Bildtext: Wenn der Sinn völlig individualisiert und subjektiviert wird, ergibt sich die Frage, ob der Sinn vor lauter Willkürlichkeit nicht verschwindet. Barbara Schmitz Die "dringlichste aller Fragen": Behinderung, chronische Krankheit und der Sinn im Leben; Bild: Der Text steht auf einem weißen Hintergrund. Links daneben ist eine orange große Klammer. Der Hintergrund ist grau. Am rechten unteren Ende ist das Cover der Ausgabe 2/23 platziert.

Foto: © Eva-Maria Gugg
aus Heft 2/2023 – Serie
Barbara Schmitz

Die "dringlichste aller Fragen"

„Warum geschieht mir das?“ Menschen, die im Laufe ihres Lebens von einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit betroffen sind, oder Eltern, die ein Kind mit Behinderung bekommen, stellen diese Frage fast unweigerlich. Als meine Tochter Carlotta geboren wurde, stand die Frage nach dem „Warum“ wie ein Fels vor mir. Warum hatte ausgerechnet ich ein Kind, das nicht wie andere war? Was war der Grund für mein Schicksal?

Die Frage nach dem Sinn gilt als eine philosophische Grundfrage. Sie stellt sich allen Menschen und taucht oft gerade dann auf, wenn wir in schwierigen Lebenssituationen sind. Die „dringlichste aller Fragen“, wie Albert Camus sie nennt, kann so unabweisbar vor Menschen stehen, dass sie eine Antwort zu verlangen scheint. Es ist daher erstaunlich, dass sich in der Philosophie lange Zeit eine Zurückhaltung gegenüber dieser Grundfrage beobachten ließ. Das mag damit zusammenhängen, dass die sprachphilosophische Ausrichtung der Philosophie des 20. Jahrhunderts dazu führte, dass Fragen des Sinns primär als sprachliche Fragen angesehen wurden und eine Übertragung dieser Frage auf das Leben sinnlos schien. In den letzten Jahren ändert sich das zunehmend, wohl auch, weil das Bedürfnis des Menschen nach Sinn angesichts all der Krisen unserer Zeit unabweisbar ist. Was lässt sich also ausphilosophischer Perspektive zu der Frage aller Fragen sagen?

Zunächst einmal wird gewöhnlich eine Unterscheidung hinsichtlich der Frage getroffen: Spricht man über den Sinn des Lebens oder den Sinn im Leben? Im ersten Fall würde man danach fragen, warum überhaupt etwas existiert, man fragt nach dem Sinn des Lebens, der Welt, des Universums schlechthin. Die zweite ist bescheidener: Sie fragt nach dem Sinn, den Menschen in ihrem Leben für sich finden, nach dem Sinn eines persönlichen Lebens. Die erste Frage wird von vielen Religionen aufgegriffen. Die zweite Frage verweist darauf, dass Menschen in ihrem Leben eine Antwort auf die Frage stellen können. Doch auch hier zeigen sich schnell Schwierigkeiten.

Wird ein Sinn gefunden, so wie ein Schlüssel, den man verlegt hat? Wird er erkannt und eingesehen? Oder wird er erfunden, so wie man ein Kunstwerk schafft? Ist er somit völlig offen, wird frei entworfen? In der Philosophie gibt es verschiedene Ansätze, die den Sinn mal eher objektiv, mal eher subjektiv verstehen.

Nachdenken über Sinn

Geht man davon aus, dass jeder Mensch seinem Leben selbst Sinn geben kann, vertritt man einen Subjektivismus. Der Sinn ist demnach individuell und von Mensch zu Mensch verschieden. Ob er Sinn in einem anspruchsvollen Beruf findet, in der Erziehung von Kindern, in einem künstlerischen Werk, in Reisen zu abgelegenen Orten, in einem Garten, in der Musik, im Geldverdienen, in dem Erreichen eines besonders hohen gesellschaftlichen Status, im Engagement in einer Umweltorganisation oder in der Liebe zur Partnerin bzw. zum Partner, bleibt allein ihm überlassen. Jeder hat die größtmögliche Freiheit bei der Sinngebung. Dieser Ansatz trägt dem modernen Individualismus Rechnung. Der Sinn wird nicht vorgefunden, sondern hergestellt, gemacht, entworfen, konstruiert. Der Mensch selbst ist Schöpfer und agiert in seiner Sinngebung als freies Wesen.

Genau in dieser Freiheit liegen aber auch die Tücken dieses Ansatzes, denn wenn alles erlaubt ist, stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch Sinn ergibt, von Sinn zu sprechen. Es besteht dann nämlich keine Abgrenzung mehr zu Unsinn, Nichtsinn. Jemand, der sagt: „Der Sinn besteht darin, Grashalme zu zählen“, hätte genauso recht wie jemand, der Sinn darin findet, seinem Nächsten zu helfen oder für den Umweltschutz zu kämpfen. Wenn der Sinn völlig individualisiert und subjektiviert wird, ergibt sich die Frage, ob der Sinn vor lauter Willkürlichkeit nicht verschwindet. Zudem hilft dieser Ansatz wenig, wenn Menschen in einer Situation der Krise, der existenziellen Verunsicherung sind.

Einen anderen Weg schlagen objektive Theorien des Sinns ein. Ihnen zufolge gibt es objektive Güter, Ziele oder Verfahren, durch die ein Leben als sinnvoll beurteilt werden kann. Was können solche objektiv wertvollen Inhalte oder Güter sein? In verschiedenen Theorien werden unterschiedliche Antworten gegeben: Manche Autor:innen nehmen an, dass kreative Tätigkeiten objektiven Sinn geben, andere verweisen auf das „Wahre, Gute und Schöne“, das objektiv wertvoll ist.

