Zwei zellenartige Konstrukte, welche aneinander angrenzen. Die obere Zelle ist gelb mit orangen verschnörkelten Linien und kleinen weißen Punkten. Die zweite Zelle ist in der Hälfte geteilt. Die linke Seite ist gelb mit braunen ovalen Formen. Die rechte Seite ist braun mit rotbraunen ovalen Formen.

Christa Wiener, Ohne Titel, 2021, Bleistift, Farbstifte, 41,9 x 29,7 cm Courtesy galerie gugging

Foto: © Courtesy galerie gugging
aus Heft 2/2023 – Fachthema
Jan Volmer

Zartsinn in Institutionen - ein Rahmen für Zärtlichkeit

Zartsinn ist ein Begriff, der einen beim bloßen Lesen, Hören oder Aussprechen so angenehm umschmeichelt, dass man möglichst lange von ihm umgeben sein möchte. Wäre es – für die BewohnerInnen wie für die MitarbeiterInnen – nicht schön, wenn Zartsinn auch die Atmosphäre in unseren Institutionen prägen würde? Wodurch wären „zartsinnige“ Einrichtungen der Jugend-, Alten- oder Behindertenhilfe gekennzeichnet? Neben dem Sinn für die Ästhetik wäre es wohl vor allem die Kultur des Miteinanders zwischen den dort arbeitenden und lebenden Menschen, die über Wohl oder Weh des institutionellen Zartsinns bestimmen würde.

