Ein schwarz gemachter Baum vor dem ein Mann mit mittelalterlicher Kleidung liegt. Der Mann hat lange Haare. Am Fuße des Baumes findet man noch vereinzelte Farne.

Foto: © Hannah Jessen-Asumssen
aus Heft 5/2022 – Serie
Ulrich Maiwald

Kinderschicksale in der Märchensammlung der Gebrüder Grimm

Märchen ermöglichen den Umgang mit Lebensthemen und Menschenschicksalen. Sie sind ein Spiegel dafür, wie man Lebensprobleme verarbeiten kann. Vorliegende Interpretationen und Reflexionen aus der aktuellen Reihe „Märchen und Behinderung“ dienen als Verstehenshilfen und Unterstützungen für die pädagogische Märchenarbeit mit Kindern

„Es war einmal …“ – Märchen als literarische Gattung

„Es war einmal mitten im Winter […]. Da saß eine Königin an einem Fenster.“ (Grimm 1985, 157) So beginnt eine der bekanntesten Erzählungen, die von den Brüdern Grimm aufgeschrieben wurden. Eine weitere Geschichte wird „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat […]“ (Grimm 1985, 75) eingeleitet. Beide Textanfänge verbindet, dass sie zu der vielschichtigen literarischen Gattung der Märchen, genauer, der sogenannten Volksmärchen, zählen. Der Begriff „Märchen“ oder auch „Märlein“ leitet sich nach Max Lüthi aus der Verkleinerungsform des Wortes Mär, das so viel wie Kunde, Erzählung oder Gerücht bedeutet, ab. Das Diminutiv verweist dabei auf den fiktiven Charakter der Erzählung (vgl. Lüthi, 1990, 1). Es geht im Märchen um Erdachtes, Wunderbares und aus der menschlichen Fantasie Geborenes. Dies gilt auch für die sogenannten Volksmärchen, die insbesondere durch die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (1812 und 1815) große Popularität erlangten (vgl. Neuhaus 2017, 9). Welche literarischen Merkmale sind typisch für Märchen? Zwei Besonderheiten dieser Gattung wurden bereits mit den zitierten Anfängen aufgezeigt: „Es war einmal …“: Das Märchen ereignet sich in einem zeitlich nicht näher definierten Raum. Vieles bleibt offen und wird nicht eindeutig festgelegt. Das gilt auch für die handelnden Personen. In dem ersten Beispiel erfahren wir lediglich, dass es sich um eine Königin handelt. Dabei sind die Charaktere in der Regel „eindimensional“, d.h., sie sind entweder gut oder böse und damit für die Lesenden leicht zu erschließen. Auch die Handlung verläuft nach diesem überschaubaren Prinzip sowohl sprachlich als auch inhaltlich „einsträngig“. Gleichzeitig entwickelt sich das Geschehen im Spannungsfeld von Realität und Fantasie, das mit vielfältiger Symbolik angereichert wird. So zeigt das Märchen eine Welt der Möglichkeiten auf, die den Leser*innen die Hoffnung auf unerwartete Wendungen und Wunder in herausfordernden Situationen eröffnet.

Stilistisch umrahmt wird die Handlung durch einen sprachlich formelhaften Einstieg und Schluss der Geschichte: „Es war einmal […] Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch …“ (vgl. Neuhaus 2017, 7 ff.). Und selbstverständlich trägt am Ende „das Gute“ den Sieg davon.

Kinder mit körperlicher Beeinträchtigung

„Das Fingerhütchen“ oder: Vom Wert des guten Herzens

„Aber seine Ungestaltheit war so groß, dass er kaum wie ein menschliches Geschöpf aussah, und boshafte Leute hatten seltsame Geschichten von ihm verbreitet.“ (Grimm 1987, 112)

In zahlreichen Märchen ist das Thema der körperlichen oder seelischen Beeinträchtigung der Protagonisten der Ausgangspunkt für die eigentliche Helden- oder Heldinnengeschichte. Erst die Bedürftigkeit der Hauptperson schafft die Notwendigkeit und damit die Voraussetzung für die Verwandlung der Verhältnisse. Dabei führt die Überwindung der Erschwernisse zur Lösung des Konfliktes (vgl. Geldern-Egmond 2000, 50 ff.)

„Wahre Schönheit kommt von innen“, sagt der Volksmund. Mit dem Märchen „Fingerhütchen“, das sich in der Sammlung der irischen Elfenmärchen der Brüder Grimm von 1825 findet, haben wir eine solche Erzählung, in der es um die Überwindung einer körperlichen Behinderung geht und die die innere Güte und Schönheit im Kontrast zu der körperlichen Versehrtheit eines Menschen ins Zentrum der Handlung stellt.

