Zärtlichkeit und Komplexe Behinderung
Bedeutung und Möglichkeiten eines anderen Blickwinkels
Menschen mit Komplexer Behinderung erfahren vielfach Ausgrenzung und werden nicht als Gesprächspartner und -partnerinnen auf Augenhöhe wahrgenommen. Es fehlt ein freundschaftlicher Umgang, der die Äußerung von Bedürfnissen und die Erfüllung von zwischenmenschlichen Beziehungen ermöglicht. Durch Begegnungen mit Zärtlichkeit im Sinne einer respektvollen, zugewandten und liebevollen Haltung können Chancen entstehen, in einen Dialog zu treten und einen Beitrag zur (gesellschaftlichen) Teilhabe der Personengruppe zu leisten.
(Komplexe) Behinderung
Behinderung ist eine Zuschreibung, die eine äußerst heterogene Personengruppe umfasst. Die Vorstellung des Unvollständigen (vgl. SCHILDMANN 2007), die sich vor allem an körperlicher Vollständigkeit als verbindendem gesellschaftlichen Merkmal aller Menschen orientiert, scheint vorherrschend zu sein. Daraus kann eine vorschnelle Folgerung von „Behinderung“ als individueller Problemlage resultieren, die somit aus der gesellschaftlichen in eine individuelle Verantwortlichkeit transferiert wird. Darüber hinaus ergeben sich negative Konsequenzen für die individuelle Identitätsentwicklung, indem Chancen und Perspektiven, den eigenen Körper positiv wahrzunehmen, stark eingeschränkt werden (vgl. REISS 2007, 52 f.). Das betrifft vor allem Menschen, denen eine Komplexe Behinderung zugeschrieben wird, da sie in ihrer gesellschaftlichen wie auch privaten Teilhabe stark von anderen Personen abhängig sind – BARBARA FORNEFELD beschreibt die Personengruppe wie folgt: „Es sind Menschen, die aufgrund ihrer physischen, psychischen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen den Selbstbestimmungs- und Integrationserwartungen des Systems nicht entsprechen“ (2020, 97). Das kann dann wiederum zu „deprivierenden Lebensumständen“ (ebd.) führen, in denen Ansprache und Zuwendung fehlen.
Teilhabe an Gesellschaft
Die Zuschreibung einer Komplexen Behinderung kann Lebensbedingungen und Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung entscheidend beeinflussen und limitieren, wenn z. B. altersgemäße Erfahrungen aufgrund von Barrieren und fehlender Assistenz nicht erworben werden. Diese Ausschlussmechanismen sind lebensbegleitend ab dem Zeitpunkt der Zuschreibung der Behinderung. Wenn sich insbesondere Ausschlüsse aus dem Bildungssystem und dem Arbeitsmarkt langfristig finanziell, aber auch sozial und individuell bemerkbar machen, stellen Ausschlüsse aus sozialen Beziehungen (zu Freunden und Freundinnen sowie Partnern und Partnerinnen) einen tief greifenden Einschnitt in das Selbsterleben und das Sein mit anderen dar.
Die Beziehung zu Freunden und Freundinnen ist der erste Schritt zur Unabhängigkeit von Eltern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen. Es wird eine individuelle und aktive Wahl getroffen, sich mit einem oder mehreren anderen Individuen zu treffen und mit ihnen zu kommunizieren. Geheimnisse, Wünsche und Gedanken, die insbesondere Eltern nicht erfahren sollen, können geteilt werden. Durch diesen Aufbau neuer Beziehungen zu anderen besteht auch die Gelegenheit, sich so zu präsentieren, wie es den eigenen Wünschen entspricht, und sich damit ein Stück weit neu zu finden. Durch Freunde und Freundinnen kann die Erfahrung der Zugehörigkeit gemacht und Zuneigung erlebt werden (vgl. WIERTZ 2020, 8).
