Ein schwarz-weißes Foto. Wo ein Erwachsener mit Anzug, Fliege und Hut neben einem kleinen Miniaturholzhaus steht und seine rechte Hand auf das Dach legt. Vor dem Haus ist ein einfacher Holzzaun mit einem Tor. Darin sind zwei Kinder, ebenfalls mit Hut und Anzug. Auf dem Haus steht der Wortlaut: "Steinbaukasten Richter".

Postkarte Zirkus Krone

Foto: © Privatarchiv Udo Sierck
aus Heft 2/2023 – Serie
Udo Sierck

Körperkult und Behinderung

Mit dieser Ausgabe beginnt MENSCHEN. eine sechsteilige Serie zum Thema Körperkult und Behinderung. Diesen allgemeinen Text ergänzen in der nächsten Ausgabe philosophische Gedankenspiele zum Schönen und Hässlichen. Es folgt ein Beitrag zu Körpersensationen, Freaks und anderen Attraktionen. Der nächste Teil der Serie beschreibt Aspekte der Gesundheitsideologie mit „Euthanasie“ im Namen der Schönheit und dem „Monster“ im Mutterleib. Der Faszination beeinträchtigter Körper in der Gegenwart widmet sich der fünfte Beitrag. Der abschließende Text befasst sich mit der Gratwanderung, den eigenen beeinträchtigten Körper zu akzeptieren und Nachteile zuzugeben.

Im populären Roman „Piccola Sicilia“ suchten die Augen des Doktor Sarfati sich „einzelne Passanten aus der Menge heraus und studierten sie mit geradezu wissenschaftlicher Neugier – die Narbe auf einem Gesicht, das Humpeln einer alten Frau, die Beinstümpfe eines verkrüppelten Bettlers auf dem Trottoir. Er konnte diese Menschen studieren, ohne ihnen in die Augen zu sehen, sein Blick war der eines Forschers, nicht ohne Mitgefühl, doch was ihn faszinierte, waren Funktion und Krankheit des Körpers, nicht das, was andere Seele nannten.“ (Speck 2021, 73 f.) Körper mit auffallenden Merkmalen oder Bewegungen sind seit Jahrhunderten der Sensationslust ausgesetzt. Was Betreffende dabei empfinden, spielt keine wesentliche Rolle. Seien es die ausgestellten Zwillinge im Zirkus Krone oder die „Wunderdame“, präsentiert zur Belustigung des Volkes. Gegenwärtig sind sie bei Misswahlen, auf dem Laufsteg oder bei olympischen Spielen zu betrachten. Die Faszination ist gewiss, wenn in der Modewerbung die futuristische Handprothese ins Bild gerückt wird. Es wäre einfach, in diesem Phänomen nur die Fortsetzung der Historie zu sehen. Aber auch die Behauptung, dies sei ein Resultat emanzipatorischer Bestrebungen, ist zu kurz gegriffen.

Makellose Körper

Der zu beobachtende Kult um den makellosen Körper lässt Zweifel an der angeblichen Akzeptanz derjenigen aufkommen, die dem Ideal von Schönheit und Fitness nicht entsprechen. Was diese Werte aber genau ausmacht, beruht eher auf einer vagen Vorstellung. Der Soziologe Max Weber lieferte vor gut hundert Jahren eine Definition eines Idealtypus. Demnach wird dieser „gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen“ (zit. in Brunner 2015, 51 f.). Dieses Gedankenbild ist „nirgends in der Wirklichkeit auffindbar, es ist eine Utopie“. (ebd.) Dennoch: 42 % der Frauen und 25 % der Männer sind mit ihrem Äußeren nicht zufrieden. Der Druck der Schönheitsideale wirkt. In den sogenannten sozialen Medien verändern 80 % der Dreizehnjährigen ihre Fotos in Richtung angesagter Ideale. Essstörungen und psychische Probleme nehmen in diesem Zusammenhang zu. Die Aussage „Ich mache mich nur für mich schön“ übersieht die Zwänge, die durch den Boom an Ratgeberliteratur, Diättipps, Fitnessangeboten, Kosmetikhinweisen oder Schönheitschirurgie für den sozialen Status einer Person sowie deren eigene Wertschätzung entstehen.

