"Wir haben mit dem Projekt einen anderen Blickwinkel auf unser Leben und die Arbeit bekommen"
Im Projekt SEGEL, „Schwierige Entscheide – GEmeinsame Lösungen“, ging es um eine Klärung des Selbstbestimmungsbegriffs im Kontext von kognitiven Beeinträchtigungen sowie um die Entwicklung eines Gesprächsleitfadens, um Dilemmasituationen partizipativ zu bearbeiten. Teammitglieder mit und ohne Beeinträchtigungen haben im Projekt zusammengearbeitet. Die fast zweijährige partizipative Forschungs- und Entwicklungsarbeit wird hinsichtlich der Stufen der Partizipation reflektiert.
Herausforderungen im Feld
Selbstbestimmung und unabhängige Lebensführung sind als Zielperspektiven im Leben von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zentral, aber inhaltlich unbestimmt. Die Betroffenen gelten (spätestens seit dem Inkrafttreten des „Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ UNO-BRK) nicht mehr als fremdbestimmt und als mehr oder weniger hilflose Objekte, sondern als Subjekte mit Rechten und Pflichten. Diese veränderte Sichtweise stellt ganz besondere Herausforderungen an Fach- und Unterstützungspersonen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, insbesondere was die Partizipation bezüglich zentraler ethischer Fragestellungen angeht. Im Projekt SEGEL geht es um ethische Fragestellungen, wie sie aus dem Dilemma zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und der Fürsorgepflicht erwachsen können. Der Komplexitätsgrad dieser Herausforderungen wird dadurch erhöht, dass bezüglich Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen häufig nicht von einer – wie durch das Menschenbild der Menschenrechte assoziierten – kategorialen Autonomie ausgegangen werden kann, sondern mit eingeschränkten Formen und damit gradueller Autonomie gerechnet werden muss (vgl. Adler et al. 2018, Wohlgensinger et al. 2017).
Das partizipative Forschungs- und Entwicklungsprojekt SEGEL
Das Projekt SEGEL, die Abkürzung steht für „Schwierige Entscheide – GEmeinsame Lösungen“ hat sich diesen Herausforderungen angenommen. Der Name des Projektes wurde nach intensiver Diskussion im Projektteam erarbeitet, da der Projektname „Partizipative ethische Entscheidungsfindung: Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen klären Fragen der Selbstbestimmung gemeinsam“ schwer verständlich ist.
Das erste Ziel des Projektes SEGEL war eine Klärung des Selbstbestimmungsbegriffs im Kontext von kognitiven Beeinträchtigungen, denn das traditionelle Verständnis von Autonomie, wie es in den Menschenrechten und in der BRK anzutreffen ist, stößt im Kontext kognitiver Beeinträchtigungen an Grenzen (vgl. Wohlgensinger et al. 2017). Mithilfe der Methode der sokratischen Gesprächsführung wurde ein gemeinsames Verständnis von Selbstbestimmung erarbeitet und dazu ein Filmbeitrag erstellt.
Zweites Ziel war die Entwicklung eines Gesprächsleitfadens zur partizipativen Entscheidungsfindung, um Dilemmasituationen gemeinsam zu klären. Ethische Probleme (welche im Behinderungsbereich häufig aus dem Kontext Selbst- und Fremdbestimmung erwachsen) werden von Fach- und Unterstützungspersonen häufig allein angegangen. Der Gesprächsleitfaden ermöglicht eine gleichberechtigte Partizipation von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, führt in fünf Schritten durch den Diskussions- und Entscheidungsprozess und endet mit einem gemeinsamen Entscheid. Der Leitfaden wurde in mehreren Institutionen für Menschen mit Beeinträchtigungen erprobt. An der Erprobung beteiligten sich Menschen mit Beeinträchtigungen und Fachpersonen. Bei einem ersten Besuch wurden jeweils gemeinsam „brennende Themen“ bestimmt, die dann bei einem zweiten Besuch mithilfe des Gesprächsleitfadens diskutiert und geklärt wurden. Es ging um Fragen wie: „Ist es richtig, dass Fachpersonen die Süßigkeiten von Menschen mit Beeinträchtigungen einschließen?“, oder: „Ist es richtig, dass die Eltern für eine Frau mit Beeinträchtigung entscheiden, ob sie mit ihrem Freund im Zimmer übernachten und Sex haben darf?“ Es ging also um „Fragen, die plagen“, wie ein Teammitglied es formulierte (vgl. Strolz 2020, 20).
Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt SEGEL war partizipativ angelegt: Das SEGEL-Team bestand aus vier Mitgliedern mit kognitiven Beeinträchtigungen und aus drei Mitglieder mit wissenschaftlichem Hintergrund (vgl. Adler et al. 2018). Das SEGEL-Team arbeitete über eine Dauer von zwei Jahren pro Woche jeweils einen Tag zusammen. Im Projekt SEGEL waren die Teammitglieder mit Beeinträchtigungen für die Dauer des Projektes als Mitarbeitende der Fachhochschule OST zu einem assistenzüblichen Lohn angestellt. Ein partizipatives Projekt in dieser Form fand in der Schweiz erstmalig statt.
Das Team wurde im Rahmen des Projektes auf dem Gebiet der Forschung und Wissensvermittlung qualifiziert und besteht nach Abschluss des Projektes als Consultinggruppe weiter. Das Team arbeitet gegenwärtig in Dienstleistungsangeboten, Referaten und in der Lehre an verschiedenen Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten.
Das Projekt SEGEL wurde von der Fachhochschule Ost und der Hochschule Luzern durchgeführt. Zusätzliche Finanzen wurden von der Gebert-Rüf-Stiftung und von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HFH) zugesprochen.
Partizipation ist ein Recht
Partizipation ist ein Menschenrecht, dennoch werden Menschen mit Beeinträchtigungen in verschiedenen Handlungsfeldern immer noch nicht beteiligt. Das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (UNO-BRK) verweist darauf, dass Partizipation für Menschen mit Beeinträchtigungen zentral ist, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können wie andere Menschen auch (vgl. Hirschberg 2010). Partizipation gilt als eines der Querschnittsanliegen der UNO-BRK. Die Konvention richtet sich damit gegen die Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Das Recht auf Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigungen bei allen sie betreffenden Entscheidungsprozessen sowie die Verpflichtung, das Bewusstsein für ihre Fähigkeiten und ihren Beitrag zu fördern, wird in Artikel 4 resp. 8 der UNO-BRK eingefordert (vgl. Art. 4 Abs. 3 UNO-BRK und Art. 8 Abs. 1c UNO-BRK).
Die UNO-BRK zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde am 13. Dezember 2006 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen und am 15. Mai 2014 von der Schweiz ratifiziert. Damit werden die gleichen Rechte für Menschen mit Beeinträchtigungen anerkannt. Mit dem Beitritt zum Übereinkommen verpflichtet sich die Schweiz:
- Hindernisse zu beheben, mit denen Menschen mit Beeinträchtigungen konfrontiert sind,
- sie gegen Diskriminierungen zu schützen,
- ihre Inklusion und ihre Gleichstellung in der Gesellschaft zu fördern.
Die UNO-BRK schafft keine Sonderrechte, sondern konkretisiert die Menschenrechte vor dem Hintergrund der Lebenslage von Menschen mit Beeinträchtigungen (vgl. Eidgenössisches Departement des Innern 2018). Die Konvention fordert von den Vertragsstaaten, dass sie Strukturen schaffen, die Teilhabe sowie gesellschaftliche und soziale Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft ermöglichen (ebd.).
Partizipation ist mehr als informiert werden
Partizipation in der sozialen Arbeit umfasst unterschiedliche Formen der bewussten Beteiligung und meint Teilnahme, Teilhaben-Lassen, Mitgestaltung, Mitwirkung, Mitbestimmung, Mitverantwortung, Selbstorganisation, Koproduzentenschaft (vgl. Gintzel 2017). Partizipation bezieht sich auf verschiedene Ebenen: auf die Rechte von Bürger:innen, auf das Verhältnis von Bürger:innen zu Sozialleistungsinstitutionen (z.B. Leistungsberechtigte Subjekte), auf die Beziehung von Fachpersonen zu den Adressaten (z.B. Auskunftsrechte), auf die Gestaltung von Entscheidungsprozessen (z.B. Mitwirkung über Art und Umfang von Unterstützung und Hilfen) sowie auf die Einflussmöglichkeiten bezogen auf die Gestaltung von Hilfesettings (z.B. Gestaltung von Privatsphäre) (ebd.).
