Art Brut: Kunst aus Gugging
Kunst jenseits etablierter Strömungen und Formen: Das ist Art Brut. Als „rohe Kunst“ lässt sich der Begriff übersetzen. Manche verwenden auch den englischen Begriff „Outsider Art“. In Gugging befindet sich das österreichische Zentrum dieser Kunstrichtung. Welche Entwicklungen gab es und welche Bedeutung hat diese Kunstform heute? Antworten darauf hat der langjährige künstlerische Leiter von Gugging Johann Feilacher. Weitere Kunstwerke aus Gugging finden Sie in diesem Heft auf den Seiten 18, 26, 36, 42 und 50.
Die Bezeichnung Art Brut geht auf den französischen Maler Jean Dubuffet zurück. Dubuffet, Sohn einer großbürgerlichen Familie, geboren 1901 in Le Havre, malte in den Zwanzigerjahren im Kreis der Pariser Surrealisten gegenständliche Kompositionen, gab die Kunst aber bald wieder auf, um als Weinhändler tätig zu werden. Doch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs stieg er nach langer Schaffenspause wieder ein, in der frühen Nachkriegszeit sorgte er mit „primitiven“ Materialbildern für Skandale. Er entwickelte das Konzept einer antiintellektuellen Kunst, die er als Art Brut bezeichnete.
„Dubuffet forderte, dass die Kunst neu erfunden werden muss“, sagt Johann Feilacher. „Mit Personen, die mit dem Kunstmarkt nichts zu tun haben. Mit Clochards, Außenseitern, mit dem Nachbarn. Und auch mit Insassen von Psychiatrien.“ Feilacher ist der ehemalige und langjährige künstlerische Direktor und Kurator des von ihm gegründeten „museum gugging“. Er wurde in diesem Jahr von Nina Ansperger abgelöst. So wie er eine Institution für Art Brut in Österreich ist, ist Gugging das Zentrum dieser Kunstrichtung im Land. Hier arbeiten heute gefragte und international bekannte Kunstschaffende.
Leidvolle Geschichte
Die Entwicklung in Gugging spiegelt die Entwicklung der gesamten Art Brut wider. Sie begann als die einer Anstalt für psychisch kranke Menschen. Schon deren Bezeichnungen sind im Rückblick erschreckend: Die „Irrenanstaltsfiliale Gugging-Kierling“ wurde 1885 in Betrieb genommen, zunächst als Außenstelle der in einem stillgelegten Fabrikgebäude in Klosterneuburg untergebrachten „Landes-Irrenanstalt“. Im folgenden Jahr war Baubeginn des ersten Gebäudes. 1896 wurde die „Landes-Irrenanstalt“ um die „n.ö. Landes Pflege- und Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder“ erweitert. Zur Pflege der dort Internierten wurden Schwestern des Linzer Ordens Barmherzige Schwestern vom heiligen Kreuz gewonnen. Mitte der 1920er-Jahre wurde die Anlage in „Heil- und Pflegeanstalt Gugging“ umbenannt. Im Prinzip waren alle Menschen, die hier lebten, Gefangene. „Gugging wurde zum Schimpfwort“, sagt Feilacher.
Die Nazis ermordeten mehrere Hundert Insassen von Gugging. Die genaue Zahl der Getöteten ist bis heute nicht klar. 477 Tote lassen sich sicher zwei in Gugging tätigen Medizinern zuordnen. Einer von ihnen war der damalige Anstaltsleiter Emil Gelny, der Patient:innen mit Medikamenten vergiftete oder sie mit einem eigens von ihm konstruierten Apparat mit Starkstrom tötete. Als sicher gilt auch, dass 675 Menschen nach Schloss Hartheim bei Linz überstellt und dort vergast wurden.
