Ein junger Mann mit schwarzer Kochmütze, schwarzem Hemd und schwarzer Schürze steht mit seiner blonden jungen Kollegin mit gleicher Montur in einer Betriebsküche. Der junge Mann regt den Daumen seiner rechten Hand nach oben.

Küchenchefin Gabi Schumacher bereitet mit Beikoch Florian Ackermann das Abendessen vor.

Foto: © Rainer Kwiotek
aus Heft 6/2022 – Integrationshotel
Bernd Hauser

Neuer Start in der Seeloge

Im holsteinischen Eutin hat die Seeloge eröffnet. Das Hotel zeichnet sich durch seine Architektur und durch besonders freundliche Mitarbeiter:innen aus. Viele von ihnen haben einen Schwerbehindertenausweis.

„Ich bin schwerhörig, ich bitte Sie, mich anzuschauen beim Sprechen.“ Vanessa Korth liest den Restaurant-Gästen im Wortsinn jeden Wunsch von den Lippen ab. Der Charme, mit dem die 44-Jährige auf ihre Beeinträchtigung hinweist, ist so entwaffnend, dass sofort Nähe und Herzlichkeit hergestellt sind, wie sie zwischen Gast und Servicemitarbeiter:in selten sind.

Zum Interview sitzt Vanessa Korth auf der Terrasse des neuen Hotels direkt an der Promenade am Großen Eutiner See. Der Blick geht über den stillen See hinüber zum Schloss Eutin: Backstein, Türme mit Kupferdächern, von Wassergräben umsäumt, die Keimzelle und der Stolz der holsteinischen Stadt. „Alles ist schön hier“, sagt Korth, und es klingt wie ein Seufzer. „Im Restaurant schauen wir durch die großen Fenster direkt aufs Wasser. Das viele Holz im Haus, das Gefühl von Offenheit darin: Ich fühle mich einfach gut hier.“

Im Inklusionshotel arbeiten Menschen mit Behinderung

In Eutin in Holstein ist Mitte August die Seeloge offiziell eröffnet worden, das Inklusionshotel der Kopenhagener Architekten Wuttke & Ringhof, in dem Vanessa Korth einen neuen Arbeitsplatz gefunden hat. Landläufig denkt man bei dem Begriff Inklusionshotel an ein Haus für Gäste mit einer Behinderung – ein Trugschluss. „Selbstverständlich ist das Hotel barrierefrei und es gibt vier Zimmer speziell für rollstuhlfahrende Menschen“, erläutert Reinhard E. Sohns, Geschäftsführer des gemeinnützigen Unternehmens „Die Ostholsteiner“ und Bauherr. Ein Inklusionshotel sei es aber vor allem, weil hier besonders viele Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten – mindestens zehn der 25 Beschäftigten müssen einen Schwerbehindertenausweis haben, um den Titel zu führen. Das Integrationsamt übernimmt für sie 40 Prozent der Lohnkosten. „Ob die Mitarbeiter nun mit Diabetes leben oder mit psychischen Erkrankungen oder auf einen Rollstuhl angewiesen sind: Es zählt allein, dass sie für den Arbeitsplatz geeignet sind.“

Dass das Haus mit seinen 44 Zimmern auf die Bedürfnisse von behinderten Mitarbeiter:innen besonders eingeht, dürfte jedoch nur in wenigen Fällen auffallen. Etwa, dass die Rezeptionstheke teilweise so niedrig ist, dass auch rollstuhlfahrende Angestellte den Gast empfangen können. Holz, Beton und Backstein an Wänden und am Boden sind deshalb so abwechslungsreich kombiniert, damit sich sehbehinderte Menschen leichter zurechtfinden. Der „skandinavisch geprägte Entwurf hat gleichzeitig Sachlichkeit und Wärme“, sagt Bauherr Sohns: „Das Haus fühlt sich an wie ein gewöhnliches, wenn auch besonders schönes und wertvolles Hotel.“

Aussicht und Durchsicht machten die Architekten zu zentralen Prinzipien des neuen Hotels. „Wie auf einer Theaterbühne gibt es immer wieder Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund“, erklärt Architekt Thomas Ringhof: Aus den Zimmern führt der Blick durch große Fenster auf Balkone, die mit Holzstützen als Loggias ausgeführt werden, und dahinter erst auf den See und das Schloss. „So schaffen wir die Tiefe im Erlebnis von Raum und Landschaft.“ Das Hotel ist nur drei- bis viergeschossig, von den Bäumen im umgebenden Seepark wird es überragt: Das Haus will ganz offensichtlich kein monumentales Ausrufezeichen sein, es strahlt Ruhe und Understatement aus.