Für eine berufliche Karriere sind Faktoren wie Attraktivität, Körpergröße und Körpergewicht bedeutsam. Nachgewiesen ist, dass große Menschen schneller die Erfolgsleiter erklimmen und dabei mehr verdienen. Frauen mit einem Körpergewicht unter dem Durchschnitt erhalten mehr Gehalt als jene, deren Gewicht über dem Durchschnitt liegt. Bei Männern spielt dagegen erst extremes Übergewicht eine negative Rolle für den beruflichen Erfolg. Mehr Frauen als Männer geben an, dass physische Attraktivität bedeutsam für den Berufseinstieg und den Verlauf der Karriere sei. Dabei soll der weibliche Körper nicht nur schlank sein, sondern zunehmend auch austrainiert wirken. Das erfordert stete Arbeit am eigenen Körper, er dient als Mittel, um Disziplin und Willensstärke zu demonstrieren. Signalisiert wird die Bereitschaft, hart und zielgerichtet zu arbeiten. Diese Tendenz zur umfassenden Fitness hat für Personen mit einer Beeinträchtigung ausgrenzenden Charakter.

Gesundheit, Attraktivität, Leistungsfähigkeit sind Kriterien für die Schönen und Tüchtigen. Die Kehrseite dieser Wunschvorstellungen ist die Behauptung, krank, hässlich oder erschöpft zu sein. Wer funktioniert, wer selbst oder von anderen auferlegte Anforderungen pausenlos erfüllt, gilt als gesund. Physisches und psychisches Wohlbefinden bleiben dagegen ein nachgeordneter Gedanke. Krankheit und Behinderung bedeuten in diesem Verhältnis, Leistungsmängel nicht ausgleichen zu können, schwach zu sein. Das legt nahe, dass in „Fitness-Training“ oder „Fitness-Studio“ nahezu unerkannt die sozialdarwinistische Kategorie des „survival of the fittest“ steckt.

Entsprechend erfolgte die Definition des schönen Körpers nach gesellschaftlich anerkannten, messbaren Kriterien. Dabei hat sich die Gleichung „schön = erfolgreich = beliebt“ etabliert. Im Zweifelsfall muss nachgeholfen werden. Der Chirurg Johann Friedrich Dieffenbach (1792–1847), Chefarzt an der Berliner Charité, gilt als ein Pionier der plastischen Chirurgie. Er korrigierte operativ unliebsame Nasenformen – mit dem Spritzen von Paraffin und Vaseline unter die Haut ging er den als Makel geltenden körperlichen Abweichungen zu Leibe. In dieser Hinsicht entwickelte sich die Chirurgie zu einem selbstverständlich genutzten Instrument, um den Körper zur angeblichen Schönheit zu modellieren.

Körper als Ware

Seit der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Zunahme der auf Gesichter fokussierten Blicke, primär durch Kontakte über die sozialen Medien, haben Schönheitsoperationen sprunghaft zugenommen: In den USA 2020 um 15 %, in Frankreich sogar um 20 %. Allein die Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen zählte im Jahr 2021 an die 94 000 Eingriffe für die Schönheit, das entspricht einer Zunahme gegenüber dem Vorjahr um mehr als 15 %. Nach Angaben der Fachgesellschaft ließen sich zu etwa 87 % Frauen und 13 % Männer behandeln, ein offenbar übliches Zahlenverhältnis. Primär nachgefragt wird das Fettabsaugen, gefolgt von Gesichtseingriffen mit Botox gegen Falten, Lippen- und Nasenkorrekturen oder Oberlidstraffungen sowie Brustvergrößerungen. Dabei werden insbesondere die Patientinnen – so die irreführende Wortwahl – tendenziell immer jünger. Schon im Jahr 2009 schätzte die Fachgesellschaft die Zahl der Eingriffe mit Skalpell und Spritze durch fachfremde Mediziner:innen auf insgesamt eine Million pro Jahr. Dahinter verbirgt sich ein lukratives Geschäft: Die durchschnittlichen Kosten für eine Bauchstraffung lagen bei 4 500 bis 5 700 Euro, das Gesichtslifting schlug mit 6 100 bis 8 200 Euro zu Buche, für eine Nasenkorrektur mussten 4 000 bis 5 000 Euro hingeblättert werden – da war die Lippenkorrektur mit 600 bis 1 300 Euro noch vergleichsweise günstig zu haben.

Nach der Logik des Sprichwortes „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und der Behauptung, Frauen und Männer könnten – Eigenverantwortung vorausgesetzt – immer den sozialen Aufstieg schaffen, muss es auch möglich sein, bei entsprechender Disziplin und notwendigem Verantwortungsgefühl einen schönen Körper zu haben. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer dieses Ziel verfehlt, hat sich nicht ausreichend gekümmert. Dieser latente Vorwurf führt über eine Mischung aus selbstbestimmtem Handeln und der Unterwerfung unter angesagte Trends, die sich im Laufe der Zeit verändern können, zum Modellieren des Körpers.