Vorbemerkungen 

Über die Bedeutung der Beziehungen zwischen Angehörigen helfender Berufe und ihren AdressatInnen ist schon viel geschrieben worden, selten jedoch aus der Perspektive von Zärtlichkeit. Mein erster Reflex: Zärtlichkeit ist kein Begriff aus dem professionellen Kontext, er klingt viel zu weich, viel zu intim, in greifbarer Nähe zur Sexualität. Zärtlich waren (und sind!) in gewisser Weise auch manche der elenden Missbrauchstäter, die in ihren Institutionen Schwächere und Hilfsbedürftige unter dem Deckmantel von Fürsorglichkeit sexuell ausgebeutet haben. Wer im Zusammenhang mit professionellen Beziehungen von Zärtlichkeit spricht, begibt sich deshalb (gerade als Mann) schnurstracks in die Schusslinie von Vorverurteilungen. Und obwohl das im Spiegel der Geschichte nur allzu verständlich ist, sollten wir die Zärtlichkeit nicht vorschnell unter Generalverdacht stellen, sondern ausloten, unter welchen Umständen sie für unsere Arbeit doch einen positiven Wert haben könnte. Wir stellen den BewohnerInnen von stationären Einrichtungen schließlich eine Welt bereit, in der sie unter Umständen jahre- oder sogar jahrzehntelang leben, gesunden, wachsen sollen – und will man sich eine Welt ohne Zärtlichkeit vorstellen? Nein, und deshalb wollen wir doch darüber nachdenken, welche Rahmenbedingungen vorherrschen müssten, damit Zärtlichkeit in Institutionen gelebt werden kann.
Gleichwohl geht diesem Nachdenken zunächst eine scharfe Abgrenzung gegenüber jeder Form der Instrumentalisierung von Zärtlichkeit voraus: Hierarchische Beziehungen tragen die Gefahr des Machtmissbrauchs in sich – als solcher ist jede zärtliche Handlung gegenüber Hilfsbedürftigen zu verstehen, die in erster Linie den Bedürfnissen der Mitarbeitenden entspringt. Unsere Profession gebietet es, dem Wohl der Menschen zu dienen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind – nicht umgekehrt. Es wäre schön, wenn hiermit nur eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen wäre, aber die Realität in Einrichtungen für behinderte, junge und alte Menschen sah und sieht manchmal anders aus. Deshalb erscheint mir diese explizite Vorbemerkung notwendig: Dieses Heft hat den Titel „Die Macht der Zärtlichkeit“, was nicht zu verwechseln ist mit „Die Zärtlichkeit der Mächtigen“.
Wo endet – gerade im Kontakt zu Menschen, die sich schwer verständlich machen und die ihre Grenzen schlecht verteidigen können – die zärtliche Hinwendung und wo beginnt die Grenzüberschreitung? Anders gefragt: Inwiefern könnte Zärtlichkeit im Rahmen unserer Profession ihren Wert entfalten, ohne dass die ihr inhärente Nähe ins Unprofessionelle oder sogar ins Missbräuchliche zu entgleisen droht? Ich denke: unter anderem dadurch, dass wir die Welt, die wir den BewohnerInnen bereitstellen und im Rahmen derer wir ihnen begegnen, mit Zartsinn gestalten. Die Institution als „Welt“ Wenn wir eine Einrichtung betreten, werden wir von ihrer Atmosphäre erfasst, und bewusst oder unbewusst wirkt diese auf uns – ob als Bewohnende, Mitarbeitende oder Besuchende. Jede Institution hat ihre ganz eigene Atmosphäre. Manche wirken kühl und sachlich, andere warm und behaglich, wieder andere leblos oder chaotisch. Wodurch wird eine solche Atmosphäre erzeugt?
Zum einen sicherlich durch die äußere Gestaltung dieser Welt: Wie sind die Räume gestaltet? Wonach riecht es? Wie ist das Essen hergerichtet? Wie ist die Temperatur? Ist es noch sauber oder schon steril? Ist es noch behaglich oder schon schmuddelig?
Dann ist da aber auch noch etwas anderes: Wie bewegen sich die Menschen in dieser Welt? Wie begegnen sie einander? Die, die dort leben, und die, die dort arbeiten: Wie reden sie miteinander? Wie blicken sie sich an? Sind die Gespräche von aufrichtiger oder nur von routinierter Freundlichkeit geprägt? Sind die Berührungen fürsorglich-liebevoller Natur oder sind es kaschierte Machtdemonstrationen? Mit solchen das Beziehungsgeschehen fokussierenden Fragen werde ich mich im Folgenden beschäftigen.
Herrscht in den Begegnungen zwischen den Mitarbeitenden und Bewohnenden insgesamt eine eher grobe oder eine eher zartsinnige Atmosphäre? Von dieser Frage dürfte es abhängen, wie wohl und wie sicher wir uns – und vor allem die BewohnerInnen sich – in dieser Welt fühlen. Der Zartsinn ist es nämlich, der eine wohlige und zugewandte Nähe anstrebt und gleichzeitig ein gefahr- und unheilvolles Zuviel an Nähe verhindert. „Zartsinn“ ist ein altdeutsches Wort für Taktgefühl, das „Gefühl für das Richtige des Augenblicks“ (NOHL 1967, zit. in PATRY 2004, 155). Im Hinblick auf seine Aufgabe als Beziehungsregulativ steht der Takt „der Empathie und Sympathie, dem erkennenden und liebenden Blick, der Anerkennung und Begegnung nahe, ist von Diskretheit und Achtung getragen und impliziert einen rücksichtsvollen und schonenden Umgang mit den Gefühlen des anderen“ (GÖDDE 2012, 213 f.). Wenn der Takt in den Begegnungen zwischen den MitarbeiterInnen und BewohnerInnen das Zepter schwingt, dann – so lässt sich nach dieser Definition behaupten – weht eine in angenehm-ruhige Stimmung versetzende und zudem völlig ungefährliche Zärtlichkeit durch die Institution. Grund genug, sich mit dem Takt zu befassen.

Annäherung an den Takt 

Takt, so die Definition des Philosophen Hellmuth Plessner, sei ein „ewig wacher Respekt vor der anderen Seele und damit die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens“ (1924, zit. in BRENNER 2012, 150). Ein „ewig wacher Respekt“ vor der Seele der BewohnerInnen von pädagogischen und pflegerischen Einrichtungen – das wäre doch schon mal ein guter Anfang!
Der Pädagoge JAKOB MUTH (1927–1993) hat den Respekt vor der anderen Seele sehr schön beschrieben: „Jenes Feingefühl, das den Taktvollen auszeichnet, ist ein Gefühl für das Du, für den Mitmenschen, für die Eigenart und das Eigenrecht des anderen Menschen, ist ein Respekt vor der letzten Unnahbarkeit des anderen.“ (1967, 15) Wir benötigen nicht nur ein mögliches feines Gespür für die Bewohnerinnen, um ihre Besonderheiten erfassen und berücksichtigen zu können, sondern auch ein Bewusstsein für ihre „letzte Unnahbarkeit“: Taktvolles beziehungsweise zartsinniges Beziehungsverhalten impliziert immer einen Rest von Distanz, der nicht überwunden werden kann, ohne das Eigenrecht zu verletzen. Insofern schließen sich zartsinniges und missbräuchliches Beziehungsverhalten aus.
Im Takt geht es, so schreiben GÜNTER GÖDDE und JÖRG ZIRFAS (2012, 15), „um Fragen der Verletzlichkeit, der Integrität und Fragilität menschlichen Lebens. In der Regel schützt der Takt davor, dem anderen zu nahe zu treten, ihn in seiner Integrität, vielleicht sogar in seiner Würde, zu beeinträchtigen und Gefühle der Beschämung zu erzeugen.“
Was hat es mit der Verletzlichkeit und der Fragilität auf sich?
Wann und wie tritt man jemandem zu nahe – oder bleibt ihm zu fern?
Wodurch könnte die Würde der BewohnerInnen beeinträchtigt und wodurch könnte sie genährt werden? Und welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Scham und Beschämung?Wenn wir uns in diese Fragen hineindenken, kultivieren wir übrigens schon ganz automatisch, ohne es zu merken, unser Taktgefühl. 