Partizipation ist keine „Entweder-oder“-Möglichkeit, sondern ist als Kontinuum zu verstehen, das von absoluter Autonomie bis zur absoluten Abhängigkeit und Fremdbestimmung reicht. Partizipation tritt in abgestuften Formen auf und kann als Entwicklungsprozess verstanden werden, der in Abhängigkeit von den Praxisbedingungen und Lebensbedingungen der Zielgruppe unterschiedlich realisierbar ist (Gintzel 2007, Wright 2010).
Um die Partizipationsmöglichkeiten differenzierter betrachten und einschätzen zu können, wurden verschiedene Partizipationsmodelle entwickelt. Eines ist das Stufenmodell der Partizipation, das schon 1969 von Arnstein entwickelt wurde und in der Gerontologie (Aner 2016, Köster 2006), der Gesundheitsförderung (Wright 2010) und im Themenbereich Behinderung aufgenommen wurde (bspw. Denninger 2019, Schäper 2016, Strassburger und Rieger 2014). Die differenzierte Analyse mithilfe von Stufen ermöglicht eine Einschätzung der aktuellen Situation und zeigt beispielsweise auf, dass bloßes Anhören oder Informieren nur Vorstufen der Partizipation sind. Damit kann auch der Blick auf künftige Weiterentwicklungen gerichtet werden. Je detaillierter die Stufen, desto schwieriger ist allerdings die Zuordnung. Häufig wird ein viertstufiges Modell beschrieben. Köster (2006) erweitert das vierstufige Modell mit Gelingensbedingungen und Voraussetzungen für einen Partizipationsprozess. Dabei unterscheidet er die objektiv-strukturellen Grundlagen (Möglichkeitsstrukturen) und die subjektiven Grundlagen (individuelle Voraussetzungen), die das Spannungsfeld zwischen Möglichkeitsstrukturen und individuellen Voraussetzungen darstellen kann.
Schäper (2016) hat das Stufenmodell der Partizipation für Menschen mit Beeinträchtigungen im Alter adaptiert. Sie nimmt dabei mit Blick auf die individuellen Voraussetzungen und Möglichkeitsstrukturen auch Barrieren der Partizipation in den Blick. Schäper unterscheidet mit Bezug auf Beukelmann und Mirenda (2005) zwischen individuellen Zugangsbarrieren und Gelegenheitsbarrieren (Beukelmann und Mirenda 2005, zit. nach Schäper 2016). Individuelle Zugangsbarrieren entstehen hauptsächlich durch behinderungsbedingte Faktoren. Diese können u. a. durch Entwicklungs- und Bildungsprozesse reduziert werden. Gelegenheitsbarrieren sind eher im soziokulturellen Umfeld zu finden. Dazu gehören bspw. die Zuschreibung mangelnder Kompetenzen zur Teilhabe, die Festlegung auf die Rolle passiver Hilfeempfänger*innen, die sozioökonomischen Benachteiligungen sowie der Mangel an Erfahrung mit Formen der Selbstvertretung, „[…] die aus einer langen Geschichte der Entmündigung und Fremdbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung bis in die jüngere Geschichte hinein resultier[en]“ (Schäper 2016, 103).
Partizipation zu ermöglichen ist also auch eine Bildungsaufgabe im Sinne von Kompetenzentwicklung und Befähigung sowie von Ermächtigung (Empowerment). Gleichzeitig müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Partizipation erst ermöglichen.
Im englischsprachigen Raum wird partizipatives Forschen seit gut zwei Jahrzehnten umgesetzt und es ist auch weitgehend anerkannt, dass bessere Erkenntnisse durch die Innensicht der Betroffenen ermöglicht werden. Im deutschsprachigen Raum gibt es aber immer noch wenige Beispiele (Buchner et al. 2011, Goeke 2016).
Konnte das Team SEGEL mitentscheiden? Eine Einordnung aus Sicht des SEGEL-Teams
Die partizipative Forschungs- und Entwicklungsarbeit wurde laufend sowie am Ende der fast zweijährigen Projektarbeit gemeinsam im SEGEL-Team hinsichtlich der Chancen, Herausforderungen und des Ausmaßes der Partizipation reflektiert. Im Folgenden wird die Einschätzung des Forschungsprozesses durch die Teammitglieder mit Beeinträchtigungen bezüglich des Grads der Partizipation resp. der vier Stufen des Stufenmodells der Partizipation dargestellt. Auf die Voraussetzungen und Gelingensbedingungen des Partizipationsprozesses wird am Ende des Artikels Bezug genommen.