Eine weitere Form der verantwortungsvollen Beziehung sind romantische und/oder sexuelle Beziehungen, deren Aufnahme nach Vorstellung der Mehrheitsgesellschaft zum Lebensentwurf (junger) Erwachsener dazugehört. Menschen mit Komplexer Behinderung werden in dieser Vorstellung eines Erwachsenenlebens nicht mitgedacht – Möglichkeiten zum Erleben von Liebe und Sexualität bleiben gering, trotz der Tatsache, dass sexuelle Bedürfnisse unabhängig vom Ausprägungsgrad der Behinderung bestehen können. Denn: Es gibt keine grundlegende Unterscheidung von Sexualität und sexuellen Bedürfnissen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Während der Pubertät können sich jedoch Unterschiede zwischen psychischer und physischer Entwicklung zeigen (vgl. ORTLAND 2020, 136). Diese Diskrepanzen können wiederum zu gesellschaftlichen Missverständnissen und damit zu sexualfeindlichen Lebensbedingungen für Menschen mit Komplexer Behinderung führen (vgl. KLAMP-GRETSCHEL 2019, 674 f.). Zärtlichkeit Begrifflichkeiten unterliegen historischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen und verändern dadurch ihre Bedeutung. Ein Beispiel dafür ist „Zärtlichkeit“. Aktuell wird Zärtlichkeit meist als körperliche Annäherung und Liebkosung verstanden oder, wie der Duden es beschreibt, als „starkes Gefühl der Zuneigung und als damit verbundener Drang, dieser Zuneigung Ausdruck zu geben“ . In früherer Zeit wurde Zärtlichkeit eher als Ideal im Umgang mit Freunden und Freundinnen aufgefasst, der Gedanke lässt sich weiter zurückverfolgen zu einem Verständnis des Begriffs als Kombination aus Zuneigung, Fürsorge und Dankbarkeit, die sich von Leidenschaft als Teil von sexuellen und/oder Liebesbeziehungen abgrenzt (vgl. MEYER-SICKENDIECK 2014, 212). Zärtlichkeit liefert damit eine Einstellung und Grundmotivation für die Begegnung mit anderen Menschen, die durch diese Einfärbung nicht gewalttätig sein kann (vgl. KURT 2021a, 15). Kurt entwickelt dazu das Konzept der „radikalen Zärtlichkeit“:
„Radikale Zärtlichkeit bedeutet, einen Menschen zu benennen, wie er benannt werden will. Radikale Zärtlichkeit bedeutet, im Rahmen meiner Möglichkeiten meiner Verantwortung nachzukommen, mir und meinem Gegenüber einen Sprachraum zu bieten, der es uns beiden ermöglicht, uns in unserer Verschiedenheit und Gemeinsamkeit anzuerkennen und zu erfahren. Und so wirklich füreinander da zu sein.“ (KURT 2021b, o. S.)
Chancen durch Zärtlichkeit
Im Umgang mit Komplexer Behinderung bietet Zärtlichkeit eine Chance auf mehr Teilhabe und die Annäherung an Gleichberechtigung für Menschen mit Komplexer Behinderung, wenn Zärtlichkeit als ein gefühlvoller und gleichzeitig respektvoller Umgang von Menschen miteinander verstanden wird.Im Mittelpunkt steht die Zuneigung, der man Ausdruck verleihen möchte, dazu gehören jegliche Formen von Unterstützung und Zugewandtheit, die zur Begegnung auf Augenhöhe führen: Menschen, die man mag, versucht man zu unterstützen und in ihren Wünschen und Plänen zu begleiten. Insbesondere für Menschen mit Komplexer Behinderung kann es aufgrund gesellschaftlicher Barrieren schwieriger als für Menschen ohne Behinderung sein, ihr Leben selbstbestimmt oder zumindest selbstbestimmter zu gestalten. Zärtlichkeit kann in diesem Zusammenhang bedeuten, dass sie durch Personen, denen sie wichtig sind, empowert und auf ihrem Weg zur selbstbestimmten Lebensführung begleitet werden. Es lässt sich eine Verallgemeinerung auf die Personengruppe aller Menschen mit Behinderung vornehmen: Indem ihnen mit Zärtlichkeit begegnet wird (im Sinne freundschaftlicher Zärtlichkeit nach historischem Verständnis), werden sie als Individuen mit Bedürfnissen und Rechten anerkannt.AXEL HONNETH (2007) formuliert drei Stufen der Anerkennung – Liebe, Recht und Wertschätzung:
„Liebe“ existiert zuerst zwischen Eltern und Kind, indem sich beide Parteien als liebend und emotional involviert begreifen (vgl. HONNETH 2007, 34). Zunächst besteht die Beziehung aufseiten des Kindes vor allem aus dem Bedürfnis nach lebensnotwendiger Zuneigung heraus, die sich durch das Zusammenleben und die emotionale Bezogenheit aufeinander weiterentwickelt.