Verletzlichkeit und Fragilität 

Rufen wir uns doch zunächst in Erinnerung, wie es ist, auf Hilfe angewiesen zu sein. Wie schwach und ausgeliefert wir uns dann fühlen und was es gerade da für einen Unterschied ausmacht, wie man uns begegnet. In Momenten großer Fragilität benötigen wir den behutsamen Umgang anderer mit uns besonders dringend. Die Mitteilung des Arztes; die Versorgung einer schmerzenden Wunde durch die Pflegekraft; die Resonanz der Person, der wir uns mutig geöffnet haben – je verletzlicher wir uns fühlen, desto schärfer nehmen wir wahr, wie taktvoll oder taktlos unser Gegenüber mit uns ist. Die Menschen, mit denen wir arbeiten, sind in einer solch fragilen Situation, ansonsten würden wir ihnen an unserem Arbeitsplatz ja nicht begegnen.
Das empfindsame, verletzliche „Material“ von Menschen ist in ihrer Intimsphäre beheimatet. Zur Intimsphäre zählen der Bereich der Sexualität und des Körpers (hier insbesondere bezogen auf Nacktheit und Krankheit) sowie die geheime Gefühls- und Gedankenwelt (seelische Verletzungen und die Dinge, derer wir uns schämen oder die wir als Makel betrachten). Die Intimsphäre ist der Porzellanladen der Seele – Betreten verboten für alle Elefanten! Sie ist durch eine persönliche Grenze geschützt, die Unbefugten den Zutritt zu diesem Bereich der Persönlichkeit verwehrt. Als Ausübende helfender Berufe haben wir jedoch ein doppeltes Mandat: Wir müssen diese Grenze zur Intimsphäre der Menschen einerseits penibel achten, um nicht (versehentlich oder rücksichtsloserweise) grenzüberschreitend zu sein. Gleichzeitig müssen wir uns aber mit dieser Intimsphäre auch befassen, denn das hier lagernde „Material“ ist in der Regel der Grund, weswegen der Mensch auf unsere Hilfe angewiesen ist. Das bedeutet für uns: Wir müssen diesen Porzellanladen betreten, nur dürfen wir uns dort nicht so bewegen wie der sprichwörtliche Elefant – sondern behutsam und vorsichtig. Diese Balance zwischen Achtung der persönlichen Grenzen auf der einen und der Beschäftigung mit der Intimsphäre auf der anderen Seite gelingt nur dem/der Taktvollen. Eine Institution, die sich und Ihre Mitarbeitenden in diesem Balanceakt nicht beständig übt, wird das Attribut „zartsinnig“ hingegen nicht verdienen. 