Die Teammitglieder mit Beeinträchtigungen wurden am Ende des Projektes gefragt, zu welchen Projektarbeiten sie informiert wurden, wo sie mitwirken und mitreden konnten, wo sie mitentschieden haben und wo sie selbst entschieden haben. Dazu wurden zu einigen ausgewählten Aufgaben im Projekt beschriftete Fotos ausgelegt. Die Fotos konnten von den Teammitgliedern nach ihrem Gutdünken auf die entsprechende Stufe geklebt werden. Die vier Teammitglieder mit Beeinträchtigungen ordneten die Aktivitäten nicht alle der gleichen Stufe zu. Das auf diese Weise erstellte Poster und die Zuordnungen wurden anschließend (vgl. Abb. 2) zusammen besprochen. Das Gespräch wurde auf Tonträger aufgenommen und transkribiert. Durch die Zuordnung der Aktivitäten zu den Stufen der Partizipation konnte die Perspektive der Teammitglieder mit Beeinträchtigungen eingebracht werden. Die Stufen des Partizipationsmodells werden im Folgenden zunächst in wenigen Sätzen kurz beschrieben (vgl. Aner 2016, Denninger et al. 2019, Strassburger et al. 2014, Schäper 2016).
Nicht-Beteiligung
Auf der Stufe „Nicht-Beteiligung“ findet keine Information oder Partizipation statt. Fehlende Information verhindert Beteiligungsprozesse.
Im Projekt SEGEL fand die Entwicklung des Forschungsprojektes ohne Beteiligung der Projektmitglieder statt. Erst als das Projekt von der Gebert-Rüf-Stiftung bewilligt und die Finanzierung zugesagt war, wurden Menschen mit Beeinträchtigungen von der Projektleitung angeschrieben und zu mehreren Anlässen in leichter Sprache und anhand von Visualisierungen über das Projekt informiert. Interessierte Personen mit Beeinträchtigungen konnten sich dann um die Projektmitarbeit oder die Mitarbeit in der Begleitgruppe bewerben. Sie wurden zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen und vier Personen wurden nach ihrer Zusage im Projekt oder in der Begleitgruppe angestellt. Die Begleitgruppe setzte sich ebenfalls aus Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen zusammen. Diese Stufe war auf dem Poster nicht aufgeführt.
Information
Diese Stufe wird als Vorstufe der Partizipation bezeichnet. Dennoch sind Informationen eine grundlegende Voraussetzung für jede Stufe der Partizipation. Informationen müssen dazu adressatengerecht vermittelt werden.
Im Projekt SEGEL wurde mit leichter Sprache und oft mit Visualisierungen und verschiedensten Methoden gearbeitet. Die Teammitglieder wurden in diesem zweijährigen Projekt immer wieder über die Projektschritte informiert, um das ganze Projekt im Blick zu haben, was sich anspruchsvoll gestaltete. Als Projektteam SEGEL arbeiteten wir jede Woche einen Tag an der Hochschule OST. Wichtig war deshalb für das Team, zu wissen, was es an den einzelnen Teamtagen zu bearbeiten und zu entwickeln galt. Für jeden Teamtag wurde ein Tagesprogramm auf einem Flip erstellt. Das Tagesprogramm wurde von den wissenschaftlichen Teammitgliedern erarbeitet und zu Beginn des Tages vorgestellt. Die Teammitglieder beurteilten das Tagesprogramm bezüglich ihrer Partizipationsmöglichkeiten als „Information“. Es wurde erwähnt, dass das Tagesprogramm immer schön gestaltet war. Aber eben „Information, fertig Schluss, Amen“ (T1). Obwohl hier die Partizipation auf einer Vorstufe stattfand, war das für die Teammitglieder passend: „[…] das habe ich gut gefunden. Dass wir etwas einen roten Faden haben, sozusagen“ (T2). „So ein bisschen Struktur braucht es, auch wenn wir erwachsen sind. Das ist egal“ (T3). Eine gewisse Flexibilität in der Planung wurde aber schon wahrgenommen: „Grob habt ihr gesagt, so ist der Tag, aber dann haben sich plötzlich Verschiebungen ergeben und dann konnten wir mitreden: Aber grundsätzlich schon Stufe 1“ (T1).