Darauf aufbauend entwickelt sich die zweite Stufe der Anerkennung, die des „Rechts“. Individuen erkennen sich als Subjekte mit unterschiedlichen Besitzansprüchen an. Diese Form der Anerkennung „als abstrakte Rechtsperson“ (ebd., 45) basiert auf der Möglichkeit, ein Angebot abzulehnen, es stellt eine negative Form der Freiheit dar (vgl. ebd., 35). Anerkennung steht in einem reziproken Zusammenhang mit Freiheit, der Kampf um Anerkennung bedeutet auch das Ringen um die individuelle Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit und der Interessen, aber auch das Ringen um die Freiheit, Entscheidungen treffen zu können. Mit dem Zuschreiben dieser sozialen Rechte in einer Gesellschaft wird eine Aussage darüber getroffen, ob das Individuum „als ein vollständig akzeptiertes Mitglied seines Gemeinwesens“ (ebd., 127) begriffen wird. Die Stufe des Rechts trifft demnach eine äußerst wesentliche Aussage darüber, ob ein Individuum grundsätzlichen Zugang zu einer Gesellschaft erhält.
Hierbei wird deutlich, dass es bei dem Ringen um Anerkennung um die dritte Stufe, die „Wertschätzung“ der eigenen Person, geht. Das Individuum fordert Wertschätzung für das eigene So-Sein, als besonderes Merkmal, das es von anderen abhebt. Das Individuum wird dadurch „schließlich als konkret Allgemeines, nämlich als in seiner Einzigartigkeit vergesellschaftetes Subjekt anerkannt“ (ebd., 45). Individuen verstehen dementsprechend andere als Träger und Trägerinnen besonderer Eigenschaften und solidarisieren sich mit diesem Sein, indem sie es wertschätzen und positiv bewerten (vgl. ebd., 183).Auf allen drei Stufen der Anerkennung nach Honneth – die sich in ihrem Anspruch steigern – wird dem Individuum bewusst, dass es stets in Abhängigkeit von anderen ist, um anerkannt zu werden (vgl. ebd., 43). Ohne ein anderes Subjekt, das das Individuum, auf welche Weise auch immer, wahrnimmt und dessen Bedürfnisse in Beziehung setzt, ist Anerkennung nicht möglich. Zugleich bedarf es einer „Doppelbewegung der Entäußerung und der Rückkehr in sich selbst“ (ebd., 54), sodass sich der „Geist“ (ebd.) des Individuums anhand der Selbstreflexion praktisch entwickelt. Dieser Geist trägt dazu bei, eine über die rechtliche Anerkennung hinausgehende Form der Anerkennung überhaupt entwickeln zu können. Die Wahrnehmung aller Menschen als mit den gleichen Rechten ausgestattete Subjekte lässt keinen Raum für die Wertschätzung individueller Züge und Verhaltensweisen (vgl. ebd., 95). Über das rationale Auffassen der besonderen Merkmale hinaus braucht es eine Wertung ebenjener als wertzuschätzend, und dementsprechend wird die „emotionale Anteilnahme“ (ebd.) zur Voraussetzung, die eine Bewertung aufgrund emotionaler Zuschreibungen ermöglicht.
Die zärtliche Begegnung bietet demnach insbesondere für Menschen mit Komplexer Behinderung, die wenig gesellschaftliche Anerkennung erhalten, eine Gelegenheit, diese Anerkennung im direkten Umfeld, aber auch gesellschaftlich einzufordern. Durch ihr So-Sein als Individuum in der Begegnung mit anderen schaffen sie eine öffentliche Möglichkeit zur Darstellung ihrer Person und damit zur Einforderung der Anerkennung in Form von Liebe, Recht und Wertschätzung.
