Gesten des Protestes
Zärtlichkeit als theologisch-politische Kategorie für unsere Krisenzeit
Zärtlichkeit als Protest denken
Heute ist es noch immer sehr schwierig, von Zärtlichkeit zu sprechen, ohne als rettungslos sentimental oder naiv zu gelten. Leider lastet eine schwere Hypothek auf diesem Wort, das sofort rhetorisch und pathetisch, absolut unpolitisch klingt. Über Zärtlichkeit zu sprechen, klingt heute fast obszön und die häufige Wiederholung dieses Wortes erscheint unmittelbar suspekt. Roland Barthes hat einmal von der Obszönität der Liebe gesprochen – wir können nun in gleicher Weise von einer Obszönität der Zärtlichkeit reden (vgl. Barthes 1984, 180–182). Auch wenn sie noch immer mit humanen und vor allem familiären Gefühlen assoziiert wird, wird Zärtlichkeit automatisch als Verweichlichung der Seele oder Betäubung des Geistes wahrgenommen. So scheint Zärtlichkeit angesichts der enormen Herausforderungen unserer Zeit keinerlei Strahlkraft oder Stärke zu besitzen. Deswegen muss man die Frage stellen, ob eine Narrativität der Zärtlichkeit, die sich der romantischen Rhetorik und der überflutenden Sentimentalität entgegensetzt, überhaupt noch möglich ist.
Mit dem Philosophen Klaus Heinrich ist jedoch festzustellen, dass wir einen Begriff nur dann verstehen, „wenn es uns gelingt, den in ihm verkörperten ‚Protest‘ zu übersetzen“ (Heinrich 1964, 109). Um den Diskurs der Zärtlichkeit zu verstehen, der sich hier und jetzt entfalten wird, müssen wir uns die Frage stellen, welche Art von Protest die Zärtlichkeit verkörpert. Wogegen protestiert sie? Wogegen will sie Widerstand leisten?
Zuallererst könnte man an die psychosoziale Lage spätkapitalistischer Gesellschaften denken, wo man das immer stärker werdende Gefühl hat, dass die menschliche Umwelt und Mitwelt vor allem in den Großstädten von mehr und mehr Kälte und Härte durchzogen sind. In unserer eminent monetären und individualistischen Gesellschaftskonfiguration, wo zum ersten Mal in der menschlichen Zivilisation techno-ökonomische Werte dominieren, ist jeder Mensch dazu „berufen“, sich selbst zu verwirklichen, sich selbst einen Namen zu machen, in Form und produktiv zu sein. Der kapitalistische und spätkapitalistische Diskurs hat zunehmend ein Menschenbild erzeugt, das nach Leistung strebt, nicht nach Berufung. Der Unterschied ist immens – auch wenn, wie Max Weber sagen würde, Beruf und Berufung dieselbe Wurzel haben. Wir werden immer wieder zu uns selbst zurückgeführt, ohne das Wort der anderen, mit all der Autonomie und der Last, die dies mit sich bringt. Was in der heutigen Zeit bleibt, ist die verantwortungsvolle Last des Berufs, doch der Sinn der Berufung ist verloren gegangen.
Der Mensch fällt allerdings nicht mit seinen Funktionen, Leistungen oder sozialen Routinen zusammen: Obwohl sie für die Anerkennung der anderen und für die gemeinsame Existenz – und damit für die persönliche Identität – von grundlegender Bedeutung sind, werden sie zu einer Figur des Todes, wenn sie sich totalisieren und den gesamten Raum und die gesamte Zeit des Lebens, des Einzelnen und der Gemeinschaft in Anspruch nehmen. Das erzeugt ein Leistungssubjekt, das sich zwischen Hyperaktivität und Erschöpfung, zwischen emotionaler Abstumpfung und Leistungsideologie bewegt und den Ansprüchen eines Selbstbildes unterworfen ist, in dem es sich nicht wiederfinden kann. Diese gefühllose, zielorientierte und immunisierte Haltung erzeugt eine unempfindsame Atmosphäre, ohne Resonanz und Empathie, die die Welt zunehmend einfriert und verhärtet.
