In nächster Nähe, so fern
Werkstätten für Menschen mit Behinderung bilden einen unsichtbaren Massenmarkt in Deutschland. Der Komplex beschäftigt 320 000 von ihnen. Über eine Parallelwelt, die kaum jemand kennt.
Im Westen, wo die Häuserzeilen Freiburgs im Breisgau enden und der Schwarzwald beginnt, steht eine Wagenburg. 19 weiße Kleintransporter fahren vor einem einstöckigen Zweckbau auf, parken rückwärts ein und richten eng aneinandergereiht ihre Scheinwerfer nach außen wie Bullaugen eines Kreuzfahrtschiffs. Da muss man erst mal durch.
Von hinten schauen Jürgen Heider und Peter Kaiser aus dem Bau auf die weiße Wand von Autos und treten hinaus. „Es ist einer dieser Tage“, sagt Jürgen Heider. Grau fällt der Himmel herab, er bedeckt an diesem Spätnachmittag im Sturzflug Weinstöcke und Apfelbäume am Ausläufer des Mittelgebirges. Wagentüren öffnen sich geräuschlos. Schließen mit einem schmatzenden Klick. Doch Heider und Kaiser schlängeln sich an den Vans vorbei, die sind für ihre Arbeitskollegen. Sie gehen allein heim. Es ist einer dieser Tage, an dessen Ende sich Heider fragt, was er eigentlich gemacht hat.
Schichtende. Briefmarken habe er geklebt, sagt Heider. Acht Stunden lang, abzüglich der Mittagspause. Was man halt macht, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, hier in einem Industriepark am Rande der Stadt.
Kaiser, muskulös und kräftig, klopft dem schmächtigeren Heider sanft auf die Schulter. „Trinken wir was im Café.“ Die Kleintransporter heulen im ersten Gang auf, reißen Lücken ins Kreuzfahrtschiff, sie bringen die „Beschäftigten“, wie es im Werkstattjargon heißt, nach Hause; oft zu Einrichtungen, wo Menschen mit Behinderungen wohnen. Die weißen Wagen, von denen viele den Aufdruck „Airport“ tragen, fahren nun von einer Sonderwelt zur anderen. Menschen ohne Behinderung sieht man in beiden nur als Betreuer*innen, Hausmeister*innen oder Köch*innen. Ansonsten ist man unter sich.
Heider bestellt einen knallgelben Kräutertee, draußen möchte das Grau in Schwarz übergehen. Neulich habe er sein zehnjähriges Jubiläum in der Werkstatt gehabt, sagt er. Gefreut habe er sich nicht. Und er frage sich oft: „Was hab ich falsch gemacht?“ Kaiser nimmt den Löffel aus seinem Cappuccino. „Wie, bei uns? Was ist los?“ Heider, 33, will aus der Werkstatt raus, und Kaiser, neun Jahre älter, sagt: „Ich bin verdammt froh, dass ich in der Werkstatt sein kann.“ Der Komplex der Werkstätten in Deutschland umfasst knapp 320 000 Beschäftigte, sie arbeiten dort für ein Durchschnittsentgelt von 220 Euro im Monat. Der Gesetzgeber formuliert einen klaren Auftrag: Die Werkstätten sollen fit machen für den allgemeinen Arbeitsmarkt, auf berufliche Reha ausgerichtet sein; die Anzahl derjenigen, die den Übergang von den Werkstätten in den allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen, liegt aber bei einem Prozent; dem Bundesarbeitsministerium liegen nicht einmal Zahlen vor. Unter den behinderten Menschen kursiert der Spruch: In eine Werkstatt kommst du schnell rein und kaum wieder raus. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt mehr als ein breiter Spalt.
