Wie Menschen heute aus ihrer Mitte vertrieben werden
Auf dem Weg zu einer positiven Antwort.
Wissenschaftler verschiedener Disziplinen dachten über die Zukunft des menschlichen Lebens in unsicheren Zeiten nach. Sie erkannten, dass vor allem Ängste und Depressionen bald den Status einer Epidemie erreicht haben. Mit was aber ist die Psyche überfordert, das zu seelischen Erkrankungen führen kann?
Ich greife drei einander ergänzende Aspekte heraus, die für die Gegenwart bedeutsam sind (I). Darauf gebe ich eine bildungsphilosophische Antwort, die im menschlichen Sein gründet (II).
I
Der Mensch darf nicht als Summe von Einzelfunktionen verstanden werden
Heute sehen sich gerade ökonomisch orientierte Wissenschaftler einem Denken verpflichtet, das den Einzelnen als Organisationssystem von Verhaltensweisen versteht, die analysiert, gemessen und verrechnet werden können. Hier ist der Mensch nicht mehr in seiner Ganzheit das Bezugssystem. Wird er in formale Kategorien aufgelöst und als Summe seiner Einzelfunktionen verstanden, dann verliert er die Fähigkeit aus seinem inneren Kraftzentrum heraus zu leben und zu arbeiten. Er kann sich in sinnleeren Funktionszusammenhängen verlieren.
Davon berichtete eine Frau, die wegen eines Burnout sich in stationäre Behandlung begeben musste. Ihr wurden die Grenzen ihres Verhaltens bewusst: Fremdbestimmung, Zwänge und Misserfolge führten bei ihr zu einem Funktionieren. Sie konnte aus ihrer Krankheit nicht mehr alleine herausfinden, hatte ihre Souveränität über das eigene Leben verloren und sehnte sich nach einem nicht-entfremdeten Dasein und vertrauensvollen Beziehungen.
Sie hatte versäumt, die eigentliche Frage nach sich selbst und nach sinnstiftender Lebensorientierung zu stellen. Der Lebenssinn, der tief im Menschen eingewurzelt ist, ist nicht verhandelbar.
Das solidarische Miteinander wird der Beschleunigung geopfert
Heute wird von der verwertungsorientierten Wissensgesellschaft gesprochen, in der das solidarische Miteinander schwindet und Begriffe wie Leistungssteigerung und Konkurrenz dominieren, die Selektion erzeugen und den Schwächeren zurückdrängen oder aussondern. Diese Praxis der Starken ist mit Eile und Unruhe verbunden. Es ist das Veloziferische, eine Wortschöpfung Goethes (aus dem Lateinischen velocitas = Eile und dem Italienischen velozifero = Eilwagen oder Eilpost), das zum Stigma seiner Zeit wurde, es zeigt sich nun als Stigma der Gegenwart. Doktor Faust wollte immer mehr, unterlag Mephisto und musste des Teufels Joch der Eile tragen. Die Antizipation des Schnellen und des Mehr führt zu einer wechselseitigen Steigerung des Beschleunigens. Wer mehr hat, will noch mehr und wer noch mehr hat, will sein Mehr-Haben vermehren. Das kann tief in das körperlich-seelisch-geistige Befinden eingreifen und zur Beschleunigung aller Lebensvorgänge und zum Verlust der inneren Ruhe führen.
Wie kann der Mensch seine innere Ruhe (wieder) finden? Erinnert sei an eine Geschichte von Till Eulenspiegel, dem legendären Schelm des 14. Jahrhunderts: Er erzählt von einem Kutscher, der ihm unterwegs begegnet und nach dem schnellsten Weg zur Stadt fragt. Eulenspiegel antwortet: „Wenn ihr langsam fahrt, dauert es wohl eine halbe Stunde. Fahrt ihr schnell, so dauert es zwei Stunden“. „Du Narr“, brüllte der Kutscher und preschte eilig los. Till Eulenspiegel ging ruhig weiter, umrundete die vielen Schlaglöcher. Nach etwa einer Stunde sah er die Kutsche mit gebrochener Achse im Graben liegen.
Bildung darf nicht auf Nützlichkeit reduziert werden
Die Praxis des Starken dominiert im europäischen Bildungswesen, das wie ein Wirtschaftsbetrieb gesehen wird. Doch das Bildungssystem darf nicht technokratisch umgesteuert und nach betriebswirtschaftlichem Muster (messbare Leistung, Steigerung der Effizienz) verrechnet werden. Das verengt den Sinn wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens und das Wagnis des Findens und Entdeckens.