SA-Mitglied Gelny tauchte nach Kriegsende im Nahen Osten unter und konnte von der Justiz nie zur Rechenschaft gezogen werden. „Nach dem Krieg gab es in Gugging schnell wieder Patienten“, sagt Feilacher. „Es fehlte aber an Ärzten.“ Zwei Mediziner seien damals auf 1 000 Patienten gekommen. Entsprechend oft waren sie überfordert. Einer der frühen Ärzte in Gugging nach dem Krieg war Leo Navratil. Navratil war Entdecker und Förderer der ersten Generation von Künstlern aus Gugging, darunter Johann Hauser, Ernst Herbeck, Philipp Schöpke, Oswald Tschirtner und August Walla. 1950 hatte er einen Auslandsaufenthalt am Institute of Psychiatry am Maudsley Hospital in London absolviert. Dort hatte er sich mit der Publikation „Personality Projection in the Drawing of the Human Figure“ der amerikanischen Psychologin Karen Machover befasst. Nach seiner Rückkehr nach Österreich im Jahr 1954 führte Navratil die ersten Figurenzeichentests zur Kontrolle psychischer Krankheitsverläufe durch. Es war für die wenigen Ärzte in Gugging auch eine Frage der Effizienz: So konnten sie einfach 500 Zeichnungen anfertigen lassen und diese dann nach und nach betrachten. „Anfang der Sechziger aber fiel ihm etwas auf“, sagt Feilacher. „Einige Patienten passten nicht in die Schemata. Das hat begonnen, ihn zu interessieren.“ Von diesem Zeitpunkt an setzte er sich mit dem Themengebiet Kunst und Psychiatrie auseinander.
Kunst und Psychiatrie
In der Publikation „Schizophrenie und Kunst“ aus dem Jahr 1965 versuchte sich Navratil erstmals in einer psychiatrischen und gleichzeitig kunstwissenschaftlichen Sichtweise. Er nahm dabei Bezug auf Vorbilder aus diesem Themengebiet, besonders auf Hans Prinzhorn, einen deutschen Psychiater und Kunsthistoriker. Prinzhorn zählt, unter anderem mit dem Schweizer Walter Morgenthaler, zu den Pionieren in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bildwerken psychisch kranker Menschen. Morgenthaler hatte 1921 mit der Veröffentlichung der Krankengeschichte des schizophrenen Künstlers Adolf Wölfli weltweit Aufsehen erregt. Nach Hans Prinzhorn ist die Sammlung Prinzhorn benannt, ein Museum für Werke von Psychiatriepatient:innen. Sie ist an die Klinik für Allgemeine Psychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg angeschlossen. Ab 1919 hatte der Namensgeber die Sammlung angeregt. 1937 wurden einige Arbeiten aus der Sammlung in der diffamierenden nationalsozialistischen Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ in München präsentiert. Mit Navratils Veröffentlichung gelangten nun erstmals Abbildungen von Zeichnungen von Kunstschaffenden aus der psychiatrischen Klinik in Gugging nach außen. Die Avantgarde begann sich zu interessieren.
Zu Beginn der Achtzigerjahre wurden Umstrukturierungen im Krankenhaus in Gugging vorgenommen, die für Navratil und eine Gruppe künstlerisch talentierter Patient:innen neue Möglichkeiten eröffneten: 1981 gründete er das Zentrum für Kunst-Psychotherapie, das spätere Haus der Künstler. 18 Patient:innen zogen in das Zentrum ein und konnten nun in ihrem Wohnbereich künstlerisch arbeiten. „Navratil hatte zwar von Kunst keine Ahnung“, konstatiert Feilacher trocken. „Aber er hat andere Künstler gefragt, was sie zu dem sagen, was in Gugging gemacht wurde.“ Und die, wie auch viele Kurator:innen, waren begeistert. Bald folgten Ausstellungen im ganzen Land, aber auch in Deutschland und der Schweiz. Als Navratil 1986 in Pension ging, folgte ihm Feilacher nach. Johann Feilacher hatte im selben Jahr die Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie abgeschlossen. Zuvor hatte er von 1972 bis 1978 Medizin in Graz studiert und wurde im November 1978 zum Dr. med. univ. promoviert. Er habe sich immer parallel zur Medizin mit Kunst beschäftigt, sagt er. „Die klassische Medizin hatte für mich zu viele Regeln. Es fehlte an Kreativität.“