Die Welt, so der Soziologe Hartmut Rosa, ist zum Aggressionspunkt unseres Handelns geworden: „Alles, was erscheint, muss gewusst, beherrscht, erobert, nutzbar gemacht werden.“ (Rosa 2020, 12) Der verwirklichte Traum der Moderne war tatsächlich, die „Verfügbarmachung der Welt“ voranzutreiben. Eine Welt aber, die als bloßes Objekt des Nutzens oder als Ort unserer Leistungen zu verstehen ist, wo alles verfügbar sein soll, ist eine Welt, die uns nicht mehr anspricht, eine Welt, die nicht nur ihre Magie und ihre Farbe, sondern auch ihren Sinn und ihre Stimme verloren hat: Sie „erkaltet“ zu einem geistlosen, „stahlharten Gehäuse“ (Weber 1963, 203).
In diesem Zusammenhang haben wir in den letzten Jahren auch das unerwartete Trauma der Pandemie erlebt, das uns immer noch wie ein Schatten verfolgt; wir leiden unter den Auswirkungen des Klimawandels und wir sind betroffen von der Tragödie des Krieges in der Ukraine, der die eigentlich friedliche und stabile geopolitische Lage in Europa erschüttert hat. Innerhalb dieser globalen Lage artikuliert sich in wachsendem Maße eine Beunruhigung, eine Art des Misstrauens und der Machtlosigkeit, die sich mit den Phänomenen der Verunsicherung, der Melancholie und der Entfremdung in Verbindung bringen lässt. Das kann zu einer noch größeren Verhärtung des gesellschaftlichen Austausches und zu einer Schwächung unserer Gemeinschaften führen. Unsere Gemeinschaften, auch die Kirchengemeinden, sind noch dabei, die Wunden zu heilen, die die Pandemie verursacht hat.
Die sanfte Macht einer Geste
Zärtlichkeit stellt in meiner Perspektive den Namen eines Protestes dar, der sich gerade diesem Prozess der Verhärtung und Verwirrung entgegensetzt. Protest bedeutet hierbei jedoch nicht einfach einen wagemutigen Sprung aus dem Bestehenden heraus, im Sinne einer erwünschten Weltflucht gegenüber einer Realität, die uns bedroht und uns nicht mehr anspricht. Trotz der schweren Hypothek, die auf diesem Wort liegt, und trotz des Risikos einer bloß sentimentalen Deutung dieses Begriffes bin ich davon überzeugt, dass genau jetzt die Zärtlichkeit ein anthropologisches, theologisches und sogar politisches Potenzial hat, unsere gegenwärtige Weltbeziehung infrage zu stellen und neue humanere Horizonte für das Zusammenleben „hier und jetzt“ freizusetzen. Aber wie kann dies geschehen?
Ich möchte Ihnen kurz eine schöne Szene erzählen, die eine psychoanalytische Sitzung und die psychoanalytische Praxis betrifft. Susanne Hommel, die jahrelang bei Jacques Lacan in Therapie war, hat etwas sehr Berührendes über eine Sitzung mit ihm in einem Interview1 erzählt. Frau Hommel war damals eine junge Patientin, die eine Analyse bei Lacan brauchte, um ihr Trauma zu verarbeiten. Sie ist eine Jüdin, die nach ihrer unüberwindbaren Erfahrung im Konzentrationslager nicht mehr gut schlafen konnte. Sie wachte jeden Morgen um 5 Uhr auf, denn während des Krieges kam um 5 Uhr immer die Gestapo, um die Juden aus ihren Häusern zu holen. In ihrem Interview erzählt sie, dass, sobald sie die Gestapo erwähnte, Lacan von seinem Stuhl, der hinter der psychoanalytischen Couch stand, aufsprang und ihr sanft über die Wange streichelte. Sie hörte ihn sagen: „geste à peau“, Geste an der Haut. Er hinterließ eine Liebkosung auf der Haut der Frau. Lacan verwandelte das Wort ‚Gestapo‘ in „geste à peau“. Es gibt nicht nur den Horror von Trauma und Gewalt, es gibt nicht nur die Gestapo. Es gibt auch die „geste à peau“, d. h. eine unerwartete Sanftheit, die das traumatische Geschichtsschreiben, das das Leben von Frau Hommel tiefgründig geprägt hatte, veränderte – und rettete. In dem Gespräch mit der Frau über diese Sitzung 40 Jahre zuvor sagt sie, dass diese Begegnung mit Lacans Hand, mit der Zärtlichkeit von Lacans Hand, ihre Erinnerung an die Gestapo für immer transformiert hat. Sie sagt:
„So eine zärtliche Geste! Sie war äußerst zärtlich. Diese Überraschung hat den Schmerz nicht gemindert, aber sie hat ihn verwandelt. Wenn ich Ihnen vierzig Jahre später von dieser Geste erzähle, kann ich sie immer noch auf meiner Wange spüren. Es ist eine Geste, die ein Appell an die Menschlichkeit war oder so ähnlich.“2
Die Metamorphose geschah dank der Gnade einer kleinen, unspektakulären Geste, die eine leidende Existenz von ihren Verfolgungen und Schatten erlöste. In einer anmutigen Geste, die den Terror berührt, eröffnen sich neue existenzielle Möglichkeiten und neue Gefühlswelten, die wahre Heilung mit sich bringen. Wenn uns die Zärtlichkeit streift, wird die Welt tatsächlich zu einem Ort, in dem wir noch leben können. Die Welt wird neu lesbar und neu bewohnbar.
Doch wie können wir hoffen, uns in etwas zu retten, das – wie ein Wort oder ein Streicheln – so zerbrechlich und vergänglich ist? Wie können wir überleben dank der zarten Lichtblicke eines Wortes oder einer Begegnung? Wie kann ein Gefäß mit Nardenöl ein Leben ändern? Jetzt denke ich an die kleine, aber starke Szene des Evangeliums in Simons Haus in Palästina, wo eine unbekannte Frau mit langen Haaren sich hinunterbeugt und sogar zu Füßen Jesu kauert, um mit ihren Tränen und dem kostbaren Salböl den Körper des Messias zu berühren. Wie kann ein Salböl, das sich wie eine „perlmutterne Spur der Schnecke“ (Montale 1976, 180) in einen Körper einschreibt, einen neuen Anfang für eine fast verlorene Existenz ermöglichen?
Dennoch, wir können an unseren Anfang als Menschen denken: Wie fangen wir an, zu leben, wie kommen wir zur Welt? Wenn man den Mut hat, ohne Zynismus zu bedenken, dass uns eine Geste der Zärtlichkeit auf die Welt gebracht und eine Geste der Zärtlichkeit uns am Leben erhalten hat, könnte man folgern, dass nur dank zärtlicher Gesten das eigentliche Potenzial des menschlichen Lebens freigesetzt werden kann. Und wenn wir in einer ursprünglichen Zärtlichkeit auf die Welt kommen, können wir nur dank einer Sprache der elementaren Zärtlichkeit die Welt weiter menschlich bewohnen und regenerieren.
In dieser Perspektive übernimmt die Kategorie der Zärtlichkeit eine spezifische Bedeutung: Sie entspricht nicht einfach der Erfahrung eines vagen Gefühls der Empathie oder der Nähe, sondern vielmehr der elementaren Wahrnehmung der Endlichkeit, nämlich der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge. In diesem Sinne erfährt diese Kategorie nun eine neue Lesbarkeit und Intelligibilität, denn wir sind heute mit der reinen Ausgesetztheit des Lebens konfrontiert, die eine neue Art unserer geteilten Fragilität offenbart. Zärtlichkeit kann hier ganz konkret als Bewahrung der Kontingenz in ihrer Schwachheit, Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit übersetzt werden.