Ein weiterer Aspekt, bei dem die Teammitglieder die Partizipationsstufe „Information“ wahrgenommen haben, sind die Ankündigung von Pausen, obwohl, „[…] wenn wir 5 Minuten vorher gesagt haben, jetzt hätten wir gerne Pausen, dann habt ihr euch darauf eingelassen“ (T2).
Von Einzelnen wurde auch die Teilnahme an der Tagung in Berlin der Stufe „Informieren“ zugeordnet: „Für mich war es eine Information, eigentlich. Eine Information, dass wir nach Berlin gehen“ (T4).
Zur Erstellung des Films zu unserem Verständnis von Selbstbestimmung formuliert ein Teammitglied: „Grundsätzlich ist die Überlegung [einen Film zu erstellen für die Tagung in Glasgow, Anm. d. Autorin] von euch gekommen. Wir wollen euch einbeziehen. Das war eine Information“ (T1).
Mitwirken – Mitreden
Auf der Partizipationsstufe „Mitwirken“ können Beteiligte mitwirken und werden angehört. Ob und in welchem Umfang ihre Beiträge in die Entscheidungsfindung und Umsetzung Eingang finden, ist aber nicht gewährleistet. Auch hier ist die Ermöglichung von Beiträgen (bspw. durch genügend Zeit) zentral. Mitreden heißt, dass die Beteiligten mitwirken und sich in Diskussionen einmischen.
Im Projekt SEGEL wurde die Entwicklung des Leitfadens für schwierige Entscheide von den Teammitgliedern auf dieser Stufe angesiedelt. Eine Person führt aus: „Dort konnten wir mitreden“ (T3). Eine Person bezog sich auf die Erprobung des Leitfadens im Team und auf die Überprüfung der Verständlichkeit: „Wir haben ihn nur getestet, entwickelt haben wir ihn nicht“ (T1).
Die Teammitglieder ordneten die Entwicklung unseres Verständnisses von Selbstbestimmung sowohl der Stufe Mitreden als auch der Stufe Mitentscheiden zu. Das Verständnis von Selbstbestimmung haben wir mithilfe von mehreren sokratischen Gesprächen anhand von Beispielen aus dem eigenen Leben entwickelt. Jemand sagte dazu: „Also, ich finde, dort konnten wir schon mitreden. Weil ja die Erklärung von mir gewesen ist. Das war ein super Beispiel, das wurde dann für mich logischer, um was es geht beim Leitfaden“ (T4).
Die Planung und Durchführung der Begleitgruppensitzungen wurde ebenfalls der Stufe Mitwirken zugeordnet: „Die Sitzung, wie sie abläuft, war Mitreden, ja“ (T1).
Mitentscheiden
Auf der nächsten Stufe, der des „Mitentscheidens“ oder „Mitbestimmens“, werden die Beiträge der Beteiligten berücksichtigt und fließen in Entscheidungen ein. Voraussetzung ist eine partnerschaftliche Kooperation und dass alle Beteiligten ein Stimmrecht haben. Bei Bedarf müssen die Kompetenzen und das Einbringen der Ressourcen durch Unterstützung ermöglicht werden.
Ein Teammitglied bemerkte zu dieser Stufe der Partizipation auf dem Poster (vgl. Abb. 2): „Beim Mitentscheiden hat es eigentlich megaviel“ (T4). Im Team SEGEL wurde für die Suche nach einem leicht verständlichen Projektnamen viel Zeit aufgewendet. Diese Erarbeitung des Projektnamens SEGEL (Schwierige Entscheide – GEmeinsame Lösungen) wurde mehrheitlich der Stufe „Mitentscheiden“ zugeordnet: „Für mich war es Mitreden und Mitentscheiden. Ob wir den nehmen oder was anderes“ (T2). Und: „Doch, dann fanden wir, das ist gut. Da konnten wir schon mitentscheiden“ (T1).
