Als Autistin ans Ende der Welt - meine Traumreise in die Antarktis
Antarktis? Mein Reisewunsch rief schon im Vorfeld ungläubiges Staunen hervor – warum denn unbedingt dorthin? Zu kalt, zu abgelegen, zu grau und lebensfeindlich, befand meine Umgebung. Aber da ich nur wenig auf die Meinung anderer Menschen gebe und mir nichts Spannenderes vorstellen konnte als einen Erdteil völlig ohne Bevölkerung, erfüllte ich mir meinen Traum.
→ Ich hatte schon lange von einer Reise zur Antarktis geträumt. Die Stille, die Tierwelt und die grandiose Natur – das alles erschien mir so fantastisch, dass ich es selbst einmal erleben wollte. Schließlich war es dann so weit – und ich sollte nicht enttäuscht werden! Nach einiger Vorbereitung startete ich mit einem Linienflug nach Santiago de Chile und konnte noch einen Tag lang diese entspannte Stadt erkunden, die mir sehr gefallen hat. Abends dann, nach einem Glas chilenischem Rotwein im Hotel, beschlich mich erstmals doch ein bisschen Angst vor der Vorstellung, mit all den Menschen auf dem engen Schiff zu sein. In der Regel brauche ich einfach meine Freiräume. Vieles ging mir durch den Kopf: Mit wem würde ich beim Abendessen am Tisch sitzen (bei Frühstück und Mittages-sen konnte man zum Glück frei den Platz wählen, was mir entgegenkam)? Was könnte ich mit den Leuten sprechen? Wie sollte ich mit der permanenten Anwesenheit anderer Men-schen klarkommen? Bei einer früheren Schiffsreise in Norwegen war ich immer die Erste, die in den zahlreichen Häfen von Bord ging, und die Letzte, die zurückkehrte – das würde diesmal so nicht gehen, denn auf offenem Meer konnte ich natürlich nicht einfach aus-steigen. Aber die Vorfreude überwog, und so flog ich mit der Gruppe weiter in den Süden Chiles, wo die Einschiffung auf ein Schiff der norwegischen Reederei „Hurtigruten“ statt-fand. Seit wenigen Jahren ist es mit dieser Reederei nicht nur möglich, die bekannte „Postschiffroute“ entlang der norwegischen Küste zu befahren, sondern eben auch, eine Kreuzfahrt in die Polarregionen der Erde zu machen.
Die Antarktis ist ein Kontinent des Friedens, wohl der einzige Ort der Erde, an dem sich die Menschen nicht bekriegen, denn der Antarktis-Vertrag von 1959 schreibt fest, dass der Kontinent niemandem gehört. Trotzdem melden zahlreiche Staaten Gebietsansprüche an für den Fall, dass diese Vereinbarung einmal fällt. Die Drakestraße zwischen Südamerika und der Antarktischen Halbinsel gehört zu den gefährlichsten Seegebieten der Welt. Bei unserer Durchfahrt aber schien die Sonne und das Meer war fast still. Sturmvögel und Albatrosse begleiteten uns, und an der Bar servierten die Mitarbeiter einen Cocktail zum Sonderpreis „auf eine ruhige, glückliche Drake-Passage“. Man kann eben alles feiern …
Herausforderung Abendessen
Nicht ganz so einfach war für mich jedoch tatsächlich das Abendessen, wo man an große Tische eingeteilt wurde. Es fällt mir schwer, auf andere Menschen zuzugehen, ein Ge-spräch mit ihnen zu beginnen und in Gang zu halten; vor allem die Konversation über scheinbare Nebensächlichkeiten gelingt mir nicht gut und erscheint mir unehrlich – warum spricht man etwa über das Wetter, wenn es eigentlich niemanden interessiert? Einfacher wäre für mich ein Gespräch über ein vorher festgelegtes Thema gewesen, aber das ist in einem solchen Kontext natürlich nicht möglich. Und so grübelte ich nach dem ersten Abend an Bord die ganze Nacht hindurch darüber nach, wie ich die Situation für mich einfacher gestalten könnte. Ich beschloss schließlich, das Abendessen auf diese Weise nicht noch-mals einzunehmen. Das war es mir nicht wert, das konnte ich so nicht. Die Leute waren nett, aber es überforderte mich deutlich, an einem großen Tisch mit neun fremden Men-schen zu sitzen, ihnen zuzuhören und zu überlegen, was auch ich Sinnvolles beitragen könnte, und dann auch und vor allem mein Essen zu genießen. Als Erstmaßnahme be-merkte ich also irgendwann beiläufig, dass mir die zweite Essenszeit eigentlich zu spät war und ich so spät sonst nie esse (das stimmte auch; das Abendessen fing für unsere Gruppe um 20.30 an und wir saßen bis nach 22.00, bis alles serviert und aufgegessen war). Meine Sitznachbarin sagte, man könne, wenn man das wolle, in die frühere Gruppe mit Beginn um 18.30 Uhr wechseln. Ich wusste das, wollte aber abwarten, weil ich es als Argument ganz brauchbar fand … Ich glaube also, alle haben verstanden, dass es nicht um sie ging.
