Weltwunder am Tagliamento
Herr Groll und der Dozent lockerten den Rückweg von Grado nach Wien durch einen Abstecher ins Tal des Tagliamento auf. Das öde Autobahnfahren war Grolls Sache nicht und der Dozent war für jede Exkursion, die seinem Entdeckertrieb freie Bahn ließ, dankbar.
Herr Groll hatte erst vor Kurzem eine Videoerzählung über den letzten unverbauten Alpenfluss gesehen, die von Steve dem Flusswanderer, stammte – einem großartigen Flusskenner und Paddelbootexperten aus Traun, der in den letzten fünfzehn Jahren mehrere Dutzend Videos seiner Flussbefahrungen in Ost-, Mittel und Südeuropa ins Netz gestellt hatte und auf eine wachsende Fangemeinde zählen konnte.
„Vom Tiber bis zur Spree, vom slowakischen Hornad bis zur Piave und der Drau – Steve hat sie alle befahren und mustergültig dokumentiert. Seine Kommentare sind von großer Sachkenntnis geprägt, die Videoaufnahmen bestechen durch die Schönheit der Flusslandschaften. Über den Tagliamento wusste Steve zu berichten, dass dieses Flussgeflecht, abhängig vom Wasserstand, nicht einfach zu befahren sei, unterhalb der Autobahnbrücke bei Osoppo würde manche Herausforderungen auf Wasserwanderer warten.“
Dies erzählte Groll, als sie von der Autobahn abgefahren und nach einer Viertelstunde an die Ringmauern einer mittelalterlichen Stadt kamen, die unter den Römern eine Blüte erlebt hatte, lag sie doch am Ausgang eines stark frequentierten Fernhandelsweges durch das Kanaltal.
Berollbares Venzone
Nur an wenigen Stellen konnte man das vollständig mauerbewehrte Städtchen Venzone, das auf der östlichen Seite durch den Fluss Fella und auf der westlichen durch den stark mäandrierenden Tagliamento begrenzt war, betreten. Der Autoverkehr war aus dem Stadtbereich verbannt. Vom ersten Meter an war Groll von Venzone, das 1976 beim großen Erdbeben von Friaul dem Erdboden gleichgemacht und mustergültig wiederaufgebaut worden war, verzaubert. Alle Wege, alle Gässchen, der Zugang zum Dom, die Bar beim Dom, alle Orte waren bequem mit dem Rollstuhl befahrbar. Und wenn doch einmal, wie am Vorhof des Doms, Kopfsteinpflaster das Fortkommen erschwerte, sorgten zwei parallele Stege für die Berollbarkeit.
Groll drängte zum Aufbruch. Wenn er noch länger an diesem menschenfreundlichen Ort verweile, bestünde die Gefahr, dass er vom Atheismus zum Katholizismus konvertiere. Als Laienpriester oder als Laienbischof. Anderen die Leviten lesen könne er jetzt schon gut und mit dem Predigen schaue es auch nicht schlecht aus.
Es war für beide nicht überraschend, dass sich auch die Bar vor dem Dom als stufenlos erwies und mit einer barrierefreien Toilette aufwartete. Groll war daher nicht verwundert, dass der Kellner den besten Espresso Norditaliens servierte.
Nachahmenswert
„Hier sollte man Architekturstudent:innen mit einem Rollstuhl aussetzen und sie, nachdem sie einen Tag in einem der vielen unzugänglichen Landstädten Österreichs verbracht haben, den Segnungen einer gänzlich zugänglichen Stadt überlassen“, sinnierte Groll.
In einem Land, in dem die Grundsätze der Barrierefreiheit noch immer nicht Pflichtgegenstand in der Architekt:innenausbildung seien, wäre das anzuraten, meinte der Dozent. Wenn es nicht so makaber wäre, müssten die Leute von Venzone sich beim Erdbeben bedanken“, meinte der Dozent.
„Unsinn!“, erwiderte Groll. „Sie sollten den italienischen Baubehörden danken. Die wissen, wie barrierefreies Bauen geht, und haben es nicht notwendig, den Denkmalschutz vorzuschieben.“
„Der, wie wir wissen, ja kein Feind des barrierefreien Bauens ist.“
„So ist es. Kommen Sie, ich lade Sie auf ein Glas Schioppettino ein“, sagte Groll und steuerte eine weitere Bar an, die am Rande der Hauptstraße Tischchen und Sessel platziert hatte. Die Gäste rückten zusammen, der Wirt brachte einen Stuhl. Binnen weniger Minuten entwarf der Dozent auf der Rückseite einer Ansichtskarte einen Business- und Karriereplan für seinen Freund unter Berücksichtigung der Vorgaben des Zweiten vatikanischen Konzils.
Unter „Steve Flusswanderer“ finden sich alle Flussexkursionen Steves, der auch als Testpaddler für Bootsfirmen und deren Zubehör arbeitet, gebührenfrei im Netz. Man kann seine Arbeiten aber auch abonnieren.