Bei der Entwicklung unseres Verständnisses von Selbstbestimmung gab es auch Partizipationsmöglichkeiten auf der Stufe „Mitentscheiden“: „Ich finde es schon ‚Mitentscheiden‘, definitiv. Bei deinem Fall hast du volle paletti gesagt, was du fühlst. Da konnten wir alle sagen, wie es war“ (T1). „Da konnten wir ganz viel mitreden und mitentschieden“ (T2). „Am Anfang war es Mitreden [bei den Beispielen, Anm. d. Autorin] und dann haben wir überlegt, ist das etwas? Gehört das dorthin oder nicht? [Zuordnung der Begriffe im Rahmen der sokratischen Gespräche, Anm. d. Autorin]. Dann ging es um Mitentscheiden“ (T2).
Die Teilnahme an der Tagung in Berlin wurde ebenfalls der Stufe des „Mitentscheidens“ zugeordnet. Begründet wurde dies folgendermaßen: „Wir konnten mitentscheiden, ob wir [an die Tagung in Berlin, Anm. d. Autorin] gehen oder nicht. Wir hätten sagen können, nein, ich komme nicht“ (T2). Ein Teammitglied hat an der Tagung tatsächlich nicht teilgenommen, da er gerade in den Ferien war.
In einer Begleitgruppensitzung wurde ein schwieriger Entscheid gemeinsam bearbeitet. Dies wurde ebenfalls der Stufe Mitentscheiden zugeordnet, denn „[…] die Fälle konnten wir miteinander anschauen, ich habe sie zum ‚Mitentscheiden‘ getan“ (T4).
An die Tagung im englischsprachigen Glasgow reisten aus sprachlichen Gründen nur die wissenschaftlichen Teammitglieder. Damit das Team dort sichtbar wurde, haben wir im Projekt einen Film zu unserem Verständnis von Selbstbestimmung gedreht, den wir auch mit englischen Untertiteln versehen haben (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=1te7P8FaUGs&t=7s). Die Erstellung des Films wurde der Stufe „Informiert werden“, „Mitreden und „Mitentscheiden“ zugeordnet, je nach Aufgabe im Prozess. Auf die Stufe „Mitentscheiden“ gehörte der Film aus Sicht der Teammitglieder aus folgendem Grund: „Aber was wir zeigen wollen, da haben wir mindestens mitgeredet“ (T1).
Entscheiden
In der höchsten Partizipationsstufe, die im Stufenmodell „Selbstverwaltung“ oder „Selbstorganisation“ genannt wird, besteht weitgehend uneingeschränkte Handlungsfreiheit, es werden bspw. in selbst organisierten Gruppen Entscheide gefällt.
In der Auswertung des SEGEL-Teams wurde diese Stufe „Entscheiden“ genannt. Es ging dabei um Entscheidungen, die von den Teammitgliedern selbst gefällt wurden.
Den Entscheid, ob die Teammitglieder nach den Bewerbungsgesprächen im Projekt mitarbeiten wollten, haben die Teammitglieder dieser Stufe zugeordnet. „Ich habe es auf Stufe vier getan, weil ich selber entscheiden konnte“ (T1).
Gedanken zum Schluss
Die Beurteilung der Partizipation durch die Teammitglieder mit Beeinträchtigungen zeigt, dass im Projekt SEGEL die Partizipation auf unterschiedlichen Stufen ermöglicht wurde. Die Stufen sind im Partizipationsmodell zwar hierarchisch angeordnet, aber eine höhere Stufe ist nicht in jedem Fall besser als eine niedrigere. Denn die Partizipationsmöglichkeiten müssen dem Gegenstand angepasst werden und die Beteiligungsmöglichkeiten müssen geklärt werden. Es war im SEGEL-Projekt teilweise durchaus erwünscht, auch einfach nur informiert zu werden. Dies wurde in der gemeinsamen Reflexion im SEGEL-Team deutlich sichtbar.
