Tod eines Freundes
Oleg, ein alter Freund Grolls in New York, auch ein Rollstuhlfahrer, verstarb nach kurzer schwerer Krankheit. Dies teilte Olegs Frau Aksinja per SMS mit. Das Begräbnis sei in fünf Tagen im größten Friedhof von Brooklyn. Sie übernehme die Kosten für Flug und Unterkunft, Groll könne auch in ihrer barrierefreien Wohnung unterkommen.
Groll hatte Oleg bei Demonstrationen für die Durchsetzung des amerikanischen Antidiskriminierungsgesetzes kennen und schätzen gelernt. Oleg war IT-Spezialist, er arbeitete an der New York University am Washington Square und entstammte einer Familie aus Brooklyn, die 1937 aus Odessa gekommen war.
Falscher Friedhof
In New York angekommen, nahm Groll ein Taxi. Er nannte dem Fahrer, einem Pakistani, den Gravesend Cemetery in Brooklyn. Dort finde das Begräbnis eines Freundes statt. Der Mann schien nicht zu verstehen, auf Fragen nach der Route reagierte er unwillig. Groll war sich rasch sicher, dass sie in die Irre fuhren, und er sah sich in seiner Befürchtung bestätigt, als der Pakistani, der – wie Groll jetzt wusste – kein Wort Amerikanisch sprach, vor dem Fairmount Cemetery in Newark einparkte. Leicht gewellte Hügel, Wiesen und Bauminseln wären dazu angetan gewesen, eine arkadische Stimmung hervorzurufen. Ein verstörendes Flackern in den Augen des Fahrers sagte Groll aber, dass es besser wäre, ihn nicht zu provozieren. Der Fahrer holte Rollstuhl und Reisetasche aus dem Kofferraum. Groll beglich die Rechnung, bemaß das Trinkgeld nach amerikanischer Sitte mit gut zwanzig Prozent und verzichtete klugerweise auf einen Beleg. Groll nickte dem Fahrer grüßend zu. Der lehnte sich an den Wagen und beobachtete Groll neugierig, worauf Groll mit der schweren Reisetasche auf den Oberschenkeln in den Friedhof fuhr und ein paar Runden drehte. „Er wird die Geduld verlieren und abhauen“, dachte Groll. Dann würde er mit einem anderen Taxi nach New York zurückfahren. Er staunte über endlose Reihen weißer Kriegsgräber – die polnische Sektion, wie ein Schild angab. An der erhöht gelegenen Friedhofsmauer befanden sich ein paar luxuriöse Grabstätten. Vor einem dieser Mausoleen rastete Groll ein paar Minuten. Vergoldete Lettern kündeten davon, dass ein gewisser Georg Zinsbichler aus Günzburg im Allgäu an diesem Ort begraben sei. Er habe es als Wurstfabrikant in der Neuen Welt zu Geld und Ansehen gebracht, hieß es, der Betrachter solle ein Gebet für ihn sprechen. Günzburg war der Heimatort des Auschwitz-Kriegsverbrechers Josef Mengele. Eine Firma gleichen Namens zählte bis vor wenigen Jahren zu den führenden Herstellern landwirtschaftlicher Maschinen, unter anderem Namen existiert sie heute noch.
Völkerverständigung als hohes Gut
János, Grolls Herbergsvater aus Visegrád im ungarischen Donauknie, hatte Groll von Günzburg und Obergünzburg erzählt, die beiden Ortschaften seien nicht weit voneinander entfernt. Das oberhalb von Budapest gelegene Visegrád unterhält eine Gemeindepartnerschaft mit Obergünzburg. Vor fünfhundert Jahren waren deutsche Auswanderer ins Donauknie gekommen, sie gründeten am Strom deutsche Dörfer, die Donaubogen oder Plintenburg getauft wurden. In den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts fuhren Ikarus-Autobusse aus Visegrád in den Allgäu. Die ungarischen Donauschwaben wurden mit Blasmusik, fetten Würsten und Geselchtem mit Kraut und Knödel begrüßt. Wenig später trafen Busladungen von Allgäuern in Visegrád ein, worauf die deutschen Schwestern und Brüder neben der Fährstation in einem Festzelt mit Blasmusik, fetten Würsten und Geselchtem mit Kraut und Knödel überrascht wurden. Über Josef Mengele wurde bei den Treffen nicht gesprochen, berichtete János. Groll erinnerte sich an einen großen Abend im Festzelt, der in einem Raufhandel endete. Einige Sänger der Allgäuer Liedtafel stimmten ein Nazi-Lied nach dem anderen an, ein paar Männer aus dem Kreis der ungarischen Donauschwaben stimmten ein. Bald flogen die Fäuste, wobei die Front nicht entlang ethnischer Linien verlief. Als die Polizei mit zwei Streifenwagen eintraf, wurden auch die Polizisten verprügelt, und zwar von allen Kampfhähnen. In der Lokalzeitung hieß es am nächsten Tag, dass es zu einer lebhaften Aussprache mit den deutschen Gästen gekommen sei. Völkerverständigung sei eben das höchste Gut.
Groll verließ den Friedhof, das Taxi war abgefahren. Es würde einige Zeit vergehen, bis ein anderes Taxi ihn nach Brooklyn brächte. Groll war verbittert, da war er um die halbe Welt geflogen, doch das Begräbnis seines Freundes hatte er verpasst.