Zu nahe kommen und zu fern bleiben 

Eines der meistdiskutierten Themen der Pädagogik betrifft die Regulation von Nähe und Distanz. Dabei wird stets die durchaus berechtigte Forderung erhoben, dass die Beziehung seitens der Helfenden „angemessen“ zu gestalten sei, wobei den AdressatInnen dieser Forderung jedoch selten eine Definition von Angemessenheit mit an die Hand gegeben wird. Das hat maßgeblich damit zu tun, dass Angemessenheit in Beziehungen eine hochgradig individuelle Angelegenheit ist, die sich schwerlich fixieren lässt. Der von mir als Beziehungsregulativ gepriesene Takt ist so etwas wie ein „Sinn für Angemessenheit“ und „der Geschmack für den besonderen Fall“ (GADAMER 1990, zit. in Zirfas 2012, 169): Mit seiner Hilfe soll das Kunststück gelingen, den jeweils individuell passenden Abstand herauszufinden. Gleichwohl muss hierfür das Begriffspaar von Nähe und Distanz zunächst genauer untersucht werden.
Mit Nähe und Distanz wird sprachlich ein räumlicher Abstand markiert. Bezogen auf zwei Menschen hieße das, dass sie sich nahe sind, wenn sie eng aufeinanderhocken. Allerdings kann man sich jemandem auch dann nicht nahe fühlen, wenn man seit zwanzig Jahren im gemeinsamen Ehebett schläft. Man ist sich dann zwar räumlich nahe, diese Nähe spiegelt sich aber auf emotionaler Ebene nicht zwangsläufig wider. Räumliche und emotionale Nähe gehen also nicht immer einher, manchmal verhindert die permanente räumliche Nähe sogar die emotionale Nähe. Dem Ehepaar täte es vielleicht gut, sich räumlich etwas voneinander zu entfernen, um sich emotional wieder näherkommen zu können. Umgekehrt droht die emotionale Nähe verloren zu gehen, wenn nicht immer wieder körperlich-räumliche Nähe hergestellt werden kann.
Nähe und Distanz haben als Begriffspaar für die Bestimmung der Vertrautheit zwischen zwei Menschen also verschiedene Ebenen, die miteinander verwoben sind: die körperliche, emotionale und geistige Ebene. Als „angemessen“ ist das Maß zu bezeichnen, wenn Nähe und Distanz auf und zwischen den verschiedenen Ebenen sorgsam austariert werden. Im professionellen Kontext droht ein Zuviel an Nähe, wenn auf keiner Ebene Distanz gehalten wird, und es droht umgekehrt ein Zuviel an Distanz, wenn es auf keiner der Ebenen Nähe gibt.
Mit Nähe und Distanz wird zudem kein statisches Maß beschrieben, das es einmal herzustellen und dann beizubehalten gelte. Mit zunehmender Vertrautheit wird sich das Maß an Nähe vermutlich steigern, gleichwohl aber gilt es auch in vertrauten Beziehungen, nach Phasen größerer Nähe wieder Distanz herzustellen, ansonsten wird aus der angenehmen Nähe eine unangenehme Enge. Ohnehin ist Nähe nicht per se positiv und die Distanz nicht per se negativ. Missbräuchliche Beziehungen enthalten viel Nähe, sind aber toxisch. Sachliche Beziehungen enthalten viel Distanz, beinhalten aber die Sicherheit, dass die Grenzen geachtet werden. Ich habe versucht, diese Komplexität in einem Schaubild übersichtlich zusammenzufassen (Abb. 1).Der grüne Bereich innerhalb des kolorierten Streifens ist der Bereich der freundlichen, angemessenen Nähe respektive Distanz. Freundlich deshalb, weil das hergestellte Maß dem Wohl der BewohnerInnen dient und nicht – wie im feindseligen Bereich – in erster Linie dem Bedürfnis des Mitarbeitenden entspringt. Es gilt, das Potenzial des gesamten freundlichen Bereichs auszuschöpfen – in Abhängigkeit davon, was unser Mitmensch im Moment gerade benötigt: Mal braucht er viel Raum für sich (und damit Distanz von uns), mal braucht er unsere Nähe. Und natürlich gibt es Menschen, die insgesamt mehr Nähe oder mehr Distanz für ihr Wohlbefinden benötigen. Letztlich sind es das „Gefühl für das Du“ und das „kluge Gefühl für das Richtige des Augenblicks“ – demnach das Taktgefühl –, das unsere genaue Positionierung im Bereich der Angemessenheit bestimmt.
Zartsinnig nenne ich eine Institution, die Sorgfalt und Mühe aufwendet, um das angemessene Maß an Nähe und Distanz zu den betreuten Menschen in jedem Einzelfall und zu jeder Zeit neu zu ermitteln.