Wenn es abends Büfett gab (etwa an jedem zweiten Abend), war freie Zeit- und Platz-wahl im Restaurant, das war für mich machbar, dann war es nicht so voll und ich hatte einen Tisch für mich. Bei einem servierten Menü an Tagen, an denen das Schiff auf See unterwegs war, aß ich stattdessen ein belegtes Brot – allein auf dem Aussichtsdeck, mit Blick auf die tolle Natur und mit einem unbeschreiblichen Gefühl von Freiheit, weil alle an-deren Gäste gerade im Restaurant saßen. Das war so schön. Ich hatte es dort viel ange-nehmer als im lauten, chaotischen Restaurant. Mein Käsebrot schmeckte fantastisch. Ich habe mir schon lange abgewöhnt, alles tun zu müssen, was andere für mich vorgesehen haben. Es war mein Urlaub und meine Reise. Ich beschloss, das nun immer so zu tun. Wie schön, dass ich auf diese Idee gekommen war! Ich musste ein bisschen weinen vor Glück, weil ich so entlastet war.
Intensive Natur- und Tiererlebnisse
Nach zwei Seetagen war es dann endlich so weit und wir erreichten den kältesten, win-digsten, trockensten (es gibt hier weniger Niederschlag als in der Sahara!) und höchsten Kontinent der Erde. Da nicht mehr als 100 Passagiere gleichzeitig in der Antarktis an Land gehen dürfen, teilte die Crew ihre Gäste in Gruppen ein. Tief im Schiffsrumpf warteten wir vorfreudig-nervös dann jeweils auf die Landgänge in Tenderbooten. Der erste Ausflug führte auf „Half-Moon-Island“, eine dem antarktischen Festland vorgelagerte Insel, die zur Gruppe der Südlichen Shetlandinseln gehört. Wir wurden von einer riesigen Kolonie von Zügelpinguinen begrüßt. Jedes Betreten der Antarktis unterliegt einer Vielzahl von Best-immungen, die dem Schutz der Natur dienen und auf die wir vor jeder Anlandung hinge-wiesen wurden. So ist etwa Abstand zu den Tieren einzuhalten (die dann aber oft neugie-rig sind und sich von selbst nähern), es dürfen keine Lebensmittel mitgebracht werden und der Toilettengang muss auf die Zeit nach der Rückkehr auf das Schiff verschoben werden. Alles soll so ursprünglich bleiben, wie es vorgefunden wurde – und das ist auch gut so.