Als Künstler arbeitete Johann Feilacher zuerst als Maler und seit den 1980er-Jahren als Bildhauer. Er verwendet vor allem Holz, das er zu Indoor- und Outdoor-Skulpturen von teilweise monumentalem Format verarbeitet, kombiniert es mit Stahl und Kunststoff und baut Installationen aus verschiedenen Materialien. Feilachers Kontakt nach Gugging war ursprünglich entstanden, als er von einem Freund gehört hatte, dass man jemand suche, der in einer Psychiatrie eine Ausstellung mache. Die neue Aufgabe habe ihn elektrisiert. „Es hat gepasst, auch für Navratil.“ Als dessen Nachfolger benannte Feilacher das Zentrum für Kunst- und Psychotherapie in „Haus der Künstler“ um und führte es mit der Idee, dass alle Kunstschaffenden, ob behindert oder nicht, die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben sollten. Er habe die Kreativen in Gugging immer als Kolleg:innen gesehen: „Vorher haben sie gesellschaftlich unterhalb der Clochards gestanden. Sie sollten aber als normale Menschen angesehen werden. Abgetrennt von der klinischen Abteilung gründete ich deshalb das Haus der Künstler als reine Wohngemeinschaft. Alle waren einverstanden.“
Am Anfang war das Projekt sozial finanziert. „Außer, jemand hat sehr viel verdient.“ Und auch diese habe es damals bereits gegeben: August Walla oder Johann Hauser, das waren gut verdienende Künstler der Mittelklasse. „Walla hat für ein Werk 100 000 Schilling bekommen, damals“, erinnert er sich. Zumal Feilacher den Radius der Ausstellungen aus Gugging erweiterte: „In den Achtzigern habe ich in europäischen Häusern Ausstellungen ausgewählt. In den Neunzigern sind wir dann in die USA gegangen, in Los Angeles und Philadelphia haben wir Präsentationen gehabt. Wir sind weltweit bekannt geworden. Mitte der Neunziger waren wir in Japan.“
Haus der Künstler, Museum und Galerie
International bekannt waren die Künstler:innen nun, aber man habe keinen Platz für Ausstellungen in Gugging gehabt. „Also habe ich eine Gesellschaft gegründet, mit der ich die Galerie bespielt habe.“ 1994 gründet Feilacher die erste Kommanditerwerbsgesellschaft mit ausschließlich besachwalteten Künstler:innen und 1997 die Galerie der Gugginger Künstler als erste Galerie im Besitz von besachwalteten Personen. Im Jahr 2000 löste er das Haus der Künstler von der Landesnervenklinik Gugging und richtete die Sozialhilfeeinrichtung SHE, Haus der Künstler ein. Mit dem Projekt Integratives Kulturzentrum Gugging ermöglichte Feilacher 2001 die Restaurierung des ehemaligen Kinderhauses in Gugging, das er zum Art Brut Center Gugging machte, in dem sich nun die Galerie Gugging, ein offenes Atelier, die Privatstiftung Künstler aus Gugging sowie das „museum gugging“ befinden. „Die Räume der jetzigen Galerie waren damals eine stinkende Ruine“, sagt er. Und der Bezug sei ein langsamer Prozess gewesen. „Aus der Klinik sind immer mehr Menschen abgewandert“, sagt er. „Wie überall in Europa wurden die Kliniken immer kleiner. Wenn eine Gruppe ging, zogen wir ein.“
2003 gründete Feilacher schließlich, um eine permanente Sammlung Gugginger Kunst aufzubauen, die Privatstiftung Künstler aus Gugging. Seit 2006 war er künstlerischer Direktor und Kurator des von ihm gegründeten „museum gugging“. 2007 wurde die NÖ Landesnervenklinik Ost – Klosterneuburg-Gugging vollständig aufgelöst. Besonders wichtig ist Feilacher, dass Psychiatrie und Kunst zwei verschiedene Dinge seien. „Nicht die Psychose ist die Kunst“, sagt er. Das sei ein Irrtum, dem etwa auch sein Vorgänger Navratil noch unterlegen sei. Mit einer Psychose etwa, so Feilacher, zeichneten alle ähnlich. Interessant sei es, wenn einer aus der Gruppe hervorsteche. Wenn die entstehenden Blätter in ihrem Ausdruck über die erwartete diagnostische Funktion hinausgingen. Deswegen seien die in vielen Kliniken seit den Neunzigern entstandenen Malgruppen zwar an sich gut, aber in Hinblick auf Kunst eben nicht. „Im künstlerischen Sinne nutzlose Dinge wurden da oft als Kunst präsentiert“, sagt er. „Denn ein Sozialarbeiter kann ja nicht erkennen, was gute Kunst ist.“ Aus diesem Grund gebe es in Gugging zwei verschiedene Häuser. „Privat haben viele Menschen hier besondere Bedürfnisse. Deswegen sind sie dann in Behandlung. Jeder Mensch geht ja auch zum Zahnarzt, wenn er Beschwerden hat. Damit es den Menschen gut geht, gibt es also Sozialberater und Psychologen, die sich um sie kümmern. Zum anderen haben wir das Atelier, in dem die Menschen arbeiten können. Aber es kommen eben auch Menschen hierher, die nicht hier wohnen, sondern woanders. Da sind Gugginger dabei, andere Künstler …“ Das Atelier sei kein Kunsttherapie-Atelier. „Wir stellen Materialien für die Kunst, wir stellen einen Sitzplatz für die Künstler. Das war’s. Das Einzige, was nicht erlaubt ist: Du darfst nicht nichts tun.“