Heider und Kaiser tragen beide eckige Brillen und schauen auf Bildungs- und Berufswege zurück, die einige Klippen kannten. Bei Heiders Geburt stellten sich Sauerstoffprobleme ein, die zu einer Spastik führten. Die Ärzte prognostizierten seiner Mutter, dass er ein dauerhafter Pflegefall werde. Doch es kam anders. Heider läuft allein und spricht, nur langsamer als andere. Er ist Sportkletterer, spielt Theater und schreibt Gedichte. „In der Sonderschule sagten sie uns, Lesen und Schreiben bräuchten wir nicht zu lernen, das hab ich mir alles selbst beigebracht“, sagt er und hält den Teebecher mit beiden Händen fest. Als es dann darum ging, was nach der Schule kommt, und die Agentur für Arbeit ihn einer Untersuchung unterzog, war er nervös gewesen, das Ergebnis attestierte ihm, angeblich „täglich weniger als drei Stunden leistungsfähig für wirtschaftlich verwertbare Arbeit“ zu sein. Aber für Briefmarken reicht es. Seitdem sucht Heider „eine Arbeit draußen, aber wenn man einmal den Stempel hat …“
Kaiser dagegen kennt den allgemeinen Arbeitsmarkt. Er tat ihm nicht gut. Mit zehn Jahren hatte ihn ein Auto überfahren – er hatte Grün, der abbiegende Fahrer ihn übersehen –, am ersten Ferientag mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Freibad. Der Junge flog durch die Windschutzscheibe, erlitt Hirnblutungen, mehrere Operationen retteten sein Leben; vorher in der Schule einer der Besten, musste er danach alles von vorn lernen. Jahre später wurde Kaiser Gärtner, aber die Narben im Kopf sorgen für Anfälle, es sind um die 200 jeden Tag, die er bewusst erlebt, „dann dreht sich der Kopf nach rechts und der Körper auch, das macht Angst“. Manchmal weine er dann. „Im Kopf bin ich fit, aber von den Augen her gerät es durcheinander, bin durch den Wind“, sagt er. Neurologen staunen über diesen Zustand. Kaiser brauchte Auszeiten am Tag, der Zeitdruck im Gärtnerjob setzte ihm zu, Stress verstärkte die Anfälle. Nach fünf Jahren zog er die Reißleine. „Hier in der Werkstatt bin ich einer der Schnellsten, echter Leistungsträger.“ Kaiser arbeitet im Lager und montiert Garnrollen in Handsets, „manchmal fehlt eine bestimmte Garnfarbe, dann können wir nicht weitermachen. Leerlauf mag ich gar nicht.“ Das „Taschengeld“, das er kriege, ärgere ihn. „Aber was soll’s. In der Werkstatt bin ich besser aufgehoben.“
Wenn es um die Zahlen geht, sind Werkstätten eine Erfolgsstory. Sie wachsen seit Jahren. Mehr Menschen mit schweren Beeinträchtigungen gibt es zwar nicht. Aber den Werkstattbeschäftigten winkt Stabilität: Wenn sie in Rente gehen, werden ihnen 80 Prozent des durchschnittlichen Verdienstes aller Versicherten als höherer fiktiver Verdienst angerechnet – auf dem freien Arbeitsmarkt müssen sie hingegen Altersarmut befürchten. Allein deshalb scheuen viele den Wechsel aus der Werkstatt heraus.
Werkstätten behaupten sich in einem Spannungsfeld. Einerseits sollen sie ihren Beschäftigten durch massive Bildung den Weg zum Arbeitsmarkt ebnen, andererseits unterliegen sie dem Gebot der Wirtschaftlichkeit; die Zeiten, in denen Werkstätten vom Verkauf gebastelter Strohpuppen auf Weihnachtsmärkten lebten, sind vorbei. Sie sind Unternehmen. Jährlich erwirtschaften ihre Betriebe Umsätze in Höhe von acht Milliarden Euro. Zu den Produktpaletten gehören Designermöbel, Autoanhänger, Lebensmittel und Küchengegenstände, aber auch Dienstleistungen wie Catering, Gartenpflege, Autowäsche und Aktenvernichtung. Dafür werden belastbare Arbeitskräfte gebraucht, während die Agenturen für Arbeit nichts dagegen haben, dass bei den Werkstätten untergekommene Menschen mit Behinderung nicht in der Arbeitslosenstatistik auftauchen. Die sind dann erst mal weg.