 Die Würde des Menschen ist unantastbar

 Der Begriff der Würde nimmt an verschiedenen Stellen der Gesetzgebung und der Menschenrechtskonventionen einen prominenten Rang ein – und findet ferner Verwendung in zahlreichen Sonntagsreden. Manchmal ist er auch in konzeptionellen Ausarbeitungen von sozialen und medizinischen Einrichtungen zu finden, selten aber wird der Begriff konkret und praxistauglich ausdifferenziert. Im Hinblick darauf erscheinen mir zwei Aspekte von Würde von besonderer Bedeutung: Zum einen ist Würde eng mit dem Erfahren von Selbstbestimmung verknüpft, zum anderen ist Würde, dem Schweizer Philosophen PETER BIERI (2015) zufolge, „eine Art zu leben“, und in diesem Kontext eben auch eine Art, sich zu begegnen. Da der Takt nun verhindern soll, dass die BewohnerInnen unserer Institutionen „in ihrer Würde beeinträchtigt“ werden, sollten wir den Begriff unter diesen beiden Aspekten näher beleuchten. 

Würde und Selbstbestimmung 

Kein selbstbestimmtes Leben mehr führen zu können, wird von manchen Menschen als derart gravierende Beeinträchtigung der Würde empfunden, dass sie ihrem Leben lieber ein Ende setzen wollen, als fremdbestimmt zu leben. Die Menschen in unseren Einrichtungen jedoch sind aufgrund ihres Alters oder ihrer Beeinträchtigungen in ihrer Selbstbestimmung ohnehin massiv eingeschränkt, weil sie ohne fremde Hilfe ihr Leben nicht bewältigen könnten. Hinzu kommt, dass sie sich den institutionellen Abläufen fügen müssen, sie müssen z. B. zu vorgegebenen Zeiten essen. Es kann also nur darum gehen, ihnen zur Wahrung ihrer Würde unter diesen erschwerten Bedingungen ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung zu ermöglichen. An dieser Stelle gibt es einen größeren Spielraum, der von der Einforderung und dem Goutieren von Gehorsam und Anpassungsleistungen bis zum Anerkennen und Kultivieren des Eigensinns reicht. Müssen sich die BewohnerInnen tatsächlich unbedingt all den institutionellen Gegebenheiten und Regeln fügen? Gibt es nicht auch Möglichkeiten, ihrem Selbstbestimmungsdrang und Eigensinn etwas mehr Raum zu lassen?
Vergegenwärtigen wir uns bitte einen Moment lang, dass unsere Aufgabe nicht in erster Linie darin besteht, die BewohnerInnen in unseren alltäglichen Ablauf „einzufügen“, sondern darin, in erster Linie ihrem Wohl und ihrer Entwicklung zu dienen. Das hat natürlich weitreichende Implikationen und ich höre schon die Einwände, dass die strukturellen Bedingungen (Zeit- und Kostendruck, Personalmangel) eine solche Arbeitsweise nicht zuließen! Doch anstatt reflexhaft auf die Bedingungen zu verweisen (die ja ohne jeden Zweifel vielerorts wirklich katastrophal sind), halten Sie doch bitte einen Moment lang inne und fragen Sie sich, welchen Bedürfnissen, Eigenarten und Schrullen Ihrer BewohnerInnen Sie vielleicht dennoch mehr Raum geben könnten – auch wenn „das nervt“. Sie könnten damit einen Beitrag zur Wahrung ihrer Würde leisten. „Warum haben wir die Lebensform der Würde erfunden? Worauf ist sie eine Antwort? Der Gedanke, der sich dabei langsam herausbildete, lautet: Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets gefährdet – von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten. Es gilt, unser stets gefährdetes Leben selbstbewusst zu bestehen“ (BIERI 2015, 15, Herv. im Original).
Die Frage nach der Würde ist eine Frage danach, wie wir miteinander und mit uns selbst umgehen wollen, um das Leben im guten Sinne zu meistern. Diese Lesart von Würde halte ich für unmittelbar relevant im Hinblick auf die Frage nach einer angemessenen – zartsinnigen – Beziehungsgestaltung.