Das Märchen „Fingerhütchen“ erzählt von einem armen Mann und seiner körperlichen Behinderung in Form eines Buckels, der so schwer lastet, dass „[…] ihm der Kopf so tief herabgedrückt [wurde], daß wenn er saß, sein Kinn sich auf seine Knie zu stützen pflegte“ (Grimm 1987, 111). Er vermag es nicht, aufrecht durchs Leben zu gehen, und wird deshalb verspottet und ausgegrenzt. Seinen Spottnamen „Fingerhütchen“ erhält er, weil er es sich zur Gewohnheit machte, auf seinem Hut einen Zweig des roten Fingerhutes, der auch Elfenkäppchen genannt wird, zu tragen. Allen Schmähungen zum Trotz hat Fingerhütchen sich sein gutes Herz bewahrt und verfügt überdies über die Gabe des schönen Gesanges. Mit diesen besonderen Fähigkeiten und seinem Mut gelingt es ihm, die Gunst der Elfen, des „guten Volk[s]“ (Grimm 1987, 11), zu erlangen. Aus Dankbarkeit verhelfen sie ihm zur aufrechten Gestalt ohne den belastenden Buckel.

Das Märchen erscheint wie eine Ermutigung, das Wesentliche eines Menschen nicht in seiner Äußerlichkeit zu suchen, sondern in seiner Art und Weise, der Welt und ihren Wesen zu begegnen und sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Im Märchen zerfließen die Grenzen von Innen- und Außenwelt und so können das gute Herz und der reine Sinn körperliche Einschränkungen ausgleichen und überwinden (vgl. Crain, 2007, 7).

„[…] und doch war das arme Männchen so harmlos und friedliebend wie ein neugebornes Kind.“ (Grimm, 1987, 111) Das freundliche Wesen Fingerhütchens kompensiert die Stigmatisierung durch die körperliche Abnormität. Es wird zum Ausgangspunkt seiner Verwandlung zum sprichwörtlich „aufrechten Menschen“ durch die gute Tat an den Elfenwesen, denen er mit seinem Gesang hilft. Der Gesang steht im Märchen symbolisch für Gefühl und Fröhlichkeit, er macht geneigt und erschließt so den Weg zum Herzen der Zuhörer (vgl. Bonin 2009, 110 ff.). Im Märchen vom Fingerhütchen bringt er Menschen und Elfenwesen zusammen. Fingerhütchen spricht durch seinen Gesang im übertragenen Sinne die verbindende Sprache des Herzens, die ihm Zugang zum „guten Volk“ verschafft. Er schenkt den Elfen etwas aus seinem gutmütigen Wesen heraus, das sie ohne ihn und seine besondere Gabe nicht erlangen könnten.

Die Elfen beschließen aus Dankbarkeit, auch ihm, dem Menschen, beizustehen und ihn zu beschenken. Aus dem Hilfebedürftigen wird ein Helfer der Elfen, die ihn aus Dankbarkeit aufrichten. „Die Bedürftigkeit“ ist nach Lüthi „die Voraussetzung für die Hilfe“ (Lüthi 1970, 53) und damit indirekt die Bedingung für die Überwindung der Hindernisse. Die Behinderung wird zum Anlass der Weiterentwicklung und offenbart das verborgene Potenzial eines Menschen.

„Das Märchen schafft in dem Aufstieg Missachteter und Hilfloser auch Leitbilder für Behinderte selbst, indem sie dieses Bild in sich aufnehmen und erfahren, dass scheinbar Hilflose zur Entfaltung fähig sind und am Ende als die Begnadeten dastehen.“ (Uther 1981, 120).

In diesem Sinne können Märchen wie das Fingerhütchen zeigen, dass auch der hilfsbedürftige Mensch seinerseits zum Helfer, zum Gebenden, werden kann. Dies kann Ermutigung sein, sich mit den eigenen Einschränkungen und Potenzialen im Märchenhelden oder der -heldin wiederzufinden, Lebensherausforderungen mutig und mit Herzenskräften anzunehmen und zu meistern, um daran über sich hinauszuwachsen.                               

Literatur

Bonin, F. (2009): Wörterbuch der Märchensymbolik. Ahlerstedt: Param, 110 ff.

Crain, F. (2007): Dummlinge, Bucklige Hexen, böse Stiefschwestern und Zwerge. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt, 111.

Geldern-Egmond, I. (2000): Märchen und Behinderung. Hohengehren: Schneider, 50 ff.

Grimm, J. und Grimm, W. (1985): Grimms Märchen. Hamburg: Cecilie Dressler, 75 und 157.

Grimm, J. und Grimm, W. (1987): Irische Elfenmärchen. Frankfurt am Main: Insel, 111 ff.

Lüthi, M. (1970): Volksliteratur und Hochliteratur. Menschenbild – Thematik – Formstreben. Bern: Francke, 53.

Uther, H. (1981): Behinderte in populären Erzählungen: Studien zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin/New York: de Gruyter, 120.

Autor: 

Ulrich Maiwald, Prof., lehrt als Professor für performative Kunst und Sprache an der Alanus Hochschule Alfter, an den Instituten für Schulpädagogik und Lehrerbildung sowie Kindheitspädagogik und Kunst – Pädagogik – Therapie im Fachbereich Bildende Kunst.

ulrich.maiwald@alanus.edu