Sieben Kilometer östlich legt sich ein Neubau in die Kurve, ganz anders als das massige Sozialgericht, das in seiner Nachbarschaft nur sich selbst kennt. Entlang des sich krümmenden Straßenverlaufs ist das rotbläuliche Haus geziegelt, als wollte es nicht auffallen. Wie sieht das Innenleben einer Werkstatt aus? Neun wurden in Berlin für Besuche angefragt: Fünf antworteten nicht, eine sagte ab, bei einer verlief ein erstes Gespräch folgenlos – und zwei sagten zu, darunter Integral mit ihrem gebogenen Neubau auf 5 800 Quadratmetern, über vier Etagen verteilt, und mit rund 300 Beschäftigten ein eher kleiner Betrieb.
Im dritten Stock sind sie der hohen Politik ganz nah, für einen Moment. „Der hier geht ans Kanzleramt“, sagt Katja stolz, hält inne und hebt einen Brief in die Luft – einen von 1 424, die hier mit jeweils zwei Faltblättern und einer Broschüre zusammengelegt werden – Auftragsarbeit für ein Bildungswerk, die Schreiben gehen an Bürgermeister und Landesparlamente, an den Bundestag und den Amtssitz Angela Merkels. „Bildung kann ja nicht schaden, nicht?“, antwortet Mandy neben ihr. Beide kichern.
Der Bereich „Konfektionieren und Verpacken“ ist der größte in der Werkstatt. Mit jeder Minute wächst der Stapel an versandfertigen Briefen, die Rolle mit Etiketten dagegen wird immer kleiner. Das motiviert. Zügig arbeitet die Gruppe aus zehn Beschäftigten, schnell gerät man in einen Rhythmus. „Ich bin ja froh, dass ich eine Arbeit habe“, sagt Katja. „Wir hauen viel weg.“ Eigentlich habe sie Floristin werden wollen, aber „da gab es nichts für mich“. Mandy, wie Katja Anfang 40, erzählt, wie man sie in der DDR nicht in die Schule habe gehen lassen wollen, „in meinem Gehirn läuft das nicht so rund“, aber ihre Mutter habe dann Druck gemacht. „Hier herrscht immer eine gute Stimmung“, sagt sie. Nach zwei Stunden werden die Gespräche weniger, das Tempo beim Zusammenlegen lässt etwas nach. Da dreht Betreuer André „Streets of Philadelphia“ von Bruce Springsteen auf: Einige singen mit, andere lachen auf, das Arbeitstempo erhöht sich wieder. In der Werkstatt wird bei der Arbeit auch mal gequatscht, innegehalten und geguckt. Aber das Ergebnis stimmt; andere Betriebe könnten sich von Moral und Klima einiges abschauen.
André ist groß gewachsen, ein Gesicht wie ein Löwe, er geht die Tische ab, inspiziert das Stanzen von Visitenkarten und Bohren von Löchern in Hefter auf der einen Ecke, das Surren der Ringbindemaschine für Kalender in der anderen. „Würde ich eine Firma gründen“, sagt er, „wüsste ich, wen ich von hier einstellen würde. Eigentlich fast alle.“ Die Leute da draußen seien größtenteils schlicht nicht bereit mit Behinderten zusammenzuarbeiten. „Das ist deren Defizit.“
Im zweiten Stock riecht es nach Meer. Aus einem großen weißen Bottich schaufelt ein Mittfünfziger Salz auf eine Miniwaage und dann zu je 150 Gramm in Tontöpfe. „Handgeerntetes Gourmetsalz aus Spanien“, preist der Hersteller, der Abwiegen, Füllung und Etikettierung auf mehrere Werkstätten verteilt. „Oh, die Waage hat die Nase voll von mir“, witzelt der Mann im Rollstuhl, als sie plötzlich ausgeht, „da muss ich nach Hause gehen.“ Ein schneller Blick auf den Auftragszettel zeigt: Für die Konfektionierung von 192 Stück zahlt der Hersteller 61,44 Euro – für ihn ein gutes Geschäft, fallen doch keine Lohnkosten oder Versicherungen an.