Vom Konstruktionsbüro ins Service

Vanessa Korth kann das bestätigen, sie ist vom Fach, hat Bauzeichnerin gelernt: „Die Fassade zum See hin passt sich schön ein in die Umgebung.“ Warum sie nun als Servicekraft arbeitet und nicht im erlernten Beruf, erklärt sie so: „Wir waren zwei gehörlose Kolleginnen in dem Konstruktionsbüro. Nach einiger Zeit kam der Chef und sagte: Nicht so viel Gebärdensprache! Arbeiten!“ Wer hören könne, der könne gleichzeitig kommunizieren und am Computer zeichnen, sagt Vanessa Korth. „Aber ich muss die Leute angucken. Dadurch bin ich langsamer.“ Und während Lippenlesen im Zweiergespräch keine Probleme macht, ist es in Konferenzen mit vielen Teilnehmer:innen, die auch noch durcheinanderreden, oft unmöglich. „Ich habe nur acht Monate in meinem Beruf gearbeitet“, sagt Vanessa Korth. Vor dem Neubeginn in Eutin jobbte sie viele Jahre in einem Café in Lübeck, wo bevorzugt Menschen mit Beeinträchtigung eingestellt wurden. Doch Ende März machte das Café zu, Vanessa Korth machte sich Sorgen: Welche Arbeit würde sie finden können?

Eine Frau mit weißem Haar tritt von der Promenade auf die Terrasse und spricht Vanessa Korth an: „Ich komme gerade zufällig hier vorbei: Sagen Sie, kann ich hier meinen Geburtstag feiern? Ich werde demnächst 85!“ Vanessa Korth schaut sie lächelnd an und gibt ihr freundlich Auskunft, dann plaudern die beiden Frauen über das schöne Wetter.

Andere Firmen zahlen lieber Ausgleichstaxen

Ein paar Schritte hinter den Terrassenfenstern, unweit des offenen Kamins in der Lounge mit dem Klinkerboden in Fischgrätenmuster, sitzt André Balke, 33, an der lichtdurchfluteten Rezeption. Er ist mit fehlgebildeten Händen geboren worden: „Manchmal fragen mich Leute, ob ich mir einige Finger abgesägt hätte.“ Sein Grad der Behinderung wurde mit 90 Prozent eingestuft. „Ich sehe meine Hände aber nicht als Beeinträchtigung“, sagt Balke. Ein Computer-Keyboard kann man auch mit weniger als zehn Fingern bedienen, doch er fand nie eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt. „Ein Personalchef sagte mir einmal, er würde mich einstellen, wenn ich keinen Schwerbehindertenausweis hätte“, berichtet Balke nüchtern. Viele Unternehmen fürchteten Aufwand und Kosten bei der Einarbeitung oder andere vermutete Nachteile durch behinderte Mitarbeitende, sagt Balke – etwa, weil diese einen höheren Kündigungsschutz hätten. „Die Firmen zahlen lieber die zu niedrigen Ausgleichsabgaben an den Staat, statt Menschen mit Beeinträchtigungen einzustellen.“

Eine Ausbildung zur Bürokraft hatte Balke aufgrund psychischer Probleme abgebrochen: „Langjähriges Mobbing in Kindheit und Jugend haben zu Angstzuständen und Depressionen geführt, die ich mit Therapien in den Griff bekommen habe.“ Jetzt führt er E-Mail-Korrespondenzen in der Seeloge, bucht Gäste ein, programmiert Chipkarten – zunächst nur 20 Stunden die Woche, mit der Option auf Vollzeit. „Ich finde es schwer, in bestehende Crews hineinzufinden. Das Gute hier ist, dass wir alle gemeinsam starten. Wir wollen miteinander lernen und wachsen, sagt Herr Willenberg, für mich ist das eine aufregende Chance!“