Würde als Erfahrung, wie man von anderen behandelt wird 

UDO BAER und GABRIELE FRICK-BAER (2009) benennen in ihrem Buch „Würde und Eigensinn“ vier Geißeln, die zu einem Verlust der Würde führen können: die Gewalttätigkeit, die Erniedrigung, die Missachtung und die Beschämung.
Mit der Gewalt und der Erniedrigung müssen wir uns nicht lange beschäftigen: Wer mit Worten oder Taten niedergemacht wird oder Schikanen ausgesetzt ist und dabei keine Unterstützung erhält, sich zu verteidigen, der erlebt sich in seiner Hilflosigkeit und vermeintlichen Nutzlosigkeit früher oder später als wert- und würdelos.
Die Missachtung ist eine Geißel, deren entwürdigender Charakter sich im Gegensatz zur Gewalttätigkeit und Erniedrigung jedoch nicht auf Anhieb erschließt. Das Instrument des Ignorierens kommt in helfenden Beziehungen nicht selten als Strafe zum Einsatz: Der Entzug von Zuwendung und Aufmerksamkeit durch eine Person, mit der ein Mensch in einer emotional bedeutsamen Beziehung steht, wird nicht selten als Existenzbedrohung erlebt – ich existiere scheinbar gar nicht mehr. Im Ignorieren verweigert ein Mensch dem anderen die Begegnung. Dabei entsteht „eine Ohnmacht wie bei einem, der in eine tote Leitung hineinruft: ‚Hört mich denn niemand?‘“ (BIERI 2015, 102). UDO BAER und GABRIELE FRICK-BAER betonen, dass Würde zwingend Resonanz benötigt: „Würde setzt voraus, dass man sich in den Augen, den Worten und im Verhalten des anderen gespiegelt sieht. Fehlt dies, greift man in seinem Erleben ins Leere, wird man selbst leer, wird der Würde der Boden entzogen.“ (2009, 17)
Die vierte Geißel schließlich, die Beschämung, untergräbt die Schutzfunktion der natürlichen Scham: „Scham ist die Hüterin der menschlichen Würde“, betont der Psychoanalytiker LEON WURMSER in seinem Buch „Die Maske der Scham“ (1997). Durch eine boshafte Beschämung von außen wird der Schutz eingerissen, der das Innerste vor der Bloßstellung bewahrt – mit der Folge, dass die Würde verloren gehen kann. Auch die Beschämung ist ein „bewährtes“ pädagogisches Mittel, eine Veränderung des Verhaltens zu erzwingen. Ein beschämter Mensch fühlt sich dann – was vom Beschämenden auch so intendiert ist – klein und minderwertig.
Es ist wichtig, eine Unterscheidung zwischen Scham und Beschämung zu treffen: Scham ist eine natürliche Reaktion auf eine ungewollte Entblößung. Sie tritt auf, wenn etwas Inneres, was als geheim und schützenswert empfunden wird, ans Licht der Öffentlichkeit gerät. Wir fühlen uns auf eine uns unangenehme Weise gesehen, ertappt. Wenn wir uns schämen, sehen wir uns in diesen Momenten durch die Augen der anderen und befürchten, vor diesen Augen nicht zu bestehen oder uns sogar der Lächerlichkeit preiszugeben. Scham kann sehr unangenehm oder sogar peinigend sein, hat in ihrem Kern aber dennoch die positive Funktion, die Würde zu schützen: „Die natürliche Scham ist eine Funktion des Intimen Raums, eine Wächterin der Grenze des Intimen Raums“ (BAER und FRICK-BAER 2008, 19). Anstatt also bei Auftreten von Scham vorschnell zu beteuern, dass sich der Mensch „doch nicht zu schämen brauche“, machen wir uns zunächst klar, dass er sich gerade in seiner Würde bedroht fühlt.
Wem die Blicke und die Bewertungen der anderen gleichgültig sind oder wer erst gar nicht die Perspektive der anderen auf sich beachtet, der wird als schamlos bezeichnet. Die Schamlosigkeit begegnet uns in der Arbeit mit Menschen, die in ihrem Leben oft beschämt wurden und die in Institutionen leben müssen, häufig: Sie geben sich anderen vollkommen preis, behalten kein Geheimnis mehr exklusiv für sich selbst zurück. Sie haben keinen intimen Raum. Das verweist auf ihre beeinträchtigte Würde und sollte uns zu Überlegungen veranlassen, wie sie einen intimen Raum für sich erfahren könnten. 