Hilfestellungen für die Praxis
Dieses gedankliche Konstrukt benötigt eine Verbindung zur Praxis, da Taten und veränderte Handlungen folgen müssen, sodass Realität geformt und angepasst wird. Dazu werden im Folgenden zwei Aspekte vorgestellt: Sprache und Beziehungen.
Sprache
In der Begegnung mit anderen Menschen wird oftmals nach bekannten Mustern gesucht, um zu entscheiden, wie eine bislang unbekannte Person anzusprechen ist. Das ist unabhängig davon, ob wir einer Person direkt gegenüberstehen oder sie aus der Entfernung beobachten. Die individuelle Wahrnehmung ist durch individuelle Bewertung geprägt.
Wenn wir durch Zuneigung und Zärtlichkeit geprägte Muster nutzen („nutzen“ ist hier allerdings eher ein unbewusster Akt), begegnen wir unbekannten Personen wahrscheinlicher mit (mehr) Freundlichkeit und Offenheit. Dazu braucht es eine Erinnerung, eine positive Verknüpfung mit einer uns bekannten Person in der Vergangenheit. Einerseits lässt sich die Verknüpfung durch die Erinnerung an individuell positiv bewertete Wesenszüge, äußere Ähnlichkeiten wie Gesichtsausdruck, Alter etc. oder ähnliches Verhalten wie Gangart, Handhaltung etc. herstellen, auch ähnliche Dialekte oder Redeweisen lösen Erinnerungen aus, z. B. an Familienangehörige. Andererseits kann das frühste Miteinander mit Menschen mit (Komplexer) Behinderung zu positiven Erinnerungen an z. B. Kindheitsfreunde und -freundinnen führen. Mit diesen Bildern im Kopf wird eine (unbewusste) Entscheidung getroffen, eine bestimmte Art der Ansprache zu wählen.
Sprache ist ein wesentliches Mittel, um die Verbreitung von Inklusion zu unterstützen, indem versucht wird, möglichst viele Menschen durch verständliche sprachliche Akte einzubeziehen, z. B. durch Leichte Sprache. Durch Sprache können positive wie negative Emotionen übermittelt werden und durch sie kann man sich gegenseitig in der Individualität anerkennen.
Konkret muss es darum gehen, Menschen mit Komplexer Behinderung sprachlich als gleichwertige erwachsene und selbstbestimmte Gegenüber wahrzunehmen und zu benennen.Mögliche Übungen hierfür können sein:Ansprache üben: Die Kommunikationspartner und -partnerinnen entscheiden sich gemeinsam entweder für das Siezen und Nutzen der Nachnamen oder für das Duzen und Nutzen der Vornamen. Auch bei nonverbaler Kommunikation ist es möglich, einen Konsens über die Ansprache zu finden, z. B. über körpereigene Kommunikationsformen.
Blickkontakt halten: Die Übung ist nicht als Konfrontation gedacht, sondern insbesondere für Menschen ohne Behinderung konzipiert, die aufgrund von Berührungsängsten, fehlendem Wissen etc. Menschen mit (Komplexer) Behinderung nicht ansehen (nicht gemeint ist hier das Anstarren). Durch den fehlenden Blickkontakt kann jemand schneller „übersehen“ und individuelle Bedürfnisse nicht erkannt werden. Blickkontakt kann auch aufrechterhalten werden, wenn es scheint, als würde das Gegenüber durch einen hindurchsehen. Hinweis: Wenn Blickkontakt unangenehm für einzelne oder alle Kommunikationspartner und -partnerinnen ist, ist dieser zu vermeiden.
