Eine Grasebene wird dargestellt. Der Himmel ist dunkelblau und gräulich gehalten. In der Mitte des Bildes ragt ein Tornado in die Landschaft. Dort wo er auf die Erde trifft sind rotschwarze Flecken zu sehen, welche seine explosive Wirkung darstellen. Ein weißer verzweigter Blitz ist am rechten Bildrand zu erkennen.

Stefan Wepil, Dorgon - Ragon, Bandor-Ebene, 2017 (Ausschnitt)

Foto: © Stefan Wepil
aus Heft 1/2023 – Fachthema
Gee Vero

Mein Körper veränderte sich und meine Welt geriet immer mehr aus den Fugen

Früher habe ich auch oft gesagt, dass mir andere Menschen egal wären und ich sowieso nicht mit auf den Schulausflug oder zur Tanzstunde wollte. Aber das stimmte nicht. Ich wusste, dass ich all diese Dinge nicht schaffen würde, und habe mich deshalb auf diese Weise da rausgenommen. Mir war es überhaupt nicht egal, aber ich wusste nicht, wie ich mit meinen Klassenkamerad:innen hätte mithalten können. Es erschien mir erträglicher, etwas abzulehnen, als ausgeschlossen oder ausgelacht zu werden.

→ Es fühlte sich besser an, der Außenseiter als der Versager zu sein. Es ist also Vorsicht geboten, wenn autistische Menschen von sich selbst sagen, dass sie gar nicht dazugehören und lieber für sich bleiben wollen. Ich fühlte mich aufgrund der mir fehlenden oder unzureichend vorhandenen Fähigkeiten, die es braucht, um das Verhalten, die Absichten und die Emotionen anderer Menschen zu erkennen und zu verstehen, nicht nur allein, ich war es auch. Aber ich litt unter diesem Alleinsein. Meine sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen und auch zur eigenen Familie waren sehr eingeschränkt.

Starre als Reaktion auf Selbstkonfrontation

Mein Überleben hing damals davon ab, den Teil, den ich als mein Selbst annehmen konnte, vom Rest meines physischen Daseins abzuspalten. Es war keine schlechte Strategie, aber es nahm mir die Möglichkeit, innere Prozesse ausreichend wahrzunehmen und zu verstehen. Meine Körperwahrnehmung war extrem eingeschränkt. Ich regelte alles mit dem Kopf. Kognitiv lief ich zu einer Höchstform auf, während ich das Fühlen fast vollständig herunterfuhr. Von Anfang an überforderten mich die Begegnungen mit anderen Menschen. Das Zusammensein mit anderen löste bei mir eine Selbstkonfrontation aus. Es gab mich zu plötzlich und zu viel. Diese erhöhte Selbstwahrnehmung war ständig vorhanden sowie, immer damit verbunden, die Angst vor einer Selbstkonfrontation. Als Selbstkonfrontation bezeichne ich den Zustand, bei dem meine Selbstwahrnehmung weit über das Limit hinausgeht. Stellen Sie sich vor, Sie müssten ganz unerwartet auf eine Bühne und – angestrahlt von zig Scheinwerfern – vor einem riesigen Publikum (weltweite Übertragung) über ein Thema reden, von dem Sie überhaupt keine Ahnung haben. Aus den Zuschauerreihen kommen die ersten Buhrufe und Lacher. Ach so, ich hatte vergessen zu erwähnen: Sie stehen völlig nackt und schutzlos auf dieser Bühne und es gibt keine Rückzugsmöglichkeit. Wie würde es Ihnen gehen? Was, denken Sie, würde passieren? Bei mir führte Selbstkonfrontation fast augenblicklich zu einer Starre. Da ich dies unbedingt vermeiden wollte, vermied ich alle Situationen, die meine Selbstwahrnehmung hochfuhren. Allein die Anwesenheit anderer Menschen, anfangs auch nur der Gedanke daran, führte bei mir zu Selbstkonfrontationen. Ich vermied, wo ich nur konnte, den Kontakt zu anderen Menschen. Und das, obwohl ich mir nichts mehr wünschte, als dazuzugehören.