Positives Arbeitsumfeld nützt Gästen

Bosse Willenberg ist erst 27, aber schon Hoteldirektor. „Wir haben auf eine Sterneklassifikation verzichtet, sonst schaffen wir eine falsche Erwartungshaltung“, sagt Willenberg. „Das nimmt den Druck von den Mitarbeiter und die Gäste sind beeindruckt, wenn sie einen besonders zuvorkommenden Service erhalten.“ Es gehe darum, ein positives Arbeitsumfeld zu schaffen: „Dann strahlen die Mitarbeiter diese Stimmung aus und der Gast fühlt sich wohl.“ Die Philosophie sei eine „norddeutsche Gastlichkeit, ohne Schnickschnack, auf Augenhöhe mit dem Besucher“. Dass das Haus ein Inklusionshotel ist, soll im Marketing keine Rolle spielen. „Die Gäste merken es eher zufällig, etwa, dass die Türklinken etwas niedriger sind.“ Mit der Besonderheit der Architektur könne das Haus punkten: „Der hochwertige Bau unterstützt die Gastlichkeit. Eichenholz, Lederbänke, bei uns ist alles, wonach es aussieht.“ Die eher minimalistische, schnörkellose Gestaltung und Einrichtung täten auch Mitarbeiter:innen mit Autismus gut: „Alles wirkt aufgeräumt, ruhig. So sind wir auf viele Beeinträchtigungen eingestellt.“

Was aber, wenn viele Gäste im Haus sind und das Stresslevel steigt: Können auch Mitarbeiter:innen mit Beeinträchtigungen jede Situation bewältigen? „Es geht auch darum, dass ich Ruhe vorlebe“, sagt Willenberg. Vielleicht habe er bei den Einstellungsgesprächen „etwas mehr auf die sozialen Kompetenzen“ geachtet: „Wir können keinen Küchenchef gebrauchen, der herumpoltert und mit Pfannen herumschmeißt.“

Küche mit gutem Ruf

Die Küchenchefin heißt Gabi Schumacher, 35, an diesem Morgen bereitet sie mit Beikoch Florian Ackermann, 28, das Essen für den Abend vor. Schon wenige Tage nach der Eröffnung hat sich die Küche der Seeloge einen guten Ruf in Eutin gemacht. Das liegt nicht nur an den regionalen und saisonalen Zutaten, sondern auch an der übersichtlichen Speisekarte: Eine Suppe, vier Vorspeisen, sieben Hauptspeisen, vier Desserts. „Wenn ich Qualität will, kann ich keine 30 Gerichte auf die Karte schreiben“, sagt Schumacher. Dennoch fällt die Wahl nicht leicht: Steinbeißer-Filet oder doch lieber den „sous vide gegarten Schweinebauch“ von Bauer Schramm, dessen Hof eine Viertelstunde weg liegt? Die kleinere Karte helfe auch, Stress zu vermeiden, den einige Mitarbeitende noch weniger gut ertragen als Menschen ohne geistige Beeinträchtigungen, erklärt Schumacher. „Auch arbeiten wir mit Wiederholungen. Salate in Vorspeisen und zu Hauptgerichten können ähnlich sein. Aber darauf weisen die Servicemitarbeiter dann hin!“ Sie wolle nicht nur ein gutes Essen machen und die Gäste zufriedenstellen, sondern auch „ein schönes Miteinander schaffen“. Vorbereitung sei alles, dann komme man nicht ins Schwimmen, wenn die Gäste kommen.

Beikoch Florian Ackermann schaut über den Rand seiner Brille auf die Chefin, während er in rasendem Tempo Zwiebeln schneidet. „Florian, guck besser, was du machst“, sagt Schumacher und lacht. „Ich habe ADHS“, sagt Ackermann, „früher bekannt als Zappelphilipp-Syndrom.“ Er könne hibbelig sein, lasse sich ablenken, mache dann manchmal Fehler, vergesse Aufträge. „Deshalb haben sie mich auf meiner letzten Stelle nur noch den Abwasch machen lassen, mich auch sonst schlecht behandelt. Zwei Jahre habe ich durchgehalten, dann habe ich gekündigt.“ In der Seeloge laufe es anders: „Chefin Gabi ist eine ganz Liebe!“ Manche Kolleg:innen hätten anderswo nie ihren Platz gefunden, weil es keine Bereitschaft gegeben habe, sie zu akzeptieren, meint Gabi Schumacher. „Aber man muss die Menschen nehmen, wie sie sind, oder?“

In manchen Fällen kann die Beeinträchtigung auch zu einer Schlüsselkompetenz werden. Zum Beispiel, wenn Vanessa Korth schwerhörige Tourist:innen aus Italien bedient. „Sie waren ganz schüchtern. Sie dachten, sich nicht verständigen zu können“, erinnert sich Korth an die Begegnung. Doch manche Zeichen in den Gebärdensprachen funktionieren international. „Als ich sie fragte, was sie wünschten, waren sie verblüfft und glücklich, und es entstand ein herzlicher Kontakt.“

Autor:

Bernd Hauser

E-Mail: hauser.bernd@web.de

Info:

Homepage: www.seeloge.de