noch nicht mit der Entstehung von DIN-Normen für barrierefreies Bauen beschäftigen. Jede:r Einzelne:r kann sich beteiligen und Einsprüche erheben. Bereits die gesetzliche Definition von „barrierefrei“ fordert eine Nutzbarkeit für alle Menschen mit Behinderung (alle Behinderungsbilder sind hier gemeint) in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe. Für dieses hohe Ziel ist das Wissen aus allen beteiligten sozialen Professionen gefragt – also auch aus der Sozial-, Heil- und Sonderpädagogik, der Heilerziehungspflege, Pflege, Pflegewissenschaften, Pflegemanagement, Ergotherapie u. v. a. Wenn alle Ausbildungsstätten aus dem sozialen und pflegerischen Bereich die Entstehung und die Mitwirkungsmöglichkeiten bei den DIN-Normen für barrierefreies Bauen in den Lehrplan aufnehmen und ihr Wissen dementsprechend einbringen würden, könnte einer inklusiven Architektur rasch der Weg geebnet werden.
Aktuell vermisse ich Interessensvertretungen für Inklusion in entscheidenden Normenprozessen. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert im Artikel 4 f die Anpassung aller Normen und Richtlinien im Sinne des in der UN-BRK geforderten Universal Designs. Doch welche Ausbildungsstätte hat diese Inklusions-Aufgabe bereits in den Lehrplan aufgenommen? In entscheidenden Momenten fehlen jedenfalls die möglichen Reaktionen. In der aktuellen Entwurfsphase im Jahr 2023 gab es laut dem DIN nur ungefähr halb so viele Einsprüche wie in der vorherigen Entwurfsphase im Jahr 2009. Soll eine bereits erreichte Inklusion tatsächlich tatenlos wieder zur Exklusion werden? Dabei sind Nullschwellen nur ein Thema innerhalb des barrierefreien Bauens.
Rückbau ist schwierig
Als Heilerziehungspflegerin habe ich gelernt, mich für die Bedarfe von Menschen mit Behinderung einzusetzen, die nicht für sich selbst sprechen können, z. B. für Menschen mit einer sogenannten schwersten Mehrfachbehinderung. In meiner Praxis als Bausachverständige für barrierefreies und inklusives Bauen erlebe ich u. a., wie schwierig es sein kann, vorhandene Türschwellen zurückzubauen. Die Nullschwellen-Stellungnahme hat den Bau von technisch überholten Türschwellen, zumindest innerhalb des barrierefreien Bauens in Deutschland, beendet. Dieser Inklusions-Erfolg könnte in Lehrplänen verankert werden, als Beispiel, wie weitere Inklusions-Erfolge nach dem Artikel 4 f der UN-BRK erreicht werden können. Doch dies bedeutet unweigerlich eine Disziplinerweiterung hinsichtlich der Beteiligung bei der Entstehung von DIN-Normen.
Weitere Informationen: https://www.zeitschriftmenschen.at/content/view/full/121688