Im dargestellten Stufenmodell der Partizipation (vgl. Abb. 1) werden auch die individuellen Voraussetzungen erwähnt. Das Team SEGEL war keine homogene Gruppe und die Zugangsmöglichkeiten mussten individuell angepasst werden. Die Beiträge der verschiedenen Teammitglieder konnten sich aber durch die unterschiedlichen Interessen, Kompetenzen und Lebenserfahrungen gut zu einem produktiven Arbeitsprozess ergänzen und gegenseitiges Unterstützen wurde dadurch möglich. Die Motivation, in einem Projekt zum Thema Selbstbestimmung mitzuarbeiten, war von allen Teammitgliedern sehr groß. Auch Lernprozesse waren bei allen Beteiligten sichtbar. Auf der Seite der Teammitglieder mit Beeinträchtigungen standen der Kompetenzerwerb, bspw. im Auftreten, sowie der Gewinn persönlicher Stärke im Vordergrund. Eine Person formulierte dazu: „Ich bin viel stärker, erwachsener und reifer geworden“ (T3). Bei den wissenschaftlichen Teammitgliedern stand der Lernprozess im Vordergrund, die Projektschritte methodisch möglichst zugänglich zu gestalten und so Partizipation zu ermöglichen. Voraussetzung und strukturelle Grundlage war die Motivation aller, sich auf diesen Prozess des partizipativen Arbeitens einzulassen und gemeinsam eine partizipationsoffene Kultur zu gestalten. Dazu gehört auch eine wertschätzende Haltung, das Vertrauen in die Kompetenzen des anderen als Expert*in sowie eine offene Diskussionskultur oder, wie Köster (2016) es im Partizipationsmodell nennt, die Gestaltung einer Partizipations- und Kommunikationskultur.
Im Rahmen der Ermöglichung von Partizipation geht es darum, die (Entscheidungs-)macht zu „teilen“. Dabei wird heute auch von „Powersharing“ gesprochen, das auf die Notwendigkeit verweist, sich die eigene strukturelle Positioniertheit zu vergegenwärtigen und die sich daraus ergebende Verantwortung zu reflektieren. Dies geht weiter als die Suche nach dem „Empowerment“ von Menschen, die diskriminiert werden (Jagusch et al., 2020).
Partizipatives Forschen macht zudem nur dann Sinn, wenn ein zusätzlicher Wert durch diese Art der Forschung entsteht, ein „added value“, wie Walmseley et al. (2017) es nennen. Im Projekt SEGEL konnten wir bspw. unser Verständnis von Selbstbestimmung in dieser Form nur in gemeinsamer Arbeit mit Teammitgliedern mit Beeinträchtigungen entwickeln.
Das ganze Team SEGEL war sich am Ende des Projektes einig, dass das gemeinsame Forschen wichtig ist, ganz besonders, wenn es um zentrale Themen im Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen geht. Gewünscht wurde, dass wir wieder ein partizipatives Projekt durchführen können. Zum Abschluss dieses Artikels soll ein Teammitglied noch einmal das Wort haben: „Es ist wichtig, dass wir uns einbringen, weil wir einen anderen Blickwinkel haben. Damit man nicht über uns ohne uns forscht. Es gibt keinen Grund, dass wir nicht forschen können“ (T1).
Literatur
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Aner, K. (2016): Diskussionspapier Partizipation und partizipative Methoden in der Gerontologie. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 49(2), 143–147.
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Gintzel, U. (2017): Partizipation. In: Dieter Kreft und Ingrid Mielenz (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, 700–704.
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Fußnoten
1 Im Projekt SEGEL haben mitgearbeitet: Judith Adler, Projektleitung, HSLU, Corinne Wohlgensinger, Projektleitung, FH OST, Sibylla Strolz, wissenschaftliche Assistenz, FH OST, Urban Hanny, Projektmitarbeiter, Peter Ladner, Projektmitarbeiter, Susanne Rutishauser, Projektmitarbeiterin, Karin Zingg, Projektmitarbeiterin.
2 Mehr Informationen zum Projekt, zur partizipativen Zusammenarbeit, zum Film zur Selbstbestimmung, zum Leitfaden und zu den Dienstleistungen finden sich unter www.gemeinsamentscheiden.ch.
Ein Beitrag mit zwei Teammitgliedern in Form eines Podcasts findet sich unter „voix sociales“ (Folge 2: „Nichts über uns ohne uns“): https://avenirsocial.ch/publikationen/voixsociales/
Autorin:
Judith Adler, lic. phil., ist Sonderpädagogin und seit 2019 als Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit tätig. Von 2002 bis 2019 war sie Dozentin an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Judith Adler hat zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Bereich Menschen mit Beeinträchtigungen erarbeitet und geleitet. Zu ihren Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten gehören Forschungen zur Lebensqualität von Menschen mit Beeinträchtigungen, partizipative Forschungszugänge mit Menschen mit Beeinträchtigungen, Forschung und Angebotsentwicklung für Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen und personenzentriertes Arbeiten mit Menschen mit Beeinträchtigungen und ihren Angehörigen.
Judith.adler@hslu.ch