Ist es deshalb möglich, von einer Zärtlichkeit des Endlichen zu sprechen? Es geht um das Bewusstsein oder das Bewusstwerden der feinen Konsistenz des Realen und demnach um das elementare Gefühl der subjektiven Begegnung mit der Vergänglichkeit der Welt. Zärtlichkeit benennt die Wahrnehmung des Endlichen als Bewusstsein seiner Verletzlichkeit und seines immer möglichen Entschwindens. Unter dem Blick der Zärtlichkeit leuchtet das Endliche in seiner reinen Kontingenz durch, d. h. in seinem Sein, das auch nicht sein könnte, das zwischen Identität und Zerstreuung, zwischen Beharren und Verschwinden, zwischen Kraft und Schwäche, zwischen Stabilität und Vorläufigkeit, zwischen Präsenz und Absenz oszilliert. Unter dem Blick der Zärtlichkeit erhellen sich die Menschen und die Dinge in ihrer Einfachheit, ohne Masken, ohne harte Schale. Zärtlichkeit nimmt die radikal ungeschützte, ausgesetzte, unbezahlbare Seite unserer Existenz und der Existenz der anderen wahr und erhält sie.
„Diese Zärtlichkeit des menschlichen Elends“, schreibt Pier Paolo Pasolini an Sandro Penna in einem Brief von Februar 1970, „umschließt dich wie eine irdische Aureole um einen himmlischen Kopf herum“ (vgl. Pasolini 1994, übers. von der Autorin). Pasolini beobachtet den Freund mit einem intensiven und affektiven Blick, dank dessen sich eine Zone der Nicht-Unterscheidung zwischen irdischer und himmlischer Welt eröffnet. Hier erscheint die Zärtlichkeit wie eine Aureole, wie ein irdischer Heiligenschein, der die Grenzen zwischen den zwei Welten zum Verschwimmen bringt, insofern er die Wirkung der Begegnung mit der Verletzlichkeit der individuellen Singularität ist. Deswegen entspricht die Zärtlichkeit einem Akt der Singularisierung, der jedes Subjekt oder Objekt mit dem Eigennamen anruft; oder, wie Olga Tokarczuk in ihrer Rede zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2019 dies beschreibt, sie stellt eine Kunst der Personifizierung dar, die die Wirklichkeit beseelt. „Zärtlichkeit“, schreibt die Autorin, „personalisiert alles, auf das sie sich bezieht. Sie lässt ihm Raum und Zeit, sich zu entwickeln, sie ermöglicht es, ihm Ausdruck zu verleihen, eine Stimme zu geben“ (Tokarczuk 2019, 59). Die Wahrnehmung des menschlichen Elends radikalisiert nicht die Zerstreuung und die Entfremdung, sondern intensiviert im Gegenteil die Sorge und die Bewahrung.
Zärtlichkeit Gottes
Aus diesen Gründen spürt der Philosoph Whitehead in der Zärtlichkeit eine echte metaphysische und theologische Dimension auf, die mit dem nicht vollendeten und prekären Zustand der Welt in Verbindung steht (vgl. Whitehead 1985). Die Zärtlichkeit Gottes besteht in der „zärtlichen Sorge dafür, dass nichts verloren geht“ – „tender care that nothing be lost“ (ebd., 346). In einer ähnlichen Weise schreibt Papst Franziskus in Evangelii Gaudium: „Jeder Mensch ist Objekt der unendlichen zarten Liebe des Herrn, und er selbst wohnt in seinem Leben.“3 Ist es möglich, eine „Theologie der Zärtlichkeit“ zu entfalten?
Theologischer Diskurs und Zärtlichkeit scheinen nur schwer vereinbar zu sein, als ob sie zwei entfernte oder sogar sich widersprechende Begriffe wären. Der Intellektualismus und Formalismus gewisser moderner und zeitgenössischer Philosophien und Theologien haben in der Tat ihr Verhältnis mit den Begegnungen der Körper, Affekte und mit den lebendigen Erfahrungen der Menschen systematisch verdrängt. Papst Franziskus hat 2018 in einer Ansprache gesagt:
„In Wirklichkeit verbindet unser Glaube sie unauflöslich miteinander. Theologie kann nicht abstrakt sein – wenn sie abstrakt wäre, wäre es Ideologie –, denn sie entspringt einer existentiellen Kenntnis, sie entsteht aus der Begegnung mit dem fleischgewordenen Wort! Die Theologie ist daher aufgerufen, die Konkretheit Gottes zu vermitteln, der Liebe ist. Und Zärtlichkeit ist ein gutes ‚konkretes Existenzial‘, um die Liebe, die der Herr zu uns hat, in unsere Zeit zu übersetzen.“4
Papst Franziskus definiert die Zärtlichkeit als ein „konkretes Existenzial“, d. h. eine Art Knotenpunkt menschlicher Existenz und fundamentalen Ausdruck unserer Grundverfassung. Kann die Zärtlichkeit ein eigentlicher Name des menschlichen Daseins sein? Und das aufgrund der Inkarnation Gottes? Kann die Zärtlichkeit eine Übersetzung der göttlichen Liebe in unsere Zeit darstellen?