Würde als eine Art, andere Menschen zu behandeln 

Wie sieht nun eine würdevolle Behandlung anderer Menschen aus? BAER und FRICK-BAER (2009, 31 f.) unterscheiden drei Formen von Resonanz, die die Würde wachsen und gedeihen lassen: Die erste ist die nährende Resonanz, die im anerkennenden Wahrnehmen des Gegenübers sowie im spürbaren Interesse an diesem liegt. Die zweite Form ist die spiegelnde Resonanz, die im Wesentlichen aus ehrlichen Rückmeldungen besteht: „[w]eder verachtende noch abwertende Rückmeldungen, weder süßen Honig noch feige Schönrederei – sondern Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit“ (ebd., 32). Respektlos ist es hingegen, den BewohnerInnen zum Zwecke einer vermeintlichen Selbstwertsteigerung „Honig um den Bart“ zu schmieren, während ihr Selbsterleben doch von Gefühlen der Schwäche und Minderwertigkeit geprägt ist. Die Menschen, mit denen wir arbeiten, müssen nicht vor allem gelobt, sondern in erster Linie gesehen werden. Es geht dabei um die Anerkennung ihres Seins und natürlich auch ihrer echten Leistungen. Die schönen Worte dürfen nicht als Mittel zum Zweck eingesetzt werden, sondern sollten fein auf das Gegenüber abgestimmt und wohldosiert sein. Der Erwerb dieser Kompetenz setzt jedoch, wie zuvor erwähnt, ein ernsthaftes Interesse an der Person voraus, denn nur den Menschen, den ich wirklich sehe, kann ich aufrichtig für etwas loben oder bewundern.
Die dritte Form der Resonanz besteht nach BAER und FRICK-BAER darin, den anderen ein echtes Gegenüber zu sein. Sie sind es wert, dass ich mich auf die Begegnung mit ihnen einlasse, mich mit ihnen auseinandersetze und dabei vielleicht auch mit ihnen streite. Sie sind Menschen wie auch ich einer bin. Im „Miteinander-Mensch-Sein“ vergesse ich meine Rolle als Helfende/r nicht, aber ich verstecke mich auch nicht hinter ihr. Durch die wechselseitige Resonanz entsteht das, was man eine Begegnung nennt. In Begegnungen wirkt das, was zwischen zwei Menschen geschieht, auf beide zurück. Das Gesagte oder Geschehene verhallt nicht, sondern erzeugt im Inneren ein Echo. Man kennt es aus manchen Gesprächen – mögen deren Inhalte vermeintlich auch noch so tiefsinnig sein –, dass man lediglich Worte wechselt oder sich auch nur als Empfänger von Worten fühlt. Wir antworten vielleicht dennoch auf Fragen, die uns unser Gegenüber stellt, aber wir antworten nicht von Herzen, nicht aus dem Wunsch heraus, dem anderen zu begegnen – sondern vielleicht nur aus Höflichkeit oder um auf einer Party nicht alleine herumzustehen. Hier findet aber, anders als bei einem resonanten Austausch, keine Begegnung statt, die einen Beitrag zur Würde leisten könnte. 

Die Sphäre, die der Takt erzeugt 

Welche heilsamen und entwicklungsförderlichen Bedingungen entstehen nun unter der Regie des Taktes? Ich stelle mir vor, ich beträte einen „Raum des Taktes“ – und wünsche mir, dass die BewohnerInnen unserer Einrichtungen ähnliche Empfindungen haben (vgl. VOLMER 2019, 142 ff.):
Vor allem vermag der Takt eine Sphäre zu schaffen, in der ich mich sicher und wohl fühle.
Sicherheit empfinde ich, weil ich meine Grenzen gewahrt weiß und ich keine bösen Überraschungen zu erwarten habe. Ich bin mir sicher, dass mir niemand zu nahe kommt. Wenn ich den Raum betrete, werde ich wahrgenommen und ich spüre echtes Interesse – aber keine Neugier. Was ich erzähle, wird gehört, und wenn ich von meinen Verletzungen berichte, wird mitgefühlt. Niemand lacht mich wegen meiner Ängste aus. Man scheint, zu meiner Überraschung, davon auszugehen, dass ich ein wertvoller Mensch bin.
Ich fühle mich wohl, weil mich hier niemand bedrängt, niemand lärmt und niemand hektisch ist. Diese Ruhe und Freundlichkeit tun mir gut. Außerdem ist es schön in diesem Raum, er wurde mit Sorgfalt und Liebe eingerichtet. Es schmeichelt mir, dass sich offenbar jemand Mühe gemacht hat, damit ich mich hier wohlfühlen kann.
Mein Sicherheits- und Wohlgefühl erlaubt mir, immer mehr aus mir herauszugehen: Ich gebe Dinge preis, die ich bislang für mich behalten habe. Ich zeige Gefühle, die ich bislang zurückgehalten habe. Ich werde immer sichtbarer. Die anderen sind nicht immer einverstanden mit meinen Ansichten und meinen Taten, aber der Respekt vor meiner Person geht nicht verloren. Die anderen sind ehrlich zu mir, das ist nicht leicht auszuhalten, aber ich verliere nie mein Gesicht. Auch dann nicht, wenn ich ganz offensichtlich im Irrtum war. 