Zurück an Bord, schossen ringsum plötzlich Fontänen in die Luft, als mehrere Buckel-wale unser Schiff begleiteten. Andächtig bestaunten wir die Riesen, während sich grandio-se Eisberge an uns vorbeischoben. Schon am ersten Tag in der Antarktis bot die Natur fast alles auf, was sie zu bieten hatte! Wir fuhren die Antarktische Halbinsel entlang nach Süden. Die Umgebung veränderte sich ständig, ich konnte mich gar nicht sattsehen und war meist auf dem Aussichtsdeck zu finden. Es folgten noch mehrere Anlandungen auf dem antarktischen Festland und Fahrten mit den Tenderbooten, die ein enges Heranfahren an die Eisberge ermöglichten. Wir hatten großes Glück und genossen traumhaftes Wetter mit strahlendem Sonnenschein, tiefblauem Himmel und glitzerndem Eis bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Da man bei den Landgängen ständig in Bewegung war, ließ sich die Kälte gut ertragen. Wir bestaunten unzählige Eisberge in allen nur denkbaren Formen, je-der ein Unikat. Unvergessen bleiben vor allem die Begegnungen mit den Esels- und Zügel-pinguinen, nicht selten kauerten wir in unseren Outdoorhosen in ihrer Nähe auf dem Bo-den, unsere Stiefel mit Schlamm und Pinguinkot bedeckt. Es war ein sehr intensives Na-tur- und Tiererlebnis, und es war großartig.
Während der Zeit an Bord waren viele Reisende damit beschäftigt, ihre Fotos zu sichten, zu katalogisieren und zu bearbeiten. Man tauschte sich über die Ereignisse des Tages aus und war sich einig, täglich neue aufregende Stunden erlebt zu haben. Allmählich ging es auch mir selbst ganz gut auf dem Schiff. Ich hatte meinen Rhythmus gefunden, mit dem ich zurechtkam. Anfangs war ich sehr traurig und auch ein bisschen frustriert, weil man-che Leute, die mich nur einmal getroffen hatten, mich scheinbar überhaupt nicht mehr anschauten. Ich machte mir viele Gedanken, warum sie mich nicht mochten, denn ich hatte ihnen doch gar nichts getan. Aber nach einiger Zeit gelang es mir, mit einigen Mit-reisenden ganz nett ins Gespräch zu kommen – mit manchen nur einmal (weil sie sich zu mir an den Frühstückstisch setzten), mit anderen öfter, weil ich ihnen immer wieder am offenen Deck begegnete, während wir gemeinsam nach Tieren Ausschau hielten oder über die Landschaft staunten. Das war schön, und dieses sich wiederholende kurze Aufeinan-dertreffen gefiel mir. Man unterhielt sich kurz nett und trennte sich dann wieder. Auch der Fotokurs, den ich gebucht hatte, half mir dabei. Er war eine gute Möglichkeit, in Kontakt zu kommen und dabei auch noch etwas Sinnvolles und gleichzeitig Angenehmes zu tun. Meine Lösung für das Abendessen funktionierte ganz fantastisch, ich war sehr glücklich damit. Eine nette Studentin setzte sich gelegentlich zu mir an den Frühstückstisch, was schön war. Sie erzählte, dass sie sich nach der Rückkehr am meisten auf ein Abendessen in Ruhe freue. Immer mit den vielen Leuten am Tisch – das sei nichts für sie. Ich berichte-te ihr von meiner Lösung, und sie schien vollkommen begeistert zu sein.
Stürmischer Reiseabschluss
Nach einigen Tagen erreichte unser Schiff schließlich den engen Lemaire-Kanal, der den südlichsten Punkt unserer Reise markierte. Da in der Antarktis bereits der Herbst einge-setzt hatte, war zwischen den Eisschollen kein Durchkommen mehr. Wir machten uns also auf den Rückweg in Richtung Südamerika, dabei gerieten wir leider über vier Tage hinweg in einen schweren Sturm. Nur die Allerhärtesten von uns schafften es noch aufs Aus-sichtsdeck, und zwanzig Meter hohe Wellen mit heftigem Schaukeln sorgten dafür, dass ich sämtliche Hilfen gegen Seekrankheit dann doch noch ausprobieren wollte, um mich größtenteils auf den Beinen halten zu können: häufige kleine Mahlzeiten, Ingwertee, Zit-rone, entsprechende Präparate aus der Apotheke – das alles half ein bisschen, und ir-gendwann gewöhnte ich mich an den Zustand, dann wurde es leichter. Ich verstand nun, weshalb ein Plastikstuhl in der Dusche stand, denn im Stehen wäre die Körperpflege nicht mehr möglich gewesen, und ich richtete mich entsprechend ein – alles, was nicht herunter-fallen sollte, legte ich kurzerhand auf den Boden meiner Kabine, und die An-ti-Rutsch-Matte, die ich im Gepäck hatte, tat nun gute Dienste.