Ich spaltete mein Selbst in drei Teile

Schon im Kindergartenalter realisierte ich, dass dieses Vermeiden von Begegnungen keine wirklich effektive Lösung für mich und meine Umgebung war. Ich hatte einige Strategien, die es mir ermöglichten, zeitlich begrenzt oder aus großer Entfernung ein Teil des Ganzen zu sein. Alles besserte sich, als ich meine Selbstwahrnehmung durch Dissoziation zu regulieren begann. Indem ich mein Selbst in drei Teile spaltete: als ich selbst, für mich selbst und durch mich selbst, konnte ich besser und mehr dabei sein und dies so aussehen lassen, wie es von meiner Umgebung erwartet wurde. Um in eine sichere Interaktion mit anderen Menschen gehen zu können, musste ich mindestens einen dieser drei Selbstteile „ersetzen“, aber besser noch zwei. Dass ich diese Strategie für mich finden konnte, geschah wie so oft in meinem Leben durch einen Zufall. Als ich es wieder einmal nicht schaffte, in Gegenwart meiner Großeltern zu essen, begann meine Großmutter mich zu füttern. Damit ersetzte sie das Essen durch mich selbst, ich musste also den Löffel nicht selbst zum Mund führen. An diesem Tag reichte das aber nicht aus. Die Selbstwahrnehmung war schon zu hoch. Ich konnte nicht essen. Erst als meine Großmutter auch den für mich selbst-Teil ersetzte, in dem sie sagte: „einen Löffel für die Oma, einen Löffel für den Opa …“, war es mir möglich zu essen. Es war wunderbar. Eine Offenbarung. Ohne es zu ahnen, hatte mir meine Großmutter eine wichtige Tür geöffnet. So ging ich nicht für mich selbst in die Schule, sondern ersetzte dies durch andere Personen. Ich stand früh auf für Menschen, denen ich gefallen wollte. Ich zog mich für jeden an, nur nicht für mich selbst. Ich ging für meinen Großvater zur Schule und später für einen Lehrer, den ich mochte. Und sobald ich dann noch nicht als ich selbst, sondern als irgendjemand anderer, zum Beispiel ein Buchcharakter oder Filmheld, agierte, klappte es sogar noch besser. Natürlich musste ich im Schulalltag das meiste durch mich selbst bestreiten. Alle drei Selbstteile zu ersetzen war selten möglich. Aber wenn, dann fühlte sich das fantastisch an. Aber auch nur zwei der Selbstteile zu ersetzen, gab mir die Chance, so zu agieren, wie es von meiner Umgebung erwartet wurde. Konnte ich jedoch keinen der drei Selbstteile ersetzen, erstarrte ich fast augenblicklich und mein Verhalten wurde von einer Minute auf die andere wieder auffällig. In der Kindergarten- und Grundschulzeit kam ich mit dieser und anderen Strategien einigermaßen gut zurecht. Es kostete mich enorm viel Kraft und Energie, meinen Alltag zu bewältigen. Ich galt trotz allem als komisch, jähzornig, unberechenbar, auffällig. Ich konnte vieles durch sehr gute schulische Leistungen „ausbügeln“ und so manches Verhalten wurde dadurch entschuldigt.

Erhöhte Körperwahrnehmung

Hilfsangebote blieben jedoch aus. Ich musste mir weiterhin allein helfen. Ich versuchte mich nachts zu regenerieren und zu verstehen, was tagsüber schiefgelaufen war und warum. Ich entwickelte neue Strategien, probierte sie aus, verwarf die meisten davon und fing wieder von vorn an. Aufgeben kam nie infrage. Dennoch überforderten mich die immer komplexer werdenden sozialen Netzwerke und Interaktionen während des Heranwachsens zunehmend. Ich sah keine andere Möglichkeit, als mich wieder zurückzuziehen. Entweder fiel es wirklich keinem auf oder es war den Menschen um mich herum egal. Besonders in dieser so wichtigen Entwicklungsphase hätte ich dringend Unterstützung gebraucht, stattdessen fühlte ich mich verlassener als je zuvor. Wie meine Schulkamerad:innen durchlief auch ich die körperlichen Veränderungen, die die Pubertät mit sich bringt. Da ich meinen Körper samt der damit verbundenen Wahrnehmung schon vor langer Zeit abgespaltet hatte, konnte und wollte ich mit dieser nun erzwungenen Körperwahrnehmung nicht umgehen. Ich erkannte diesen Teil meines Seins nicht mehr. Da sich mein Körper gefühlt von Tag zu Tag mehr veränderte, geriet meine Welt, die immer nur ein Kartenhaus gewesen war, mächtig aus den Fugen. Die erhöhte Körperwahrnehmung führte vor allem dazu, dass meine Selbstwahrnehmung wieder enorm hochfuhr. Nun kam es wieder öfter zu Situationen, in denen sie in Selbstkonfrontation mündete und ich mit Erstarrung reagierte. Erst viel später würde mir klar werden, dass ich mich die ganze Zeit in dieser Erstarrung befand, die irgendwann in meiner frühen Kindheit Besitz von mir ergriffen hatte. Dort wartete ich auf Hilfe, seit Jahren und noch für viele Jahrzehnte. Ich konnte mir nicht selber helfen und es schien niemandem aufzufallen, dass ich mit meiner Peergroup überhaupt nicht mehr mithalten konnte. Ich war raus, aber es störte keinen.

