Thema der Ausgabe 1/2023:

Gesichter des Autismus

Nicht die Diagnose und Therapie der‭ „‬Störung‭“‬ hilft‭ ‬uns weiter,‭ ‬sondern ein empathisches Sinnverstehen.

(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Gesichter des Autismus

„‬Im Alter von zwei bis fünf Jahren mochte ich diese aufziehbaren blechernen Spielzeuge,‭ ‬die sich im Kreis bewegten.‭ ‬Ich legte mich seitlich flach auf die Erde,‭ ‬den Kopf auf den Boden und schaute aus den Augenwinkeln,‭ ‬wie sie sich im Kreis drehten.
In diesem Augenblick der vollkommenen visuellen Entspannung nahm ich das Rattern nicht mehr wahr.‭ ‬Dafür die Bewegungen der kleinen Räder,‭ ‬und zwar so klar und präzise,‭ ‬dass ich diese Bewegungsabbildungen sanft in meinem Gehirn spürte.‭ ‬Heute noch beruhigt mich das Erinnern an diese Erlebnisse und es wird mir warm ums Gehirn.‭“
(Matthias Huber‭)

„Mein Denken hatte damals wenig Ähnlichkeit mit eurer Art zu denken.‭ ‬Meine Sprachlosigkeit war tiefgreifend.‭ ‬Ich verfügte kaum über begriffliche Inhalte.‭ ‬Die Gedanken nahm ich sehr wohl wahr.‭ ‬Nicht nur meine eigenen,‭ ‬sondern auch die der mich umgebenden Menschen.‭ ‬Das lässt sich am besten mit geistigen Düften vergleichen,‭ ‬mit nebligen Stimmungsbildern oder einer feinen Musik,‭ ‬die von ferne an unser Ohr dringt.
Das wurde nicht von Raum und Zeit eingeschränkt.‭“
(Nelli‭)

„Ich lebe wie Super Mario.‭ ‬Immer kurz vor dem Ziel,‭ ‬immer wenn ich denke,‭ ‬jetzt habe ich es begriffen,‭ ‬jetzt kann ich es,‭ ‬rutsche ich auf einer Bananenschale aus und muss zurück zum Anfang.‭ ‬Es gibt so manche Fähigkeit,‭ ‬die meine Freunde und Kollegen an mir schätzen.‭ ‬Doch sie wissen nicht,‭ ‬dass ich für jede neue Situation einen neuen Plan brauche,‭ ‬bestehende Fähigkeiten üben muss.‭ ‬Wenn ich eine Fähigkeit längere Zeit nicht genutzt habe,‭ ‬muss ich sie sogar neu lernen.‭ ‬Telefonieren zum‭ ‬Beispiel.‭ ‬Ich weiß‮ ‬immer noch nicht,‭ ‬wie ich es den Menschen erklären soll.‭“
(Angelika Pittelkow‭)

Einige Facetten,‭ ‬wie verschieden Menschen aus dem Autismus-Spektrum ihre Welt wahrnehmen:‭ ‬konkret,‭ ‬in der Dingwelt verhaftet,‭ ‬kreativ,‭ ‬assoziativ in Bildern oder Mustern,‭ ‬mit eigenem Rhythmus,‭ ‬intensiv,‭ ‬alles auf einmal,‭ ‬schwarz oder weiß,‭ ‬ein oder aus,‭ ‬beseelt,‭ ‬körper-‭ ‬und grenzenlos.‭ ‬Kate Miller-Wilson nennt es poetisch.‭ ‬Sie versucht die einzigartige Art und Weise,‭ ‬wie ihr autistischer Sohn Eian die Welt wahrnimmt,‭ ‬in ihren Fotos festzuhalten.‭

Jedenfalls bedarf es einer unfassbaren mentalen und körperlichen Anstrengung,‭ ‬sich in unserer Welt zurechtzufinden.