Die freie Zeit verbrachte ich mit dem Bearbeiten der Fotos, damit ich mir, zu Hause angekommen, rasch ein schönes Fotobuch zusammenstellen konnte. So freue ich mich noch heute, immer wenn ich es im Regal stehen sehe, über die fantastischen Erfahrungen. Denn eine solche Reise geht natürlich weiter, auch wenn man längst zu Hause ist. In Ge-danken und in der Seele. Es war ein Privileg, in die Antarktis reisen zu dürfen, ich bin sehr dankbar für diese großartige Chance. Ich hatte geahnt, dass es nichts Erhabeneres geben konnte, und ich lag damit richtig. Es war eine tolle Reise in eine Natur, wie sie in ihrer menschlichen Unberührtheit, Ursprünglichkeit und Unzugänglichkeit sonst auf dem Globus kaum noch existiert – ein echtes „Once-in-a-lifetime-Erlebnis“. Mehr noch: Ich durfte eines der Wunder unserer Erde hautnah erfahren.
Intuitiv hatte ich das für mich passende Reiseziel gewählt, denn in kalten Klimazonen und abgeschiedenen Gegenden kommt die empfindliche Wahrnehmung autistischer Men-schen durch die dort bestehende Reizarmut ein bisschen zur Ruhe. Klare, kalte Luft, Stille und nur wenig taktile oder olfaktorische Reize auf dem Aussichtsdeck (abgesehen vom Pinguinkot an Land!) etwa sorgten dafür, dass ich mich ganz auf die optischen Eindrücke konzentrieren konnte. Ich kann gut entspannen, wenn ich mich mit meinen Interessen beschäftige. Das ist u. a. die Digitalfotografie – und dafür war die Antarktis perfekt geeig-net.
Autismus und fremde Kulturen
Als Autistin ans Ende der Welt – das funktionierte nicht nur, sondern es war ganz wunder-schön. Es ist mir ein großes Anliegen, dies auch anderen Menschen mit ähnlichen Heraus-forderungen zu vermitteln. Es ist wichtig, die Schwierigkeiten und Hürden zu analysieren und Strategien dafür zu erarbeiten. Manche Menschen finden es mutig, als Frau alleine durch die Welt zu reisen. Tatsächlich aber ist es eben meiner Situation geschuldet. Ich lebe alleine und habe keine Reisebegleitung – aber ich möchte deshalb nicht auf die vielen spannenden Erlebnisse und Erfahrungen verzichten müssen. Und ich merke immer wieder, dass es manchmal sogar einfacher ist, sich als Autistin in einer fremden Kultur zu bewe-gen. Die persönlichen Auffälligkeiten werden dann häufig einfach den kulturellen Unter-schieden zugeschrieben, was ein Erklären unnötig macht. So war es zum Beispiel auch, als ich während meines Studiums ein mehrmonatiges Praktikum in Uganda machte. Natürlich bemerkten die Einheimischen mein zurückhaltendes und schüchternes Wesen, gingen aber ganz selbstverständlich davon aus: Die Deutschen sind eben so. Ich glaube, von dieser Haltung könnten wir alle etwas lernen. Jeder Mensch ist einzigartig und anders als alle an-deren, und das ist gut so, denn erst die Vielfalt der Menschen macht unsere Welt span-nend. Und jeder von uns ist in Ordnung so, wie er ist.
Christine Preißmann, Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, selbst betroffen von Autismus, eigene Praxis für Psychotherapie; Referate und Publikationen
Neueste Bücher:
Asperger – Leben in zwei Welten. Trias-Verlag 2022.
Mit Autismus leben – Eine Ermutigung. Verlag Klett-Cotta 2021.
Informationen:
Homepage: https://preissmann.com
Onlinekurse: https://elopage.com/s/autismus-kurs