Ich stand mittendrin und war vollkommen allein

Ich wusste schon sehr früh in meinem Leben, dass ich anders war als die anderen, aber ich hatte keine Ahnung, warum das so war. In meiner Jugend wurde mir dies noch einmal um ein Vielfaches bewusster. Um mich herum veränderten sich die Menschen, mit denen ich aufgewachsen war. Nichts war mehr vertraut, jede Sicherheit, die ich mir bisher geschaffen hatte, war mit einem Mal weg. In der Kindergartenzeit fiel mir auf, dass die Interaktion der Jungen unter- und miteinander für mich viel einfacher zu durchschauen war als die der Mädchen. Mit den Jungen konnte ich besser mithalten. Sie sprachen eine für mich klarere Sprache. Dadurch konnte ich ihre Absichten besser erkennen. Die Jungen erschienen mir ehrlicher und offener im Umgang miteinander. Sie setzten deutlichere Zeichen und klärten Probleme untereinander ganz anders, als ich es bei den Mädchen beobachten konnte. Da ich nicht wusste, dass ich als Mädchen auch mit den Mädchen spielen und interagieren sollte, schloss ich mich aus den oben genannten Gründen den Jungen an. Natürlich versuchte ich auch, mich den Jungen anzupassen, denn ich wollte ja zu dieser Gruppe gehören. Dies führte schnell dazu, dass mich die Mädchen zwar nicht generell ablehnten, aber nicht als zu ihrer Gruppe zugehörig empfanden. Im Allgemeinen wurde mein Anschluss an die Jungengruppe über viele Jahre auch ohne großes Nachfragen oder Wundern von der Umgebung, also auch von den Jungen selbst, akzeptiert. Erst mit der Pubertät änderte sich das, und zwar grundlegend.