Kommunikationsstil finden: Man lässt sich gemeinsam auf unterschiedliche Formen der Kommunikation ein, um zusammen einen Weg zu finden, ein zärtliches Miteinander zu schaffen und Raum zur Äußerung von Bedürfnissen bereitzuhalten. Durch eine konsensuell geschaffene Kommunikationsatmosphäre, die durch Zärtlichkeit geprägt ist, kann Vertrauen gefasst werden, Themen anzusprechen, die sensibel sind oder zu denen bisher kein Zugang ermöglicht wurde.
Beziehungen
Vor der Beziehungsaufnahme zu anderen benötigt das Individuum eine Beziehung zu sich selbst. Erst mit diesem Anerkennen des Selbst werden die Grundlagen zur Initiierung einer auf Gleichwertigkeit beruhenden Beziehung zu anderen geformt. Inwiefern diese Beziehung geprägt ist – stärker positiv oder stärker negativ –, kann darüber bestimmen, ob und wie Beziehungen (entweder im freundschaftlichen, sexuellen und/oder romantischen Sinne) gestaltet werden. Im zärtlichen Umgang mit sich selbst wird erfahren, was Zärtlichkeit individuell bedeutet und was in diesem Sinne von anderen gewünscht wird. Gleichzeitig ist dieses Erfahren von Zärtlichkeit eine Übung, um zärtlich anderen gegenüber zu sein.
Menschen mit Komplexer Behinderung erleben in ihrem Leben viel Abhängigkeit von anderen und sind in der Aufnahme der Beziehung zu sich selbst eingeschränkt, z. B. durch wenig Privatsphäre, motorische Schwierigkeiten oder Fremdbestimmung. Es braucht Zeit und Raum, um die Beziehungsaufnahme zu sich selbst zu gestalten und sich selbst als Protagonist oder Protagonistin in einer Interaktion wahrzunehmen, indem vertrauensvolle Bezugspersonen Menschen mit Komplexer Behinderung aufzeigen, sich selbst als entscheidend in einer Interaktion wahrzunehmen.
Dadurch kann sich das Individuum als aktiver Teil in einer Begegnung begreifen, Beziehungen stärker selbst wählen und gestalten. Durch die Zuschreibung einer Komplexen Behinderung wird allerdings auch diese persönliche Entscheidung wahrscheinlich nur in Abhängigkeit von der Unterstützung der Bezugspersonen Umsetzung finden, indem keine Beziehungen erzwungen oder individuell erwünschte Kontakte verhindert werden.
Mögliche Übungen hierfür können sein:
Körperwahrnehmung: Um sich in Beziehung zu anderen zu setzen, braucht es ein gewisses Verfügen über den eigenen Körper, es muss zunächst gelernt werden, den Körper zu nutzen (vgl. GUGUTZER 2020, 32). Das Nutzen des eigenen Körpers sollte in zärtlicher, wertschätzender Weise erfolgen, um darauf basierend einen Umgang mit anderen zu finden, der dem selbst erwünschten Umgang entspricht. Insbesondere für Menschen mit Komplexer Behinderung ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers kein selbstverständlicher alltäglicher Akt und braucht eine aktive Unterstützung durch das Umfeld, z. B. durch Basale Stimulation (FRÖHLICH 2015).
Grenzen erfahren und setzen: Körperwahrnehmung bietet hierbei einen ersten Erfahrungsrahmen, in dem das Individuum erfährt, über welche körperlichen Grenzen es verfügt. In einer wertschätzenden und sicheren Begegnung mit anderen kann das Setzen von Grenzen eingeübt werden und damit zur psychischen Stärkung des Individuums beitragen. Durch das Festlegen von Grenzen können diese zu Beginn einer Interaktion kommuniziert und die der Kommunikationspartner und -partnerinnen verstanden und respektiert werden.