Olga Tokarczuk hat die Zärtlichkeit als „die bescheidenste Form der Liebe“ beschrieben, die überall dort auftaucht, „wo wir unseren Blick eingehend und behutsam auf ein anderes Sein richten, auf etwas, das nicht unser ‚Ich‘ ist“ (Tokarczuk 2019, 59).
Zärtlich sein entspricht in erster Linie keiner moralischen Pflicht und keinem religiösen Gebot, vielmehr muss es als eine Frage der Achtsamkeit und Sensibilität für die Fragilität des Lebens verstanden werden. Es geht um einen elementaren Modus des Fühlens, um eine Art der Weltbegegnung, die sich auf der Basis von Anerkennungsprozessen, feinfühligem Mit-Sein und Gastfreundschaft entwickelt.
Deswegen taucht Zärtlichkeit immer dann auf, wenn wir uns ein anderes Wesen, das nicht unser „Ich“ ist, genau und aufmerksam ansehen. Bei diesen selbstlosen Erfahrungen ist die Gegenwart ausgedehnt und das Subjekt fühlt sich sowohl zentriert als auch dezentriert, da der Dreh- und Angelpunkt seiner Existenz vorübergehend die Beziehung wird. Es geht um ein Affiziert-Werden und ein Affizieren, ein Berührt-Werden und Berühren, um Affektion und Anrufung, die in der Lage sind, die Stummheit und Härte der Weltbeziehungen zu unterbrechen. Die Welt ist nicht mehr versteinert, sondern lebendig und ansprechbar. Wir haben hier eine nicht produktive und nicht objektivierende Weltbeziehung, wo Blick und Stille, Hören und Sprechen, Gefühl und Aufmerksamkeit einen neuen geistigen und humaneren Horizont freizusetzen vermögen. Es ist eine Art, die Wirklichkeit zu betrachten und zu verstehen, die frei von jeglichem Konsumzwang ist und im Gegenteil auf eine herzliche, offene und freundschaftliche Weltbegegnung ausgerichtet ist. Wir können an die beeindruckende biblische Szene aus dem Buch des Propheten Ezechiel denken (37,12–14), in der eine Schar unfruchtbarer Gebeine durch den Geist Gottes zu einer Schar lebendiger Menschen wurde (37,1–10). Ezechiel selbst gibt uns den Schlüssel zum Verständnis der Vision: Die Gebeine stehen für das Israel im Exil, das sich nun hoffnungslos verloren und endgültig am Ende fühlt (V. 11). In dieser Abwesenheit menschlicher Perspektiven kündigt der Herr sein Eingreifen an, eine neue Schöpfung (die Geschichte erinnert an Gen 2,7), in der die Gebeine wieder leben werden: Israel wird in seine Heimat zurückkehren und seine Reise durch die Geschichte fortsetzen. In diesem Moment wird Israel wahrhaftig erfahren („wissen“, V. 13–14), wer Gott ist. Der biblische Gott ist derjenige, der ausgetrocknete Gebeine wieder lebendig machen kann, weil ER Sehnen über sie spannt und sie mit Fleisch umgibt: „[…] ich überziehe euch mit Haut und bringe Geist in euch, dann werdet ihr lebendig. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin“ (Ez 37,6)5. Er ist derjenige, der mit seiner Zärtlichkeit „biegt, was starr ist, und wärmt, was eisig ist“.