Doch auch, wenn Kunst in Gugging keine Therapie sei, tue es den Kunstschaffenden natürlich gut, damit Erfolg zu haben, Geld zu verdienen. „Die Galerie wird ja von Kuratoren betrieben, die professionell auf dem Gebiet arbeiten. Und so können die Künstler dann auch mal andere einladen, das macht einen Unterschied.“
Weil Kunst und Therapie voneinander getrennt würden, sei auch die Auswahl der Künstler:innen keine soziale, sagt Feilacher. So fänden Kunstschaffende heute auf verschiedenen Wegen nach Gugging. Am Anfang seiner Tätigkeit, bis in die Achtziger und Neunziger, hätten 1 200 Menschen in Gugging gelebt, entsprechend wären mehr Patient:innen von dort gekommen. „Jetzt kommen die Künstler aus Kliniken oder Malgruppen, Verwandte machen uns auf sie aufmerksam oder auch sie selbst. Dann bekommen sie eine Einladung und wir lassen sie hier einen Menschen und einen Baum zeichnen. Ich erkenne die kreativen Fähigkeiten. Ist der in der Lage, irgendeinen Weg zu finden, den er auch verfolgen kann?“ Außerdem sei natürlich wichtig, dass jemand gruppenfähig sei, dass man ihn in das Haus aufnehmen könne. „Das ist wie bei jeder anderen sozialen Einrichtung auch.“
Art Brut aus Gugging wird meist mit Kunst von Männern verknüpft. Das Atelier steht aber auch Frauen offen. Die einzige Künstlerin aus Gugging, die bekannt wurde, ist die 1971 geborene Laila Bachtiar. Dass kaum Frauen unter den Gugginger Kunstschaffenden sind, habe zum einen damit zu tun, dass für den entsprechenden Umbau der vorhandenen sanitären Anlagen das Geld gefehlt habe, aber auch mit der nur langsam fortschreitenden gesellschaftlichen Transformation „Es gab einfach nicht so viele Künstlerinnen“, sagt Feilacher. „Noch bis in die Fünfziger war es ja kaum vorstellbar, dass eine Frau Pinsel und Leinwand in die Hand nimmt – und nicht das Häkelzeug.“
Integration der Art Brut in die Weltkunst
Der Begriff Art Brut, eine Kunstform, die entstanden ist, weil die Avantgarde nach eigenständigen, „rohen“ Darstellungsformen gesucht hat, sei heute allerdings hinfällig, sagt Feilacher. Denn diese Kunstform sei ja bereits lange massiv präsent in internationalen Ausstellungen. „Der Begriff bleibt wichtig, für Journalisten zum Beispiel. Er ist eine Schachtel, die Leute brauchen ein Kunstraster-System.“ Auch die Frage, ob Menschen mit Behinderung Kunstwerke schaffen, verliere immer mehr an Bedeutung. „Wer fragt denn heute noch ernsthaft: ‚War van Gogh gestört?‘“ Feilacher argumentiert: „Natürlich gab es das eine Zeit lang häufig, dass etwa der Bürgermeister ein Kunstwerk aus sozialen Gründen gekauft hat.“ Aber die Grenze dafür verschiebe sich mit dem Preis. „Wenn das Museum Tokyo einen Johann Hauser für 100 000 Euro kauft, dann können die ja nicht sagen, das machen sie aus sozialen Überlegungen.“
Die Integration der Art Brut in die Weltkunst, das sei ein Ziel in Gugging gewesen. „Und das ist uns doch recht gut gelungen.“ Wenn sich der Wert eines Kunstwerkes um mehrere hundert Prozent steigere, wenn der Künstler in die Upper Class seiner Branche aufsteigt, sagt Feilacher, dann sei das die Sprache, die die Gesellschaft verstehe: „Dann muss es ja was gelten.“
Autor:
Oliver Schulz, geboren 1968 in Hannover, hat in Hamburg unter anderem Soziologie studiert. Er arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als freier Journalist und Buchautor. Einer seiner Themenschwerpunkte sind Menschen mit Einschränkungen. Er arbeitet außerdem unter anderem zu Menschenrechten und internationaler Politik für verschiedene deutschsprachige Medien.
Kontakt: www.oliverschulz.net