Einige Ansätze weisen auf Moralität hin. Moralität als Basis für objektiven Sinn trifft sich gut mit unserer Intuition, dass es Tätigkeiten oder Berufe gibt, die wir intuitiv mit Sinn verbinden, wie etwa der eines Pflegers, einer Lehrerin oder Sozialarbeiterin oder eine Tätigkeit im Bereich Nachhaltigkeit. Tätigkeiten, bei denen wir „etwas für andere tun“, schaffen demzufolge Sinn, weil sie über das persönliche Streben hinausgehen und Wirkung auf andere haben.

Um diesen Ansatz zu begründen, wird manchmal auf Theorien über das Wesen des Menschen zurückgegriffen. Der Mensch erfährt Sinn dann besonders stark, wenn er sein Wesen als Mensch verwirklicht. Da der Mensch aber von Grund auf ein soziales Wesen ist, besteht Sinn in seinem Leben darin, diese soziale Seite zu leben und auf diese Weise sein Leben mit Sinn zu füllen. Ein solcher Sinn wird nicht willkürlich konstruiert oder erfunden, sondern er wird gefunden, entdeckt, eingesehen, erkannt. Er hat seinen Wert unabhängig von dem, was Menschen über den Sinn denken.

Ein solcher Ansatz ist vielversprechend, aber auch er ist nicht ohne Schwierigkeiten. Jeder objektive Ansatz hat die Tendenz, paternalistisch zu werden. Wer sagt uns denn, was sinnvolle menschliche Tätigkeiten oder Güter sind? Wo grenzen wir sinnvolle moralische Forderungen von solchen ab, die nur Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung sind? Und neigt ein solcher Ansatz nicht auch dazu, moralisierende Vorschriften zu machen und damit zu wenig Raum für einen jeweils individuellen Sinn zu lassen?

Eine Möglichkeit, den Schwächen beider Ansätze zu entgehen, besteht darin, sich die Rolle, die Sinn im menschlichen Leben spielt, genauer anzusehen. Vielleicht wird Sinn weder direkt erfunden noch einfach gefunden, sondern im Leben angeeignet. Was meine ich damit?

Wichtig scheint mir, dass wir das menschliche Leben nicht einfach als Behälter oder Container des Sinns verstehen, sondern vielmehr davon ausgehen, dass wir in dem, was wir tun, und in dem, wie wir leben, Sinn erfahren können. Der Psychologe Viktor Frankl überlebte mehrere Jahre in Konzentrationslagern. Er betonte, dass ein Sinn im Leben Menschen die Kraft geben könne, auch schwerste Erfahrungen durchzustehen, und verstand Sinn als situative und individuelle Aufgabe: An uns werden im Laufe des Lebens verschiedene Möglichkeiten in unterschiedlichen Situationen herangetragen, die wir selbst mit Sinn füllen können. Da diese Aufgaben gewissermaßen vom Leben selbst gestellt werden, wird Sinn einerseits vorgefunden, andererseits individuell ausgestaltet.

Krankheit und Behinderung

In einem solchen Verständnis kann Krankheit und Behinderung eine besondere Bedeutung für die Lebensgeschichte zukommen. Betroffene erzählen oft davon, dass ihnen gerade die Krankheit oder Behinderung die Augen geöffnet und ihr Leben dann eine Wendung zum Guten genommen habe. Dabei muss nicht geleugnet werden, dass dies mit vielen schweren Erfahrungen einhergeht, dass Schmerzen, Trauer, Verlust und Angst Teil des Weges sind. Doch gibt es für diese Erfahrungen einen stimmigen Platz im Leben und sie werden als Aufgabe verstanden, um neue Werte und eine neue Sicht auf die Welt zu gewinnen. Wir müssen Menschen, die von Beeinträchtigungen oder Krankheiten betroffen sind, darum besonders gut zuhören.

Das gilt auch für die, die sich nicht in der Wortsprache äußern können, denn Sinn im Leben kann man sich auch nichtsprachlich aneignen. Es wäre zu kurz gegriffen, die Fähigkeit, Sinn in etwas zu finden, allein jenen zuzuschreiben, die sich sprachlich differenziert ausdrücken können. Wenn eine Handlung Sinn haben kann, wenn der Sinn vielgestaltig und individuell ist, wenn er mit Aufgaben und Herausforderungen verbunden ist, wenn Sinn in einem Miteinanderleben bestehen kann, dann kann auch das Leben all der Menschen Sinn haben, die sich durch Behinderung, Krankheit oder Alter nicht oder nicht mehr in der Wortsprache äußern können.

Carlotta erzählt mir viel über den Sinn des Lebens, jeden Tag aufs Neue, auch ohne darüber zu sprechen: indem sie von der Freude bei der Arbeit spricht, indem sie mit Begeisterung auf Tiere zugeht, indem sie einen Kuchen bäckt, um anderen etwas Gutes zu tun. Man möchte sagen: Sie lebt den Sinn. Sie geht in dem auf, was sie tut. Davon habe ich eine Menge lernen dürfen.

Autorin: 

Barbara Schmitz, geboren 1968, ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie unterrichtet heute in Basel und wohnt mit ihrer Tochter Carlotta im Engadin. In ihrem Buch „Was ist ein lebenswertes Leben?“ verbindet sie biografische Erfahrungen mit philosophischer Reflexion. In unserer Serie „Philosophische und biografische Zugänge“ können Sie an ihrem Nachdenken über grundsätzliche Fragen und ihren persönlichen Erfahrungen teilhaben.

E-Mail: barbara.schmitz@unibas.ch