Die Mädchen, die mir immer schon kompliziert erschienen, wurden nun zu jungen Frauen, die ich gar nicht mehr verstand. Die Jungen, die jahrelang verlässliche Spielkameraden gewesen waren und mir das Gefühl gegeben hatten, dass ich dazugehörte, lehnten mich plötzlich ab. Sie schlossen mich aus ihrer Gruppe aus, weil ich ein Mädchen war. Alles, was vorher keine Rolle gespielt hatte, war nun umso wichtiger. Die Kindergruppe, zu der ich seit meinem dritten Lebensjahr gehörte, bestand immer schon aus zwei Lagern: den Jungen auf der einen und den Mädchen auf der anderen Seite. Aber bis zum Eintritt in die Pubertät hatte es niemanden gestört, welchem Lager ich mich angeschlossen hatte und warum. Nun plötzlich war genau das ein Problem. Die Jungen sahen auf einmal das Mädchen in mir und kündigten mir die Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe. Die Mädchen sahen aber weiterhin „den Jungen“ in mir, der ich ja auch sein wollte, weil dies mir den Anschluss an eine Gruppe ermöglicht hatte, und öffneten sich mir nicht. Ich stand mittendrin, mitten unter all diesen Kindern, und war vollkommen allein. Eine allein kann keine Gruppe sein. Ich begriff, dass ich den Anschluss an die Mädchengruppe schaffen musste, und bemühte mich nach allen Kräften darum. Da ich sie aber nicht verstand, nicht entschlüsseln konnte, konnte ich mich ihnen nicht so anpassen, wie mir das bei den Jungen gelungen war. All die Dinge, die für die Mädchen wichtig waren (Schminken, Haare, Mode, Jungen, Tuscheln etc.), waren mir fremd und ich konnte damit nichts anfangen, konnte es nicht einmal annähernd gut genug imitieren. So, wie ich war, nahmen sie mich nicht an. Von außen betrachtet, mag es so gewirkt haben, als hätte ich mich abgewandt, aber so war es nicht. Alle Versuche, mich anzupassen und dem zu entsprechen, was von mir erwartet wurde, schlugen fehl. Sie schlugen fehl, weil es keinerlei Akzeptanz für mein Anderssein gab, nicht, weil ich mich nicht bemühte. Keiner reichte mir die Hand, es kamen keinerlei Hilfsangebote. Die Jungen, mit denen ich viele gute Zeiten verbracht hatte und denen ich eine Freundin gewesen war, ließen mich nicht wieder in ihre Gruppe. Für sie war ich nun kein Spielkamerad mehr, sondern ein Mädchen auf dem Weg zur Frau. Obwohl mein Aussehen dem überhaupt nicht entsprach, ordneten sie mich gnadenlos dieser Gruppe zu und die wenigen freundschaftlichen Bande, die ich während meiner Kindheit zu knüpfen imstande war, lösten sich fast über Nacht in Luft auf. Mir wurde täglich klargemacht, dass ich weder zur einen noch zur anderen Gruppe gehörte. Beide begannen mich zu mobben. Die Jungen machten Witze über das Mädchen, das wie ein Junge aussah und agierte. Die Mädchen lachten über jeden meiner Versuche, mich wie ein Mädchen zu verhalten, zu kleiden oder irgendwie bei ihnen anzudocken. Dies löste größte Unsicherheit in mir aus und führte zu einer lang anhaltenden Phase der Verwirrtheit hinsichtlich dessen, wer ich bin und wo mein Platz ist.

Alle Versuche, dazuzugehören, misslangen

Ich unternahm immer weniger. Letztendlich begriff ich, dass ich den Anschluss schon lange vorher verpasst hatte. Der Zug war abgefahren. Viel später wurde mir klar, dass es diesen Zug gar nicht gegeben hatte. Ich hatte mein ganzes Leben lang völlig umsonst am Bahnsteig gestanden und gewartet. Es würde Jahre dauern, ehe mich jemand dort abholen würde. Vorerst holte mich niemand dort ab, wo ich wartete. Dieses wachsende Bewusstsein dafür, dass ich nicht passte und ich mir nicht selber helfen konnte, führte letztendlich dazu, dass ich nicht nur suizidale Gedanken entwickelte, sondern mehrfach versuchte, mir das Leben zu nehmen. Ich empfand mich als fremd und unpassend in einer Welt, die ich nicht verstand und der es scheinbar egal war, ob es mich gab oder nicht. Ich fühlte mich unsichtbar. Nicht weil ich es sein wollte, sondern weil ich so behandelt wurde. Ich versuchte immer, mit meinen Mitmenschen in Kontakt zu kommen, Beziehungen aufzubauen und mit ihnen zu kommunizieren. Ich hatte von Anfang an Interesse an Menschen und ihren Geschichten. Was mir fehlte, waren die Werkzeuge, um (inter-)aktiv werden zu können. In meiner Jugend wurde mir klar, dass ich mir die größtmögliche Mühe geben konnte, dazuzugehören und ein wertvoller Teil der Gruppe zu sein, aber ohne die Hilfe und Unterstützung, die Akzeptanz meiner Mitmenschen würde ich es nie schaffen. Gegen Ende meiner Schulzeit kam es dann auch noch zu großen Veränderungen in dem Land, in dem ich lebte. Ich war gerade 18 geworden und in der 12. Klasse, als sich die DDR über Nacht auflöste und nichts mehr so war, wie ich es kannte. Ich bestand das Abitur, aber ich verlor endgültig den Boden unter den Füßen. Während es meine Mitmenschen in die Welt hinauszog, zog ich mich zurück, räumlich, aber vor allem auch mental. Dieses In-mir-Sein war das Einzige, was noch funktionierte. Irgendwann, allein und auf mich gestellt, begann ich schließlich zu malen und entdeckte meine Sprache. Der entscheidende Impuls kam von Bildhauer Peter Weidl, der mir bei einem Besuch in seinem Atelier einen schwarzen Edding 3000 und ein Blatt Papier in die Hände drückte. Das erste Bareface entstand.