Die Gegenstände der Sozial- und Geisteswissenschaft dürfen nicht betriebswirtschaftlichen Standards folgen. Das träfe die Demokratie in ihrem innersten Kern, denn es wird ihr nicht gelingen, den nützlichen und technisch angepassten Menschen zum verantwortlichen und kritischen Staatsbürger zu bilden? Konformismus wäre Gift für eine weiter zu entwickelnde Demokratie.
II
Das Antlitz des Anderen finden
Der Sozialphilosoph Max Weber spricht u.a. vom Verantwortungsethiker, der mit Fehlern und Versäumnissen der Menschen rechnet. Weber schlägt ein „langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“ vor. Dieses Bohren kann die Kraft und Motivation nicht allein aus sich selbst bekommen, sondern vom anderen Menschen her.
Danach fragt der litauisch-jüdisch-französische Philosoph Emmanuel Lévinas, dessen Familie die Nazis ermordet haben: Lévinas fragt nach dem Antlitz des Anderen. Das ist eine ethische Frage, die als Kritik des funktionalistischen Denkens verstanden werden kann. Sie richtet sich gegen Denkformen, die den Anderen dem eigenen Wissen einverleiben möchten. Sein Denken räumt absoluten Vorrang dem Antlitz des Anderen ein: Der Mensch, der mir gegenüber ist, ist der konkret Andere. Er ist das Gegenüber meiner Verantwortung und nicht etwas Abstraktes. Das Antlitz des Anderen steht außerhalb des Festzulegenden, es lässt sich nicht durch Vergleich und Verallgemeinerung bestimmen oder gar falsifizieren und verifizieren, denn das Begegnen dem Antlitz des Anderen geht jeder Prüfung oder Reflexion voraus.
Lévinas erkannte aus Leiderfahrungen eine bisher verborgen gebliebene Tiefenstruktur menschlichen Daseins.
Das Antlitz des Anderen ruft in die Verantwortung
Die Verantwortung aus der Nähe zum Anderen ist dem Menschen durch sein Menschsein gegeben. Sie liegt aller Erfahrung, allen Regeln und Vereinbarungen voraus und nimmt mich unmittelbar in die Pflicht des Handelns. Diese Verantwortung ist ganz ursprünglich und bedingungslos, sie kann nicht logisch oder rational hergeleitet werden. Das Antlitz des Anderen ruft mich in die Verantwortung, ohne zu erwarten, dass der Andere sie auch für mich übernimmt.
Der Ursprung dieser verantwortungsbewussten Haltung liegt in einer Tiefenschicht des Menschen, die vor der Reflexion, der Sprache und bewussten Entscheidung liegt. Sie kommt mir aus dem Antlitz des Anderen entgegen. Die Situation Von-Angesicht-zu-Angesicht ist der Ursprung. Die von Lévinas erkannte Botschaft lautet: „Der einzige absolute Wert, den es gibt, ist die Fähigkeit des Menschen, dem Anderen den Vortritt vor sich zu lassen“.
Lévinas findet die Begründung in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“, wo eine seiner Personen sagt: „Wir sind alle verantwortlich für alles und alle, und ich noch mehr als die anderen“.
Gefragt ist das „menschliche Gewissen“
Diese existenzphilosophische Erkenntnis entspringt dem „menschlichen Gewissen“, das Viktor E. Frankl, der Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie, als Sinn-Organ bei seelisch erkrankten Menschen und in eigenen Grenzsituationen in drei Konzentrationslagern erkannt und erprobt hatte.
Das Antlitz des Anderen kann mich nicht gleichgültig lassen, es nimmt mich in die Pflicht des verantwortlichen Handelns und für den Anderen Gutes zu tun, positiv zu denken und zu handeln.
Autor:
Ferdinand Klein (geb. 1934), Prof. em. Dr. Dr. et Prof. h.c., Lehrer, Heilpädagoge und Logotherapeut, 20 Jahre Praxis in verschiedenen Einrichtungen, tätig an den Universitäten Würzburg, Mainz, Fakultät für Sonderpädagogik Reutlingen und als Aufbaudirektor des Instituts für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (1992-1994). Nach Emeritierung (1997) Gastprofessor an der Comenius-Universität Bratislava und von 2005 bis 2014 an der Gusztáv-Bárczi-Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität Budapest.
E-Mail: ferdi.klein2@gmail.com