Beziehungen führen (lernen): Das Eingehen von Beziehungen kann zu einem gesellschaftlich erwarteten Lebensentwurf dazugehören und darüber hinaus individuell Unterstützung und Zuneigung gewähren. Gemeinsam gilt es zu üben, konsensuell Zeit zu gestalten, Wünsche zu formulieren und miteinander abzugleichen. Fazit Menschen mit Komplexer Behinderung brauchen Anerkennung und Wertschätzung, eine durch Zärtlichkeit geprägte Begegnung. Um diesen Akt der Zärtlichkeit zu leisten, gilt es, bei sich zu beginnen und zunächst sich selbst wertschätzend zu begegnen. Dazu gehört es, individuelle Merkmale wahrzunehmen und anzuerkennen, die jeden Menschen einzigartig machen. Aus diesem Wissen resultiert eine „emotionale Anteilnahme“ (HONNETH 2007, 95), die einen Beitrag zum zärtlichen Umgang mit anderen leistet. Durch dieses Miteinander lässt sich Gesellschaft vielfältiger gestalten und insbesondere für Menschen mit Komplexer Behinderung ein größerer Raum zur Teilhabe schaffen.
Besonders geeignet ist das Modell der elementaren Beziehung nach Fornefeld (1989), das die wechselseitige Anerkennung zwischen Menschen mit Komplexer Behinderung und Menschen ohne Behinderung herausstellt und die Dynamik innerhalb der Kommunikation und Beziehungsgestaltung fokussiert (vgl. HEINEN, SCHLUMMER & WALLMEYER 2014, 151). Deutlich wird die Bedeutung der Partizipation der Personengruppe. Solange es eine direkte Ansprache und Raum zur Kommunikation gibt, kann Zärtlichkeit als Prinzip der Wertschätzung und Anerkennung funktionieren.
Literatur
Fornefeld, B. (2020): Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik. 6. Aufl. München: Ernst Reinhardt Verlag.
Fröhlich, A. (2015): Basale Stimulation – ein Konzept für die Arbeit mit schwer beeinträchtigten Menschen. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
Gugutzer, R. (2020): Welcher Körper? Der „behinderte“ Körper aus leibphilosophischer und körpersoziologischer Sicht. In: Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, 43(1), 31–39.
Heinen, N., Schlummer, W. & Wallmeyer, K. (2014): Menschen mit Komplexer Behinderung verstehen und begleiten. Herausforderungen für Heil- und Sonderpädagogik in Zeiten von Inklusion und Exklusion. In: Teilhabe, 53(4), 148–154.
Honneth, A. (2007): Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Klamp-Gretschel, K. (2019): Sexualität im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Schäfer, H. (Hrsg.): Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Grundlagen – Spezifika – Fachorientierung – Lernfelder. Weinheim: Beltz Verlag. 673–681.
Kurt, Ş. (2021a): Radikale Zärtlichkeit: warum Liebe politisch ist. Hamburg: HarperCollins.
Kurt, Ş. (2021b): Warum wir das Wort „Liebe“ besser abschaffen sollten. Online unter: https://www.zeit.de/zett/liebe-sex/2021-04/radikale-zaertlichkeit-seyda-kurt-liebe-politik-beziehung/komplettansicht. Letzter Zugriff am: 16.02.2023.
Meyer-Sickendieck, B. (2014): Zärtlichkeit. Zu den aristokratischen Quellen der bürgerlichen Empfindsamkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 88(2), 206–233.
Ortland, B. (2020): Behinderung und Sexualität: Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik. 2. überarb. Aufl. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
Reiss, K. (2007): Behinderung von Geschlecht – Zur Exklusion von Geschlecht durch Behinderung und Produktion des Anderen. In: Jacob, J. & Wollrad, E. (Hrsg.): Behinderung und Geschlecht – Perspektiven in Theorie und Praxis. Dokumentation einer Tagung. Oldenburg: bis-Verlag, 51-63.
Schildmann, U. (2007): Behinderung und Geschlecht – Datenlage und Perspektiven der Forschung. In: Jacob, J. & Wollrad, E. (Hrsg.): Behinderung und Geschlecht – Perspektiven in Theorie und Praxis. Dokumentation einer Tagung. Oldenburg: bis-Verlag, 11–29.
Autorin:
Dr.in Karoline Klamp-Gretschel ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geistigbehindertenpädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig. Sie forscht unter anderem zu Sexualität, Geschlecht und Intersektionalität im Kontext (geistiger) Behinderung.
Kontakt: karoline.klamp-gretschel@erziehung.uni-giessen.de