Schlussbemerkungen 

In einer zartsinnigen, den BewohnerInnen zärtlich zugewandten Institution wird deren Eigensinn zunächst einmal anerkannt, ihm nach Möglichkeit Raum gegeben, und im Idealfall wird dieser sogar kultiviert. In helfenden Beziehungen haben Beschämung, Missachtung und Erniedrigung keinen Raum – wohl aber spiegelnde und nährende Resonanz sowie die Begegnung von „Mensch zu Mensch“ statt nur von „MitarbeiterIn zu BewohnerIn“. Vielleicht kann jeder Mitarbeitende in der Ausübung seiner Tätigkeit quasi in Dauerschleife die Frage mitdenken: „Nährt das, was ich hier gerade tue oder sage, die Würde der Bewohnerinnen oder schadet es ihr?“
Zugegeben, manche Einrichtungen sind weit von der Sphäre entfernt, die mit „zartsinnig“ umschrieben werden kann – andere wiederum kommen diesem Ideal schon recht nahe. Eine größere Nähe im Miteinander erlebe ich dort, wo ein taktvoller Umgang gepflegt wird. Gleichzeitig erlebe ich dort einen größeren Respekt vor der Selbstbestimmung der BewohnerInnen. Hier beweist die taktvolle Nähe im Übrigen die Richtigkeit der nur scheinbaren Paradoxie, dass Nähe auch dadurch entstehen kann, dass Distanz gewahrt wird.
Der Takt bildet ein distanzierendes Regulativ zu der Intimität, die in der Zärtlichkeit enthalten ist. Insofern gewährleistet taktvolles Handeln, dass die zärtliche Zuwendung vom Empfangenden ohne Angst genossen wird. Dann tut Zärtlichkeit uneingeschränkt wohl und entfaltet gerade in vulnerablen Zeiten eine machtvolle Wirkung. Streben wir danach! 

Literatur 

Baer, U. & Frick-Baer, G. (2008): Vom Schämen und Beschämtwerden. Weinheim/Basel: Beltz.
Baer, U. & Frick-Baer, G. (2009): Würde und Eigensinn. Weinheim/Basel: Beltz.
Bieri, P. (2015): Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. Frankfurt a. M.: Fischer.
Brenner, A. (2012): Der richtige Abstand. Takt trumpft Ethik. In: Gödde, G. & Zirfas, J. (Hg.), Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie. Bielefeld: transcript, 147–164.
Gödde, G. (2012): Takt als emotionaler Beziehungsregulator in der Psychotherapie. In: Gödde, G. & Zirfas, J. (Hg.), Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie. Bielefeld: transcript, 213–246.
Gödde, G. & Zirfas, J. (Hg.). (2012): Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie. Bielefeld: transcript.
Muth, J. (1967): Pädagogischer Takt. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Patry, J.-L. (2004): Der Pädagogische Takt – Brücke zwischen Theorie und Praxis. Ein Essay. In: Bucher, A. A. (Hg.), Erziehung – Therapie – Sinn. Münster: Lit Verlag, 145–168.
Volmer, J. (2019): Taktvolle Nähe. Vom Finden des angemessenen Abstands in pädagogischen Beziehungen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Wurmser, L. (1997): Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin: Springer.
Zirfas, J. (2012): Pädagogischer Takt. Zehn Thesen. In: Gödde, G. & Zirfas, J. (Hg.), Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie. Bielefeld: transcript, 165–188. 

Autor: 

Jan Volmer, Dr. phil., ist Diplompädagoge sowie Systemischer Therapeut (SG) und Supervisor (DGSF). Er arbeitet inzwischen freiberuflich als Paartherapeut, Supervisor und Coach in eigener Praxis in Essen sowie als Trainer für verschiedene Weiterbildungsinstitute, hier besonders in den Bereichen „Traumapädagogik“, „Systemische Therapie“ und „Professionelle Beziehungsgestaltung“. Zuvor war er viele Jahre in Kliniken und in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen tätig.Homepage: www.reflexionsraeume.de
E-Mail: kontakt@reflexionsraeume.de