Spät entdeckte ich meine Sprache: das Malen

Es war wie eine Befreiung. Ich malte, aber vorerst nur für mich. Ein Bild musste aus einer einzigen Linie bestehen bzw. alle Linien mussten miteinander verbunden sein. Ich malte nur mit schwarzem Edding und später dann nur auf 25 × 25 cm großem Aquarellpapier. Ich blieb weiterhin in meiner Erstarrung, aber das Malen ließ mich einiges von dem ausdrücken, was ich nicht in Worte fassen konnte. Malen half mir durch die Zeit der späten Jugend bzw. des frühen Erwachsenenalters. Endlich konnte ich ausdrücken, was ich nicht mit gesprochener Sprache erklären konnte. Dass es niemand verstand, lag zunächst daran, dass ich fast jedes Bild kurz nach seiner Beendigung zerstörte. Für mich war ausschließlich der Entstehungsprozess wichtig. Viel später, als ich die Bilder auch zu zeigen begann, blieben sie für viele Betrachter trotzdem unverständlich. Ich malte in einer Sprache, die sie nicht verstanden. Weil ich nicht anders konnte, versuchte ich in meinem späteren Leben meinen Mitmenschen über die Kunst, das Malen, zu begegnen und auf diese Weise mit ihnen in Kontakt zu kommen. Ich kehrte zurück zu meinem Bareface und lud Menschen ein, mir auf diesem Blatt Papier zu begegnen. Das so entstandene Kunstprojekt The Art of Inclusion ist eine Aufforderung an mein Gegenüber, mir offen und ehrlich zu begegnen, so, wie er:sie ist. Malen, genauso wie Musik und Tanz oder auch die Gebärdensprache, ist eine nonverbale Sprache, die Menschen von sich und ihrem Erleben erzählen lässt. Nonverbale Kommunikation sollte viel stärker angeboten und gefördert werden. Kreative Schulfächer wie Kunst und Musik sollten ohne Benotung mit viel Raum zur freien Entfaltung und Selbstfindung unterrichtet werden. Die Gebärdensprache, eine Art Tanz der Finger und Hände, sollte die erste Fremdsprache in jeder Schule sein.

Jeder Mensch hat seine individuelle Geschichte

Keiner von uns kann alleine überleben. Wir brauchen die Gruppe und sind in vielem von unseren Mitmenschen abhängig. Das Gefühl, angenommen zu werden und dazuzugehören, ist für jeden von uns wichtig. Autistischen Menschen fällt es oft sehr schwer, sozialen Kontakt herzustellen und Beziehungen aufrechtzuerhalten. Frühkindlichen Autist:innen ist dies oft gänzlich unmöglich. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sie diese Kontakte nicht wollen.

Vielen Jugendlichen fällt es während der Pubertät sehr schwer, sich selbst und andere zu verstehen und über ihre Gefühle und Emotionen zu sprechen. Für autistische Menschen kann dies so schwer sein, dass sie sich ganz zurückziehen und die große Chance, die diese Zeit bietet, nicht für sich und ihre Entwicklung nutzen können. Der Fokus bei autistischen Verhaltensweisen sollte neben der frühen Intervention auch die ausreichende individuelle Unterstützung in der gesamten Kindheit und Jugend, besonders in der Pubertät, sein. Auf meine Jugend zurückblickend, wird mir klar, dass es mir sehr geholfen hätte, wenn ich das Malen als alternative Form der Kommunikation schon damals gehabt hätte. Es hätte eine Brücke sein können, und diese Brücke müssen wir für nachfolgende Generationen unbedingt bauen.