Widersprüche

Dabei ist es mit der Schönheit eine widersprüchliche Angelegenheit. Auf der einen Seite streben Frauen und Männer sie als begehrenswert an, andererseits gilt diese zwanghafte Orientierung als schlicht und oberflächlich. Das ideale Äußere soll die soziale Position aufwerten, kann aber auch in das Gegenteil umschlagen: Wer sich auffallend intensiv mit seiner Schönheit beschäftigt, muss mit der Unterstellung rechnen, dass es mit der Intelligenz nicht weit her ist. Im Volksmund ist dieses Vorurteil mit der Gleichsetzung „blond“ und „blöd“ belegt. Gleichzeitig gilt Schönheit als kalkuliertes Erfolgsrezept bei privaten und öffentlichen Anlässen. Sie wird als Ausdruck der natürlichen Qualität geschätzt und gleichzeitig als Kunstprodukt amüsiert infrage gestellt. Den Werten trotz aller Bemühungen nicht zu entsprechen, kann indes krank machen. Denn der Kult um den schönen Körper produziert als Kehrseite die Abwertung des „unansehnlichen“ Körpers. Die zu beobachtende Tendenz zur unaufhörlichen Optimierung lässt für Menschen, die keines der erforderlichen Kriterien zum Konkurrieren bieten können, nichts Gutes ahnen. Sie verbleiben auf den diversen Inseln der Exklusion.

Aber auch an den als behindert geltenden Frauen und Männern gehen die Schönheitsnormen nicht spurlos vorüber. Die Sozialwissenschaftlerin Susan Wendell meint, wir „idealisieren den menschlichen Körper. Unsere physischen Ideale ändern sich von Zeit zu Zeit, aber wir haben immer Ideale. Diese Ideale drehen sich nicht nur um Erscheinungsbilder; sie sind auch Ideale von Stärke und Energie und adäquater Kontrolle des Körpers.“ (zit. in Spiel 2023, 71 f.) Dabei könnten einige Personen „die Illusion von Akzeptanz haben, die davon kommt zu glauben, dass ihre Körper nahe genug am Ideal sind, aber diese Illusion bringt sie nur weiter dazu, sich mit diesem Ideal zu identifizieren, sowie auch die endlose Aufgabe, die Wirklichkeit damit abzugleichen. Früher oder später müssen sie scheitern.“ (ebd.) Und Wendell ergänzt noch: „Behinderte Personen können auch an unserer eigenen Marginalisierung teilhaben. Wir können uns Körper wünschen, die wir nicht haben, mit Frustration, Scham, Selbsthass.“ (ebd.)

Gibt es die schöne Hässliche oder den hässlichen Schönen – diese Frage wird seit Jahrhunderten diskutiert. Die Antworten variieren. Auffallend ist aber, dass der Körper im Mittelpunkt der Überlegungen steht. Und das Huldigen von Schönheit besitzt als Kehrseite die Abkehr vom Hässlichen. Erhalten bleibt die Faszination für lädierte Körper. Sie produziert Erniedrigung, aber auch den Willen zur Selbstbehauptung.

Literaturhinweise

Brunner, K. (2015): Was ist Schönheit? Anmerkungen über Ästhetik und Augenblick. Wien/Hamburg: Edition Konturen.

Ehrig, H. & Krumpholz, D. (2022): Ressourcen von beruflich erfolgreichen Frauen. Münster/New York: Waxmann Verlag.

Franzen, J. (2020): Fröhliche Chirurgie oder wie der wahre Körper endlich zur Ware wurde. In: Winzen, M. (Hg.): Baden in Schönheit. Die Optimierung des Körpers im 19.Jahrhundert. Bielefeld: Athena.

Speck, D. (2021): Piccola Sicilia, 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer.

Spiel, K. (2023): Transreal Tracing. Queerfeministische Spekulationen zu Behinderung und Technologie. In: Glade, N. & Schnell, Ch. (Hg.): Perfekte Körper, perfektes Leben? Selbstoptimierung aus der Perspektive von Geschlecht und Behinderung. Bielefeld: transcript.

Buch:

Udo Sierck

Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld

120 Jahre Behindertenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur

Beltz, Weinheim 2021

Das Buch dokumentiert um hundert historische und aktuelle Beispiele, die belegen, welches Bild von Behinderung Kindern und Jugendlichen vermittelt wurde und welchen Einfluss es auf Denken und Handeln hatte. Vorgestellt werden literarische Klassiker, Fundstücke aus Antiquariat und Sammlungen sowie Bücher, die das Zeitalter der Inklusion repräsentieren. „Einmalig“, „scharfsinnig“, „Gratulation“, so die Kommentare von Leser:innen.

Autor:

Udo Sierck ist Dozent und Publizist. Er tritt seit Jahrzehnten für Emanzipation und Selbstbestimmung behinderter Menschen ein. In seinen Büchern und Artikeln, Vorträgen und Seminaren analysiert er das Normalitätsdenken und versucht, die Denkmuster über „die Behinderten“ aus der Welt zu schaffen.

​E-mail: udosierck@web.de