Nicht zuletzt hat Olga Tokarczuk von einer „vierten Person“, von einem „zärtlichen Erzähler“, gesprochen. Der zärtliche Erzähler ist derjenige, „der die Perspektive sämtlicher Figuren mit einnimmt und zugleich den Horizont jeder einzelnen überschreitet, der mehr und weiter sieht, der die Zeit außer Acht lassen kann“ (2019, 52). Obwohl sie keine theologische Deutung dieser vierten Person anbietet, habe ich bei der Lektüre an eine Person bzw. an Gott gedacht als denjenigen, der in der Lage ist, das unendliche sowie berührende Geflecht menschlicher Wechselfälle unter dem Blick des Jüngsten Gerichts anzuschauen.
Theologisch gesehen könnte dieser liebevolle Erzähler als ein zärtlicher Gott gespürt und gedacht werden, der dafür sorgt, die Härte, Kälte und Trockenheit unserer Existenz mit Haut und Fleisch zu überziehen. Vor allem ist diese vierte Person diejenige, die Sorge dafür trägt, dass nichts verloren geht. Er/sie ist der- oder diejenige, der/die unsere Geschichten, Katastrophen, Widersprüche und fröhlichen Erfahrungen mit einem sanften Blick bewahrt und liebt. Gott wird hierbei der Name eines zärtlichen Gedächtnisses, das alles bewahrt und eine Signatur der Ewigkeit in unsere Existenz einschreibt.
Zeit und Zärtlichkeit
In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Zärtlichkeit mit einem tiefen Zeitbewusstsein verbunden ist. Sie verfügt über ein Sensorium für die Kontingenz und Vergänglichkeit unserer Existenz, das jedoch paradoxerweise in jedem zärtlichen Akt die Tiefe der Transzendenz wiederfindet.
Die italienische Dichterin Mariangela Gualtieri zeigt in ihren Versen, die ich Ihnen hier vorstellen möchte, dass die Wahrnehmung unseres endlichen Daseins eine unendliche Sehnsucht für die Endlichkeit entwickelt, die größer ist als die Sehnsucht nach unendlicher Ewigkeit:
Sei sanft mit mir. Sei höflich.
Die Zeit, die bleibt, ist kurz. Dann
werden wir strahlende Lichtspuren.
Und wie viel Nostalgie des Menschlichen
werden wir haben. Wie wir nun
Nostalgie der Unendlichkeit haben.
Wir werden aber keine Hände haben. Wir werden nicht mit den Händen streicheln können. Und nicht einmal Wangen, sanft zu streifen.
Eine Nostalgie des Unvollkommenen
wird die glänzenden Teilchen aufblasen.
(Gualtieri 2010, 124)
Gualtieri eröffnet hier mit ihrem Gedicht eine eigentlich mystische Dimension, die nicht im Sinne einer Sakralität oder Jenseitigkeit, sondern im Licht einer kontingenten und fragilen Leiblichkeit ganz konkret zur Sprache kommt. In der tiefen „Diesseitigkeit“ leuchtet die Kontingenz unserer Existenz, die zärtlich zu empfangen sein sollte. Die Endlichkeit unseres Leibes verlangt nach einer radikalen Hinwendung zum Augenblick, zum „Hier und Jetzt“. Wie Dietrich Bonhoeffer sagen würde, gäbe es im Letzten nur eine wirklich bedeutsame Stunde – die Gegenwart. „Heute und hier“ zeigt sich die Herausforderung der Wirklichkeit und so ist die konkrete Situation, der lebende Körper, das „Angesicht“ der anderen mit ihren Händen, Wangen, mit ihrer Präsenz und ihrem Zwielicht der eigentliche Ort der Begegnung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit bzw. der messianische Augenblick des Kommens des Gottesreiches. Es geht hier um eine Konzentration auf die Geste und um eine Sorge für das Unvollkommene, das heißt für die wahrgenommene und fragile Kontingenz der menschlichen Existenz in ihrer Berührbarkeit, die zum Ort einer vorzeitigen Nostalgie wird, die in der zärtlichen Wahrnehmung des Leibes entsteht: „Wir werden aber keine Hände haben. Wir werden nicht mit den Händen streicheln können.“ Die Zärtlichkeit verlangt von uns ein bewusstes Hineintreten in unsere komplizierte Wirklichkeit, um von dort aus den Blick auf die Ewigkeit zu richten.
