Thema der Ausgabe 3/2023:

Soziale Isolation und Einsamkeit

Eine vertraute Berührung, plötzlich strahlende Augen des Gegenübers durchbrechen die Einsamkeit.

(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Soziale Isolation und Einsamkeit

In den tiefen Schluchten der Einsamkeit ist nichts schmerzhafter als die Sehnsucht nach einer menschlichen Berührung. Einsame Menschen laufen Gefahr, sozial zu verdursten oder zu verhungern. „Es ist erwiesen, dass ein Mangel an sozialen Kontakten ein dem Hunger vergleichbares Gefühl in unserem Gehirn auslöst“, so die neueste Studie von Giorgia Silani und ihren Kolleg:innen.

Auch Jan Steffens weist darauf hin, dass soziale Isolation eine Verletzung eines biologischen Grundbedürfnisses ist. Das Gehirn wird in den Neurowissenschaften sogar als „soziales Organ“ beschrieben. Menschliche Gehirne interagieren miteinander und schwingen sich buchstäblich aufeinander ein. Daraus folgert Steffens: „Forschungen zu Exklusion täten gut daran, Räume der Exklusion auch als schwingungsarme Räume zu untersuchen und die Wirkung von Prozessen sozialer Isolation und gesellschaftlicher Ausgrenzung im Licht eines Bruches der Resonanzbeziehungen in zwischenmenschlichen Begegnungen zu betrachten.“
Kristina Kraft analysiert an einem konkreten Beispiel, wie durch die Rekonstruktion von „Isolations-Widerfahrnissen“ eine neue Kooperationsidee entstehen kann, die erlittene Ausgrenzungserfahrungen in spürbare Anerkenntnis umwertet. Bisher nicht verstehbare, gar bedrohlich wirkende Handlungsweisen eines Menschen werden als „subjektlogische Isolationskompensation“ verstanden, wodurch neue Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und Selbstermächtigung eröffnet werden.
Die Teilhabe an kulturellen Bedeutungs- und Begegnungsräumen wird nicht gefördert, wenn der Fokus auf Modifikation und Anpassung gelegt wird. Dies zeigt Julia Tierbach am Beispiel von Menschen im Autismus-Spektrum auf. „Teilhabe wird dort möglich, wo eigene Bedeutungen und die des Gegenübers als Stellungnahmen gehört und interpretiert werden“, wo die Wechselwirkung zwischen Gemein-Sinn und Eigen-Sinn ernst genommen wird.
In unseren Köpfen geistern noch immer traditionelle Ansichten herum, so Heinz Becker. „Systeme und Institutionen bringen soziale Isolation hervor, aber letztendlich sind es die in diesen Institutionen tätigen Menschen, die sie tagtäglich umsetzen.“ Wir müssen den Mut aufbringen, unser eigenes Denken und Wahrnehmen zu drehen, um andere Perspektiven einzunehmen.
Grundlegende anthropologische und pädagogische Perspektiven der Einsamkeit behandeln Markus Dederich und Jörg Zirfas. Einsamkeit ist ein zutiefst soziales Phänomen und „die Erfahrung oder das Gefühl der Einsamkeit lässt sich am stärksten nicht in Abwesenheit, sondern in Anwesenheit von anderen empfinden, für die man selbst fremd bleibt“. Einsamkeit ist ein Phänomen schmerzhaft ausbleibender Anerkennung.
„Der Körper meines Bruders Lilou wurde zu einem Käfig, jeden Tag ringt er mit diesem geistigen Käfig.“ Seine Schwester Lucie Hodiesne Darras versucht mit der Sprache der Fotografie sein Empfinden und seine Erfahrung der Welt darzustellen.
Endlich gibt es wieder ein Lebenszeichen von Willi. Seit Anfang des letzten Jahres haben wir von seiner Mutter Birte Müller nur erfahren, dass es seiner Schwester Olivia nicht gut geht. Olivia ist nun wieder gesund und Willi ist ausgezogen. Er kommt gerne nach Hause, aber er fährt genauso gerne wieder zurück in sein neues Zuhause. Seine Mutter lässt uns offenherzig an ihrer emotionalen Achterbahn teilhaben. „Das alles erzähle ich aber nur guten Freunden und anderen Eltern behinderter Kinder. Denn sie verstehen mich. Sie verstehen auch, dass ich mich dafür schäme, dass mein Kind ‚im Heim‘ ist, obwohl ich weiß, dass ich mich nicht schämen müsste. Gegenüber denjenigen, die schon seit Jahren fanden, wir hätten Willi ‚weggeben‘ sollen, gebe ich das aber nicht zu. Diesen Leuten erzähle ich weder von meinem Schmerz noch davon, wie sehr ich meine neue Freiheit genieße. Ihnen erzähle ich, dass sich Willi in seiner Gruppe sehr wohlfühlt und er viel mehr Kontakt mit Gleichaltrigen hat, dass er viel aktiver ist und sich dort auf seinem Weg ins Erwachsenenleben unabhängiger entwickeln kann. Denn auch das ist die Wahrheit.“

Josef Fragner, Chefredakteur

 

Inhalt:

Artikel
Müde vom Alleinsein
"Das hatten wir nicht erwartet"
Wo ist eigentlich Willi?
Da traf der Bär eine Ziege und sie wurden Freunde
Persönliche Assistenz für alle!
Recht auf Bildung?
Lilou
Soziale Isolation, Einsamkeit und psychische Entwicklung
Komplexe Behinderung und Isolations-Widerfahrnisse: Ein Fallbeispiel
Verhaltenstechnologien überwinden, pädagogische Begegnung schaffen
Von isolierenden Denkmustern zu teilhabenden Haltungen
Einsamkeit
Barrierefreie Gartenkunst und Städtetouren
Inklusives Schnuppertauchen
"Einsamkeit ist schwarz wie ein dunkles Loch"
Von Lebenshilfe zu "LebensGroß"
Special Olympics World Games Berlin 2023
Erfolge für die Inklusion einfach aufgeben?
Gehörlos, aber nie stumm
Die Schönen und die Hässlichen
Lebensthemen von Kindern in Märchen
Begegnungen mit Otto Speck
Neues Buch: Zukunft der Werkstätten