Im Alter denken viele Menschen an ihre Jugend zurück und meinen, dass das Leben damals viel einfacher gewesen sei. Das täuscht, denn die Jugend ist für keinen von uns eine leichte Zeit. Es ist eine Zeit des Umbruches und der Veränderungen. Dieser Abschnitt unseres Lebens ist zwar keineswegs einfach, aber er birgt unheimlich viel Potenzial für unsere weitere Entwicklung. Die Pubertät ist ein wichtiger Lebensabschnitt, denn hier werden nochmals Weichen für unseren weiteren Lebensweg gestellt. Damit wir den für uns richtigen Weg gehen können, benötigt jeder junge Mensch eine gute und sichere Begleitung und umfangreiche Unterstützung durch die Eltern, Lehrer:innen, Erzieher:innen, Betreuer:innen oder auch Therapeut:innen.

Dies trifft besonders auf autistische Menschen zu. Hier gilt es, die Pubertät als Chance zu begreifen und zu nutzen. Ich möchte an dieser Stelle aber betonen, dass es enorm wichtig ist, dass wir viel früher feststellen, ob ein Kind aus irgendeinem Grund in seiner Entwicklung behindert wird, um zu gewährleisten, dass eine adäquate Intervention zum Wohle des Kindes frühestmöglich stattfindet. Das Kind muss dort abgeholt werden, wo es sich gerade befindet, und es muss auf die Art und Weise abgeholt werden, dass es folgen kann. Ich habe noch bis in mein Erwachsenenalter darauf warten müssen, abgeholt zu werden. Vieles hat sich seit meiner Kindheit und Jugend verändert, aber hinsichtlich des Verständnisses für Menschen, die anders sind, hat sich wenig getan. Es fehlt an Akzeptanz, aber auch an lösungsorientierten Hilfsangeboten für Menschen mit der Diagnose Autismus. Diagnostiziert wird zwar häufiger und schneller – aber wird auch wirklich genau hingeschaut? Wird nach den Ursachen gesucht? Ich meine hier nicht die Ursachen für die Diagnose Autismus, sondern die Gründe für die Probleme, die ein Mensch hat, der diese Diagnose letztendlich erhält. Wir müssen jeden einzelnen Menschen mit seiner individuellen Geschichte sehen, denn nur dann können wir ihm auch wirklich helfen. Diese Hilfe sollte in der frühen Kindheit zur Verfügung stehen, damit Menschen nicht dieselben Erfahrungen während der Jugend und des frühen Erwachsenenalters machen müssen wie ich.

Autorin

Gee Vero wurde 1971 in der DDR geboren. Sie studierte Anglistik und Amerikanistik an der Universität Leipzig, bevor sie für längere Zeit nach London ging. Seit 2013 arbeitet sie als freischaffende Referentin für Autismus. Ihr eigener Autismus wurde erst im Alter von 39 Jahren diagnostiziert. Sie hält europaweit Vorträge und Workshops zu diesem Thema und wirbt so für mehr Verständnis und Akzeptanz für autistische Menschen. Gee Vero ist die Initiatorin des Kunstprojektes The Art of Inclusion, das seit 2010 über das Medium Kunst auf die Notwendigkeit von Autismus-Akzeptanz aufmerksam macht.

www.bareface.jimdo.com

Bücher von Gee Vero:

Vero, Gee (2020): Das andere Kind in der Schule. Autismus im Klassenzimmer. Stuttgart: Kohlhammer.

In diesem authentischen Mutmach-Buch zeige ich, wie eine erfolgreiche Beschulung autistischer Kinder gelingen kann. Ich berichte von meiner eigenen Schulzeit als Asperger-Autistin sowie aus dem Schulalltag meines Sohnes, der mit seinem frühkindlichen Autismus eine Schule für geistige Entwicklung besucht. Die Andersartigkeit autistischer Kinder in sozialer Interaktion und Kommunikation wird erklärt, Strategien zur Bewältigung des Schulalltages mit autistischen Kindern werden erläutert und realisierbare Wege zur inklusiven Schule aufgezeigt. Ich stelle zudem auch zahlreiche Checklisten und Anregungen zur Verfügung. Das Buch hilft sowohl Lehrkräften als auch all jenen, die autistischen Kindern im Kontext Schule begegnen, sich besser in das „andere Kind“ in der Klasse hineinzuversetzen. 

 „Meine Brücke zu dir“ mit M. Matzies-Köhler ist im Kohlhammer Verlag erschienen.

„Autismus – (m)eine andere Wahrnehmung“ ist direkt bei Gee Vero um 16 € erhältlich.

 Demnächst kommt ein Buch von Gee Vero über Autismus in der Kitazeit heraus.