Werkstätten haben einen Standortvorteil, weil sie für ihre Leistungen den verminderten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent veranschlagen können. Außerdem sparen Betriebe Abgaben ein, wenn sie Aufträge an Werkstätten vergeben: Zwar muss jede Firma ab einer bestimmten Größe fünf Prozent der Arbeitsplätze an schwerbehinderte Menschen vergeben. Von dieser Vorschrift können sich die Unternehmen aber freikaufen. Höchstens 360 Euro „Ausgleichsabgabe“ werden für jeden nicht pflichtgemäß besetzten Arbeitsplatz pro Monat fällig – und dieser Obolus wird kleiner, wenn ein Betrieb eben Aufträge an Werkstätten vergibt. Ein Ablasshandel hat sich etabliert, ein Werkstattsystem, das sich selbst ernährt und sich an den begründeten Ressourcen orientiert. Und alles bleibt, wie es ist.
Wie ist es zu all dem gekommen, zum Wachstum der Werkstätten? Bernhard Sackarendt ist seit den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts in der „Werkstatt-Szene“, leitete jahrzehntelang eine große Einrichtung und saß im Bundesvorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM). „Die Werkstätten leisteten einen enormen Beitrag zur Integration der Menschen in die Gesellschaft, sie machten sie sichtbar.“ Heute sitzt Sackarendt, 74, im Vorstand des Sozialverbands Deutschlands mit 570 000 Mitgliedern – er vertritt die Interessen der Renten- und Krankenversicherten, der Menschen mit Behinderung und mit Pflegebedarf. „Wir gingen damals, vor 50 Jahren, von Haus zu Haus. Nachbarn erzählten uns von Menschen mit einer Behinderung, die versteckt wurden, deren Eltern das nicht wahrhaben wollten.“ In den Werkstätten fanden die Menschen dann erstmal Anschluss.
„Zum einen professionalisierten sich die Werkstätten, zum anderen gab es dann Schübe.“ In den Achtzigern die Massenentlassungen, bei denen psychisch Erkrankte als Erste den Job verloren und erstmals in Werkstätten kamen. Auch schlossen damals zahlreiche kleine Krankenhäuser auf den Dörfern, in denen viele Menschen mit Behinderung Arbeit gefunden hatten. Je mehr Rationalisierung, desto mehr Werkstatt: In den Neunzigern nahmen Befristung und Prekariat zu, in den Nullerjahren kam mit Hartz IV ein weiterer Schwung an Leuten, die den neuen Unsicherheiten schlechter standhielten. „Unsere Mitgliederzahlen stiegen“, so Sackarendt. Die Werkstätten hätten sich zu einem Auffangbecken entwickelt, „für die Menschen, die der Arbeitsmarkt nicht mehr wollte“.
Sackarendt sucht nach einer Öffnung in diesem System, nach einem Spalt. „Bei den Arbeitgeber:innen sehe ich keine positive Änderung, und die Politik betrachtet alles unter Maßgabe von Problemvermeidung – auch sitzen viele Politiker:innen in den Beiräten von Werkstätten: Wer sägt schon am eigenen Ast? Schließlich wäre es Aufgabe der Werkstätten, sich überflüssig zu machen.“ Dann gebe es seit den Siebzigern die Förderschulen, „vorher existierte für Kinder mit Behinderung gar nichts, eine ‚ruhende Schulpflicht‘, aber nun wurden auch Kästen geschaffen, geschlossene Kategorien.“ Die Förderschulen entlassen meist ohne Abschluss, die Perspektiven für Ausbildung und Arbeit sind mies. Und seine Nachfolger bei der BAG? „Das Bewusstsein ist allgemein da, dass sich etwas ändern muss. Aber die BAG öffnet sich nicht wirklich für eine Debatte darüber, hält am Status quo fest.“ Die heutigen Funktionäre seien zahmer. „Meine Generation bestand noch aus Achtundsechzigern, wir hatten gelernt, Strukturen infrage zu stellen. Das vermisse ich heute.“ Ein Bundesminister habe ihm mal gesagt: „‚Ihr seid eigentlich zu alt für die Revolution.‘“
Dies ist die gekürzte und aktualisierte Form eines Artikels, der am 17. Oktober 2020 in der „Frankfurter Rundschau“ erschienen ist.
Autor:
Jan Rübel ist Reporter und betreibt das Berliner Büro der Gemeinschaft Zeitenspiegel Reportagen aus Baden-Württemberg. Er schreibt Sozialreportagen, Politikerporträts und hat eine Kolumne bei Yahoo Nachrichten Deutschland.
E-Mail: jr@zeitenspiegel.de