Der Beitrag von‭ ‬Georg Theunissen setzt den Schwerpunkt auf die Eigenheiten von Jugendlichen aus dem Autismus-Spektrum.‭ ‬Er warnt davor,‭ ‬von einer autismustypischen Pubertätsentwicklung auszugehen und die Besonderheiten nur neuropathologisch zu betrachten.‭ ‬Viele Jugendliche sind nicht nur vulnerabel in Bezug auf sensorische Reize,‭ ‬sondern auch hinsichtlich sozialer Situationen.‭ ‬Bei der Unterstützung dieser Jugendlichen gilt es immer,‭ „‬den Respekt vor ihrem autistischen‭ ‚‬So-Sein‭‘‬ zu wahren‭“‬.
Gee Vero schildert eindringlich,‭ ‬wie sich ihr Körper veränderte und die Welt immer mehr aus den Fugen geriet.‭ ‬Sie wünschte sich nichts mehr,‭ ‬als dazuzugehören,‭ ‬vermied aber jeden Kontakt,‭ ‬denn es war ihr lieber,‭ ‬ausgeschlossen zu sein,‭ ‬als ausgelacht zu werden.‭ ‬Sie fühlte sich mittendrin‭ „‬unsichtbar‭“‬ und unverstanden.‭ ‬Erst durch das Malen konnte sie ausdrücken,‭ ‬was sie‭ ‬mit gesprochener Sprache nicht erklären konnte.‭
Brita Schirmer‮ ‬rät aufgrund ihrer enormen Erfahrung,‭ ‬die‮ „‬pädagogische Schatzkiste‮“‬ neu zu packen,‭ ‬da das Gehirn in der Zeit der Adoleszenz mit einer Baustelle vergleichbar ist.‮
Ihre konkreten Anregungen‭ ‬– wie die visuelle Unterstützung des Gedächtnisses,‭ ‬die klare Äußerung von Gefühlen,‭ ‬die Vermeidung des kleinen Wörtchens‭ „‬nicht‭“‬,‭ ‬die verbale Unterstützung der Körpersprache und die notwendigen Informationen über die Veränderungen des Körpers‭ ‬– erleichtern‭ ‬sicherlich das Zusammenleben.
Hans von Lüpke und‭ ‬Manfred Gerspach fragen nach dem Zusammenhang von Autismus und ADHS.‭ ‬Sie stellen die naturwissenschaftliche Beweisführung infrage,‭ ‬denn Kausalität wird bei Gemeinsamkeiten,‭ ‬anstelle einer entsprechenden Begründung,‭ ‬bereits vorausgesetzt.‭ ‬Die Neurobiologie bietet kaum ein Verständnis von ASS und ADHS,‭ ‬denn sowohl Verdickung wie Verdünnung der Hirnrinde gelten als Beweise für eine hirnorganisch bedingte Störung,‭ ‬die für den Autismus verantwortlich gemacht wird.‭ ‬In deskriptiven Annäherungen an Autismus bleibt dagegen das Moment der Angst seltsam unberücksichtigt.‭ ‬Autistische Menschen stehen offenbar vor dem Problem,‭ ‬beständig von nicht abzumildernden Ängsten überschwemmt zu werden,‭ ‬die als etwas‭ „‬Unaushaltbares‭“‬ erlebt werden.‭ „‬Es gilt,‭ ‬eine Sprache für ihre inneren Nöte und Konflikte zu finden,‭ ‬damit sie Entlastung erleben und auf ein externalisiertes Ausagieren weitgehend verzichten können.‭“‬

Unsere Art-Direktorin‭ ‬Eva-Maria Gugg,‭ ‬die für die einzigartige Gestaltung unserer Zeitschrift verantwortlich ist,‭ ‬hat sich mit dem Redesign wieder einmal selbst übertroffen.‭ ‬Überzeugen Sie sich selbst.

 

Inhalt:

Artikel
Autist:innen lügen nicht
Menschen waren wie unkontrollierte, laute, hüpfende Kreisel
Lebendiger Dialog
Ich lebe wie Super Mario
Alle anders - alle autistisch
Look Me In The Lense
Als Autistin ans Ende der Welt - meine Traumreise in die Antartis
Tourismus in Leichter Sprache
Autismus im Jugendalter
Mein Körper veränderte sich und meine Welt geriet immer mehr aus den Fugen
Autismus und Adoleszenz, eine Adoleszenz +
Wie steht es um den Zusammenhang von Autismus und ADHS?
Interview mit Johannes Fellinger zu Chancen für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung in der Gesellschaft
Schon am Start ausgebremst?
Autonomie: Sich in seinem Leben zu Hause fühlen
Schwere Abschiede und offene Türen
Alter und Behinderung in Märchen
Feuerspeiende Vulkane, fremde Schriften und Häuserwelten
1001 und viele Nächte?
Pepo Mayer, ein unermüdlicher Kämpfer für Inklusion und Barrierefreiheit ist nicht mehr
25 Jahre Zeitschrift "fiduz"