Ich denke, dass die Zärtlichkeit in unserer Krisenzeit als eine mögliche Kategorie verstanden werden kann, die die prekäre Dimension der Wirklichkeit nicht verdrängt, ebenso wenig aber das Seiende scheinbar notwendigerweise der Bedeutungslosigkeit eines universellen Ins-Nichts-Gehens überlässt. Aus meiner Sicht spiegelt die Zärtlichkeit die nicht nihilistische und nicht dekonstruktive Seite der Wahrnehmung der Endlichkeit wider. Denn die ambivalente und unheimliche Wahrnehmung der Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit der Dinge führt nicht notwendigerweise zu Achtlosigkeit, Zynismus und Resignation. Im Gegenteil kann sie ein intensives Zeitgefühl erzeugen, das die Wirklichkeit unter der Perspektive des Jüngsten Gerichtes, d. h. unter dem Zeichen der Erlösung, offenbart. Es geht um eine geste à peau, die hier und jetzt eine Signatur der Ewigkeit in einen Körper einzuschreiben vermag.
Dieses Zeitgefühl, das ein anderer Name für Zärtlichkeit ist, ist jedoch nicht bereits gegeben – sie ist selbst kein „Fakt“ –, sondern muss jedes Mal gesucht und gewünscht werden. Sie soll als ein zärtlicher „Akt“, der sich als Widerstand gegen Entfremdung und Weltverlust versteht, gewollt werden. Es geht um einen zärtlichen Akt des Protestes gegen die Entfremdung, die Isolation und Verhärtung, die uns und die Wirklichkeit verletzen. Es geht um einen Protest gegen den Blick der Medusa, der die Welt zum leblosen oder virtuellen Gehäuse reduzieren will.
Literatur
Barthes, R. (1984): Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gualtieri, M. (2010): „Sii dolce con me“. In: Gualtieri, M. (Hrsg)., Bestia di gioia, Torino: Enaudi.
Heinrich, K. (1964): Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Freiburg: ça ira-Verlag.
Montale, E. (1976): „Kleines Testament“, übersetzt von Michael Freiherr Marschall von Biberstein, in: Der Sturmwind und anderes. Zürich: Coron.
Pasolini, P. P. (1994): Vita attraverso le lettere. Torino 1994.
Rosa, H. (2020): Unverfügbarkeit. Berlin: Suhrkamp.
Tokarczuk, O. (2019): Der liebevolle Erzähler. Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur. Zürich: Kampa.
Weber, M. (1963): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Weber, M. (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: Mohr Siebeck: Tübingen.
Whitehead, A. N. (1985): Process and Reality, New York: The Free Press.
Autorin:
Isabella Guanzini ist Universitätsprofessorin für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz. Ihre Schwerpunkte betreffen vor allem den Begriff der Übersetzung des Säkularen und des Religiösen im zeitgenössischen Kontext, das Verhältnis von Theologie und Ästhetik sowie von Christentum und Psychoanalyse. Unter ihren jüngsten Veröffentlichungen findet sich: Filosofia della gioia. Una cura per le malinconie del presente, Milano 2021.
i.guanzini@ku-linz.at
Fußnoten:
1 Das Interview ist online zu finden: https://www.youtube.com/watch?v=VA-SXCGwLvY.
2 Ebd.
3 Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, https://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html
4 Papst Franziskus, Ansprache von Papst Franziskus an die Teilnehmer an einem Kongress zum Thema „Die Theologie der Zärtlichkeit“, 13. September 2018, https://www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2018/september/documents/papa-francesco_20180913_convegno-tenerezza.html
5 Für die Bibelzitate wurde die deutsche Einheitsübersetzung (von 1980) herangezogen, verfügbar unter: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/